Tchavdar Marinov, Ph.D.
History and Civilizations
Bulgarische Akademie der Wissenschaften, Sofia
Born in 1974 in Shumen, Bulgaria
Studied Philosophy at Sofia University “St. Kliment Ohridski” and History and Civilizations at the École des hautes études en sciences sociales
Arbeitsvorhaben
"National Indifference" as a Modern Phenomenon? Theories of the Pervasiveness and Intensity of Nationalism and Their Application in the Field of Balkan History
My research project has the ambition to contribute to the ongoing debates on the temporality and social diffusion of nationalism in modern European societies by exploring the analytical potential but also the limits of the concept of “national indifference” in the study of modern and contemporary Balkan history. By crediting this concept explanatory value, the proposed research tries to understand self-identifications and external categorizations of Balkan societies since the late nineteenth century, which are often obscured by national historians; the research surveys the practical choices and reasons of concrete (non-)élite populations, but it also tackles more general problems related to their study, such as the temporal scales of the spread of nationalism, the social logics of loyalty and pragmatism, the relationship between identity and interest, and the extent to which nationalism is quantifiable. The proposed study draws on a variety of sources from the late Ottoman era to the period of the Greek Civil War: from travelogues and scholarly and political publications to (un)official statistics, secret reports, (un)published autobiographies, and letters addressed to various institutions. By analyzing the whole spectrum of “national indifference” in Balkan contexts, my research project tries to reconcile existing theories of the pervasiveness and intensity of nationalism, on the one hand, with the emphasis on the circumstantialist and interactionist character of identity, on the other. By demonstrating the contingent and variably salient character of self-identifications, categorizations, and political loyalties, my project also seeks to go beyond the classic question “When is a nation?” and to expose the multiple temporalities of modern nationalism.Recommended Reading
Marinov, Tchavdar. La Question Macédonienne de 1944 à nos jours: Communisme et nationalisme dans les Balkans. Paris: L’Harmattan, 2010.
Daskalov, Roumen, and Tchavdar Marinov, eds. Entangled Histories of the Balkans: Vol. 1: National Ideologies and Language Policies. Leiden: Brill, 2013.
Marinov, Tchavdar. “Nos ancêtres les Thraces”: Usages idéologiques de l’Antiquité en Europe du Sud-Est. Paris: L’Harmattan, 2016.
Kolloquium, 28.03.2023
Die „Anomalien“ der nationalen Identität: Neue Theorien zur Intensität und Verbreitung von Nationalismus in modernen Gesellschaften und ihre Anwendung auf die Geschichte des Balkans
In meinem Vortrag verfolge ich drei Ziele. Im einleitenden Teil möchte ich versuchen, den aktuellen Stand eines bestimmten Forschungsgebiets darzustellen: die Geschichte des Nationalismus in Südosteuropa (oder des Balkans). Nach der Auseinandersetzung mit einigen traditionellen Klischees in diesem Bereich und wie diese seit den 1990er Jahren „widerlegt“ wurden, möchte ich kurz die Anwendung von Begriffen und Methoden erörtern, von denen man eine Überwindung der Essenzialisierung nationaler Identität erwartete: darunter vergleichende und transnationale Geschichtsschreibung, „entangled histories“ und „histoire croisée“. Dabei zeige ich bestimmte Desiderate in der aktuellen Forschung auf, die vor allem damit zusammenhängen, dass ein Top-Down-Ansatz dominiert und sich die Balkan-Forschung oft ausschließlich auf Ideologien und gängige Narrative konzentriert.
Im Anschluss an meine einleitenden Bemerkungen gehe ich auf die Möglichkeiten bestimmter Begriffe ein, mit denen man die Mechanismen und die Zeitlichkeit der Verbreitung von Nationalismus begreifen und auch dessen kontextgebundene und variierende Relevanz und Intensität in modernen Gesellschaften verstehen kann. Zu diesen Begriffen gehören „Nationalität von unten“, „volkstümlicher Nationalismus“ und „Alltagsethnizität“, aber auch „nationale Indifferenz“, der ich in meinem Vortrag besondere Aufmerksamkeit widme. Im ersten Hauptteil erforsche ich das analytische Potenzial, aber auch die Grenzen des Begriffs der „nationalen Indifferenz“ und auf welche Weise dessen Anwendung in der modernen und gegenwärtigen Geschichtsforschung des Balkans hilfreich sein kann. Während ich mögliche Fallstricke aufdecke und den Erklärungswert dieses Konzepts infrage stelle, konzentriere ich mich auch auf Selbstidentifikationen, externe Kategorisierungen und praktische Entscheidungen, die von nationalen Historikerinnen und Historikern verschleiert wurden, sowie auf allgemeinere epistemologische Probleme und Fragen, wie etwa die soziale Logik von Loyalität und Pragmatismus und die Beziehung zwischen Identität und Interesse.
Während „nationale Indifferenz“ von den modernen nationalen Eliten oft als „Anomalie“ stigmatisiert und verworfen wurde – dazu verdammt, für immer zu verschwinden –, weist die Geschichte der nationalen Aktivisten und Führer selbst eine Reihe von „Anomalien“ auf, wie z. B. multiple Identitäten, Seitenwechsel zwischen verschiedenen nationalen Optionen und den Einsatz für mehr als nur eine nationale Ideologie. Im letzten Teil verschiebe ich den Schwerpunkt meines Vortrags von der Massenpolitik und Reaktionen der Bevölkerung auf nationale Mobilisierungen hin zur Mikroebene individueller Biografien. Durch diese Maßstabsänderung versuche ich, die strikte Trennung zwischen Geschichte „von oben“ und „von unten“ sowie zwischen „national(istisch)en Eliten“ und „opportunistischen Massen“ in Frage zu stellen; dabei formuliere ich allgemeinere epistemologische Fragen in Bezug auf die Zeitlichkeit des modernen Nationalismus und auf das Verhältnis zwischen individuellen und gesellschaftlichen Ebenen der Analyse.
Geografisch betrachtet befasse ich mich hauptsächlich mit der multiethnischen Region Mazedonien, ziehe aber auch Beispiele aus anderen Teilen des weiteren südosteuropäischen Raums (dem Balkan) heran. Ebenfalls stütze ich mich auf vielfältige Quellen aus der spätosmanischen Ära bis zur Zeit des Griechischen Bürgerkriegs (1946–1949): von Reiseberichten über gelehrte und politische Publikationen bis hin zu (in)offiziellen Statistiken, Geheimberichten, (un)veröffentlichten Autobiografien und Briefen an verschiedene öffentliche Institutionen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Marinov, Tchavdar (London, 2019)
Regionalism in south-eastern Europe
Marinov, Tchavdar (Leiden, 2017)
Entangled histories of ... ; Volume 4 ; Concepts, approaches, and (self-)representations Entangled histories of the Balkans ; volume 4
Marinov, Tchavdar (Paris, 2016)
Nos ancêtres les Thraces : usages idéologiques de l'Antiquité en Europe du Sud-Est Historiques
Marinov, Tchavdar (Leiden [u.a.], 2013)
Entangled histories of ... ; Vol. 1 ; National ideologies and language policies Entangled histories of the Balkans ; Vol. 1