Gebhard Kirchgässner, Dr. Dr. h.c.
Professor (em.) für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie
University of St. Gallen
Schweizerisches Institut für Aussenwirtschaft und Angewandte Wirtschaftsforschung
Geboren 1948 in Konstanz; verstorben 2017 in Engelburg, Schweiz
Studium der Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaft und Statistik an der Universität Konstanz
Project
Politische Ökonomie wissenschaftlicher Politikberatung
Das traditionelle Verständnis vom Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik ist naiv. Es geht von Idealbildern von Politikern wie Wissenschaftlern aus, die in der Realität nicht gegeben sind. Von der Politik wird erwartet, dass sie das Gemeinwohl fördert, und von der Wissenschaft, dass sie die Politik dabei mit objektiven Informationen unterstützt. Von Politikern wie Wissenschaftlern wird somit ein hehres Bild gezeichnet, welches im Allgemeinen der Wirklichkeit nicht entspricht. Es gibt a priori keinen Grund anzunehmen, dass sich Politiker und Wissenschaftler grundsätzlich anders als andere Menschen verhalten.In diesem Projekt wird das ökonomische Verhaltensmodell - im Gegensatz zum traditionellen Ansatz - konsequent zur Erklärung des Verhaltens aller Akteure im politischen Beratungsprozess angewendet: Interessengruppen (Wirtschaftssubjekte), Politiker und Wissenschaftler. Alle Beteiligten verfolgen ihre eigenen Interessen, handeln aber unter ganz unterschiedlichen Bedingungen. Dabei geht es insbesondere um Antworten auf folgende Fragen: 1. Weshalb können verschiedene Wissenschaftler bei ihren (wirtschafts-)politischen Empfehlungen zu ganz unterschiedlichen Vorschlägen kommen? 2. Warum wird derartige Beratung nachgefragt, wenn die (widersprüchlichen) Ergebnisse absehbar sind? 3. Wie sollte man den Prozess der wissenschaftlichen Politikberatung organisieren, damit er zur Verbesserung der Politik beitragen kann?
Es geht somit darum, die wirtschaftspolitischen Beratungsprozesse und ihre Ergebnisse unter der Annahme zu analysieren, dass hier rationale Individuen agieren, die im Wesentlichen ihre eigenen Interessen verfolgen, d. h. die weder moralisch weit über den übrigen Bürgerinnen und Bürgern stehen noch - z. B. dann, wenn sie Gutachten für Interessengruppen verfassen und damit deren politische Projekte unterstützen - notwendigerweise korrupt sind, obwohl auch bei ihnen beides - wie im Rest der Bevölkerung - gelegentlich vorkommt.
Lektüreempfehlung
Kirchgässner, Gebhard. Homo Oeconomicus: Das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Tübingen: Mohr Siebeck, 1991; 3. Aufl. 2008. Englische Ausgabe: New York et al.: Springer, 2008.
Kirchgässner, Gebhard, L. P. Feld und M. R. Savioz. Die direkte Demokratie: Modern, erfolgreich, entwicklungs- und exportfähig. Basel und München: Helbing und Lichtenhahn/Vahlen, 1999.
Kirchgässner, Gebhard. "Zur Rolle der Ökonometrie in der wissenschaftlichen Politikberatung." Erscheint in: Perspektiven der Wirtschaftspolitik 14 (2013). (Universität St. Gallen, Department of Economics, Working Paper No. 2012-23, November 2012.)
www1.vwa.unisg.ch/RePEc/usg/econwp/EWP-1223.pdf
Colloquium, 19.11.2013
Information and/or Ideology? On the Political Economy of Scientific Policy Advice
Traditional analyses of the process of scientific policy advice are rather naïve in that they assume policy advisors do not have their own interests as well. Like benevolent dictators they provide the information politicians need to maximise the common good. The Political Economy of Policy Advice, on the other hand, assumes that the economic model of behaviour is applicable to all agents in this process: economic agents, politicians, as well as scientific advisors. They are all assumed to be maximising their utility subject to constraints.
There are two main questions that the Political Economy of Policy Advice must answer: (i) How can serious scientific advisors quite often come to different and sometimes even contradictory conclusions? (ii) How can this process be organised in order to provide information and not only ideological statements? In answering the first question I will show that in many situations economic theory alone does not provide unambiguous policy advice. Thus in most cases empirical analyses are also needed. Given the possibility of different (though equally plausible) empirical specifications, these analyses do often also allow for different results and might, therefore, to a large extent depend on a priori convictions of the scientists. We do not need to insinuate morally defective behaviour to explain these facts. This is shown by two examples: the relation between the size of government and economic growth, and the deterrent effect of capital punishment.
There are several channels through which scientific advice enters the political process. The two to be discussed here include: (i) the use of 'purely' scientific papers in political debates (and lawsuits); and (ii) scientific reports prepared for public agencies and/or interest groups. In these cases, which are often interconnected, it is necessary to organise the process of scientific-policy advice in such a way that - similar to the internal scientific discourse - open discussion and criticisms of methods and results are possible. Data and programs should be made available for re-estimations of empirical analyses, and in order to disclose any possible conflict of interests, the whole process requires transparency.
I will conclude with some remarks on the demand for policy advice by politicians and the crucial role scientific reputation plays in this respect.
Publications from the Fellows' Library
Kirchgässner, Gebhard (Baden-Baden, 2016)
Justification and posibilities of soft paternalism
Kirchgässner, Gebhard (Baden-Baden, 2015)
Zur Politischen Ökonomie der wirtschaftspolitischen Beratung
Kirchgässner, Gebhard (München, 2015)
Direct democracy : chances and challenges CESifo working paper ; 5376
Kirchgässner, Gebhard (Berlin, 2014)
Kirchgässner, Gebhard (Baden-Baden, 2014)
Finanzpolitische Konsequenzen direkter Demokratie
Kirchgässner, Gebhard (St. Gallen, 2014)
Zu neueren Entwicklungen bei der Einbeziehung privater Akteure in Prozesse der öffentlichen Verwaltung : einige Bemerkungen Discussion paper ; no. 2016, 03 (February 2016)
Kirchgässner, Gebhard (Hamburg, 2013)
Wettbewerb zwischen wirtschaftspolitischen Modellen in Europa
Kirchgässner, Gebhard (Tübingen, 2008)
Homo oeconomicus : das ökonomische Modell individuellen Verhaltens und seine Anwendung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften ; 74
Kirchgässner, Gebhard (Berlin, 2007)
Introduction to modern time series analysis