2021/2022

Peter Strohschneider, Dr. phil.

Professor em. für Germanistische Mediävistik

Ludwig-Maximilians-Universität München

von September bis November 2021 und April bis Juni 2022
Geboren 1955 in Stuttgart, Deutschland
Studium der Germanistik und Geschichtswissenschaft sowie der Rechtswissenschaft, Soziologie und Politikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München

Project

Kranke Könige: Fabeln über Macht, Wissen und Gewalt

Kulturelle Ordnungen müssen gute von böser Gewalt abheben. Sie müssen semantisch (axiologisch, juristisch usw.) auseinanderhalten, was phänomenologisch (strukturell, physiologisch usw.) schwer zu trennen ist: Gewalt ist Gewalt. Eine Möglichkeit dessen sind Verfahren der Naturalisierung: Man verknüpft Gewalt mit Annahmen über die "Natur" des Menschen. Ein wichtiges literarisches Medium solcherart naturalistischer Anthropologie in der Vormoderne sind Fabel und Tierepos. Ihre Akteure sind als anthropomorphisierte Tiere stets doppelt codiert, Löwe, Fuchs oder Wolf stehen zugleich inner- wie außerhalb des Spannungsraums von Moral, Willensfreiheit oder Schuldfähigkeit.
Ein besonders komplexes Beispiel dafür ist die "Hoftagsfabel". Sie erzählt, wie der kranke Löwe das ganze Tierreich zu einem Hoftag versammelt und wie man auf Anraten des oft als Arzt verkleideten Fuchses (vorgeblich) versucht, den König zu heilen - und also das Heil der Monarchie wiederherzustellen - vermittels des dem Wolf bei lebendigem Leibe abgezogenen Balgs. In vielen Sprachen und Versionen (auch im "Fuchsroman" seit "Ysengrimus" und "Roman de Renart") gehört diese Fabel zur kulturellen Semantik des vormodernen Europa. Sie etabliert literarische Diskurse über das Verhältnis von Macht (Löwe), Wissen (Fuchs) und Gewalt (Wolf), in deren Horizont auch noch die epochalen Texte des politisch-philosophischen Kanons (Machiavelli, Hobbes u. a.) stehen.
Mein Vorhaben rekonstruiert diese in die Hoftagsfabel eingelagerten Diskurse, um zu zeigen, dass tierepisches Erzählen gesellschaftliche Ordnung immer wieder auf Paradoxien und Aporien hin durchsichtig macht - solche zumal, die in "offiziellen" Theorien des Politischen gerade verdeckt werden (müssen). Hier kann das Verhältnis von politischer Machteffizienz und moralischer rectitudo lange vor Machiavelli aporetisch werden; hier kann die für vormoderne Epistemiken konstitutive Moralisierung von Wissen kollabieren; hier kann sich zeigen, dass wohl Recht sich naturalisieren, nicht aber umgekehrt auch Natur sich verrechtlichen lässt. Wie auch sollte der Wolf für Gewalttaten zur Rechenschaft gezogen werden, die er aufgrund seiner Natur gar nicht vermeiden konnte?
Sozusagen auf der Rückseite legitimistischer Theorien des Politischen können die Erzählungen also auch die Kontingenzen der Unterscheidung von legitimier und illegitimer Gewalt thematisch werden lassen. Mir scheint, dies sei keine uninteressante Möglichkeit, die intellektuellen Transformationen von mittelalterlichem zu modernem politischem Denken zu verfolgen.

Lektüreempfehlung

Strohschneider, Peter. "Opfergewalt und Königsheil: Historische Anthropologie monarchischer Herrschaft in der Ecbasis captivi." In Tierepik und Tierallegorese: Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur, herausgegeben von Bernhard Jahn und Otto Neudeck, 15-51. Frankfurt/Main: Peter Lang, 2004.
-. Höfische Textgeschichten: Über Selbstentwürfe vormoderner Literatur. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Beiheft 55. Heidelberg: Winter, 2014.
-. Zumutungen: Wissenschaft in Zeiten von Populismus, Moralisierung und Szientokratie. Hamburg: kursbuch.edition, 2020.