Zwischen Eigenzeit und Interdisziplinarität
Helga Nowotny, Fellow 1981/1982, spricht über das Gründungsjahr des Wissenschaftskollegs, seine Nachwirkungen und die Folgen der Pandemie
Lassen Sie uns zurückschauen in das Jahr 1981. Eine Infrastruktur zur Gewinnung von Fellows entstand damals erst; wie erfuhren Sie überhaupt von Ihrer Einladung ans Wissenschaftskolleg?
Ursprünglich war es wohl geplant, Norbert Elias für den ersten Jahrgang zu gewinnen. Er war damals am ZIF in Bielefeld, hat die Einladung abgelehnt und stattdessen mich vorgeschlagen. Die Gremien haben den Vorschlag offenbar aufgegriffen, denn ich erhielt ein entsprechendes Schreiben. Nach meinem Eindruck hat der Gründungsrektor Peter Wapnewski damals seinen Einfluss geltend gemacht; entsprechend gab es im ersten Jahr auch viele Germanisten.
Erinnern Sie sich noch daran, wie sie die Villa Linde, Wallotstr. 19, zum ersten Mal betreten haben. Was waren Ihre Eindrücke von diesem Ort?
Ganz präzise Erinnerungen habe ich an meinen ersten Tag am Kolleg nicht. Aber an die Farbstimmung im Inneren des Gebäudes entsinne ich mich: Beige- und Rosétöne. Das war gewöhnungsbedürftig, aber es passte gut zum Herbst: die Farbenpracht der alten Bäume, der See, der morgendliche Nebel. Dazu haben die Germanisten Gedichte über den Herbst und deutsche Wälder rezitiert – durchaus mit einem Quäntchen Ironie.
Im Oktober 1981 formierte sich die erste Fellow-Gemeinschaft des Kollegs. Wie kam man zusammen?
Die Routinen waren damals ähnlich wie heute – Mahlzeiten und Kolloquium – aber dann auch wieder recht unterschiedlich: Im Restaurant saß man an einer langen u-förmigen Tafel, an welcher der Rektor den Vorsitz führte – die berühmte Artusrunde. Das Essen wurde damals noch aus einem nahegelegenen Altersheim geliefert – mit der kulinarischen Kultur, die sich am Kolleg später entfaltete, konnte sich das fürwahr noch nicht messen. Umso willkommener war es, in kleinen Gruppen die Restaurants und die Kultur des Berliner Westens zu entdecken. Es gab eine Reihe von starken Persönlichkeiten: Ich erinnere mich vor allem an Gershom Scholem, Ivan Illich und Hartmut von Hentig, der – es war ja noch lange vor dem Odenwald-Skandal – sehr angesehen war und mit großem pädagogischen Eifer auftrat. Die Gruppendynamik war auch davon geprägt, dass sich viele der eingeladenen Herren schon kannten. Besonders in Erinnerung geblieben ist mir aber auch die Tatsache, wie intensiv der Kontakt mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kollegs war. Verbrüderung und Verschwesterung allerorten; es gab wunderbar fließende Übergänge in diesem Experimentierfeld einer unfertigen Einrichtung.
Über der Gründung hing ein enormer Anspruch: Rückzug brillanter Köpfe, Konzentration, gelehrter Disput, Freiheit – aber auch internationale Impulse und Glanzlichter für das eingemauerte Berlin. Wie hat sich dieser Anspruch im Alltag niedergeschlagen?
Die Kraft dieser Gründungsideen war stark. Der Austausch funktionierte aber wohl vor allem für diejenigen gut, die an verwandten Themen arbeiteten. Die anderen, und so auch ich, haben weitaus weniger Impulse bekommen und mussten sich auch mehr Mühe geben, immer neue Anknüpfungspunkte für Gespräche zu finden. Die Gruppe war mit achtzehn Personen vielleicht auch zu klein, als dass sich speziellere Diskussionszirkel hätten bilden können. Gleichzeitig erinnere ich mich – trotz einiger internationaler Köpfe – an eine gewisse Provinzialität, fast Biederkeit. Unvergesslich ist der Moment, als Michal Peled Ginsburg – wir waren ja nur zwei weibliche Fellows – verkündete, dass sie schwanger war. Folge war eine erhitzte Diskussion unter den Fellows darüber, ob eine Frau „in anderen Umständen“, wie es damals noch hieß, überhaupt Fellow am Wissenschaftskolleg sein dürfe.
Das Geschlechterverhältnis in der Wissenschaft wurde in diesem Jahr aber nicht nur wegen dieser Ankündigung ein Thema.
Nein! Das Thema hing – zumindest für mich – in irritierender Weise über dem gesamten Unterfangen, und ich habe mich entschlossen, es zum Gegenstand meines öffentlichen Kolloquiums zu machen, obwohl ich eigentlich ein anderes Thema geplant hatte.
Also hat das Kolleg seine Aufgabe, bei den Fellows neue Fragen aufzuwerfen, bei Ihnen erfüllt! Ich zitiere einmal aus Ihrem Kolloquiumsvortrag: „Gemeint ist, wie bei jedem Tabu, das bisher Undenkbare: dass Frauen etwas radikal anderes über die Naturwissenschaften zu sagen haben; dass es eine spezifisch weibliche Erkenntnistheorie geben könnte, eine, die sich nicht in die gängigen Spielarten des philosophischen Realismus einordnet, sondern die Möglichkeiten des Zugangs zur realen Welt, ja einer Objektivierung radikal verleugnet; dass es dem weiblichen Denken gelingen müsste, die Trennung zwischen Objekt und Subjekt aufzuheben; zwischen Wissen, das nicht zu beherrschen sucht, und der gängigen Wissenschaft, die diese Prinzipien verkörpert.“ Wie hat das Publikum damals auf Ihre Thesen reagiert?
Die anschließende Diskussion war überaus lebhaft und bemerkenswert. Die klugen Männer schwiegen und die anderen wurden von den anwesenden Frauen in zuweilen etwas rüder Form eines Besseren belehrt. Eine Fortsetzung gab es übrigens etwas später; diese hat in dem mit Karin Hausen herausgegebenem Band „Wie männlich ist die Wissenschaft?“ ihren Niederschlag gefunden.
Um die heftigen Reaktionen zu verstehen, muss man wissen, dass das Kolloquium damals ein ganz anderes Format hatte: Es war öffentlich – eine Inszenierung, manchmal ein regelrechtes Theaterstück. Das war natürlich sehr gut, um das Kolleg bekannt zu machen. Aber es lastete ein ungeheurer Druck auf allen, die dort ihren Vortrag halten mussten. Wer antrat, der wusste, dass am nächsten oder übernächsten Tag im Tagesspiegel eine Kritik abgedruckt werden würde – wie nach einer Opernpremiere. Und es gab einen unglaublichen Wettbewerb der Berliner Gesellschaft: Wer wird eingeladen? Wer darf sich nachher in den Räumlichkeiten bei Wein und Brezeln unterhalten? Es wirkte fast wie eine höfische Gesellschaft – Norbert Elias hätte seine Freude gehabt, wenn er denn gekommen wäre.
Und wie klingt das Zitat für Sie heute, vierzig Jahre später?
Das klingt schon ein wenig nach Zeitgeist. Aber wenn ich zurückschaue, dann stelle ich fest, dass manche dieser Gedanken durchaus eine Fortsetzung bis in die Gegenwart erfahren haben; etwa in Londa Schiebingers erfolgreichen Thesen von „gendered innovation“ und „gendered science“. Auch medizinische Forschung ist nicht mehr denkbar, ohne die Geschlechterunterschiede der menschlichen Körper zu berücksichtigen. Heute gibt es keinen Zweifel mehr daran, dass es keine gute Wissenschaft geben kann, die die Kategorie Geschlecht nicht mitdenkt. Dass eine Frau Rektorin des Wissenschaftskollegs werden könnte oder Direktorin an einem Max-Planck-Institut, war damals unvorstellbar. Insofern sind wir schon ein ganzes Stück vorangekommen. Aber das Thema Geschlecht in der Wissenschaft wird erst dann seine Aktualität verlieren, wenn man es gar nicht mehr aktiv thematisieren muss, wenn es eine Selbstverständlichkeit ist. Dann wird bei der Besetzung einer Position nur noch die Qualifikation zählen.
Es gab damals auch den Vorwurf, das Kolleg sei elitär. Haben Sie diese Kritik geteilt?
Nein, für mich war und ist eine Auswahl und besondere Förderung herausragender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler legitim. Entsprechend habe ich mich auch dafür engagiert, das Kolleg gegen Anfeindungen der Berliner Universitäten zu verteidigen. Gemeinsam mit Montinari – wir wurden offenbar als „die Linken“ in der Gruppe angesehen – wurden wir gebeten, bei einem Treffen mit Universitätsvertretern zu sprechen. Das haben wir getan und den Standpunkt vertreten, dass die Kolleggründung von Vorteil für die gesamte Berliner Wissenschaftslandschaft sei. Die Universitäten dachten natürlich daran, dass durch das Kolleg Mittel von der universitären Forschung und von der Lehre abgezogen würden. Doch wir argumentierten damit, dass von der Einladung exzellenter internationaler Wissenschaftler alle Berliner Kollegen und auch die Studierenden profitieren könnten.
1989 erscheint Ihr Buch „Eigenzeit“. Darin ermutigen Sie Ihre Leserinnen und Leser dazu, sich nicht den immer schneller werdenden Zeitregimen der Gegenwart auszuliefern. Könnte dieser Gedanke auch mit Ihren Erfahrungen am Kolleg zu tun haben?
Das hat für mich sicher eine Rolle gespielt. Ich kam aus einem sehr intensiven akademischen Alltag nach Berlin. Ich hatte damals das European Center for Social Welfare in Wien zu leiten, ein internationales Institut mit vielen angewandten Projekten. Meine eigene Forschung lief quasi nebenher, in einer Art Parallelwelt. Und dann finde ich mich plötzlich im Grunewald, kann lesen, kann sprechen, das war wunderbar und hat mich zu einer Frage zurückgeführt, die mich auch schon vorher beschäftigt hatte: Wie kommt es, dass manche Menschen viel mehr Zeit haben als andere? Warum hat man in bestimmten Lebensphasen mehr Zeit? Was macht man mit ihr? Die Kollegerfahrung war eine Verstärkung und Bestätigung, dass es hier ein Problem zu erkunden gab.
Würden Sie sagen, dass noch andere Fragen aus Ihrem Fellowjahr in Ihrer weiteren Entwicklung fortgewirkt haben?
Die Frage, wie Inter- und Transdiziplinarität gelingen kann, habe ich aus dem Kolleg mitgenommen und immer weiterverfolgt. Als mögliche Antwort auf sie spielt das Wissenschaftskolleg eine wichtige Rolle – heute viel mehr als bei der Gründung, denn es sind ja viel mehr Disziplinen vertreten. Das direkte Gespräch mit Vertretern anderer Fächer und über die Schwellen zwischen Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften hinweg ist unerlässlich, um die Prämissen und blinden Flecke des eigenen Faches zu erkennen. In ausgiebigen Gesprächen mit fachfremden Kolleginnen und Kollegen kann sich eine ganz neue Welt eröffnen. Für mich als Wissenschaftsforscherin ist die Interdisziplinarität vielleicht selbstverständlicher als für andere Disziplinen; aber ich habe vom Kolleg die Frage mitgenommen, welche Voraussetzungen disiziplinenübergreifendes Arbeiten braucht, um fruchtbar zu sein. Das war übrigens auch ein wichtiger Impuls für die Gründung des European Research Council, den ich von 2007 bis 2013 zuerst als Vizepräsidentin und dann als Präsidentin geleitet habe: Forschenden einerseits „Eigenzeit“ zu schenken – immerhin fünf Jahre für ein selbstgewähltes Projekt –, aber ihnen auch die Möglichkeit zu geben, sich ein erstklassiges und handverlesenes Team zusammenzustellen. Wie dringend fächerübergreifende Zusammenarbeit ist, erleben wir ja auch in der aktuellen Pandemie: Egal ob man Simulationsmodelle erstellt oder medizinisch forscht, es ist unverzichtbar, seine Ergebnisse in einen weiteren – z. B. politischen und gesellschaftlichen – Kontext zu stellen. Wenn man diese Zusammenhänge nicht im Blick behält, dann fährt man eingleisig und leider sehr oft auch gegen die Wand.
Ein Vorschlag zur Erweiterung transdisziplinären Arbeitens ist das Konzept „Mode 2“, das Sie 1994 mit Kollegen vorgelegt haben. Hier plädieren Sie nicht nur für die Aufhebung der Grenzen zwischen Disziplinen, sondern auch – im Sinne der „citizen science“ – für eine Öffnung der Forschung hin zu nichtakademischen Akteuren. Lässt sich das auf das Kolleg beziehen?
Es gibt eine Spannung zwischen dem Rückzug in die Eigenzeit und dem Schritt in die Gesellschaft. Aber Wissenschaft verändert sich dynamisch und muss unentwegt neue Formate ausprobieren. Es gilt, aus der Spannung etwas Neues zu entwickeln. Das beginnt bei neuen Formen der Wissenschaftskommunikation, wo das Kolleg eine herausragende Rolle spielt. Aber könnte man darüber hinaus nicht auch institutionelle Formen der Öffnung zu nichtakademischen Akteuren finden?
Wie groß ist denn noch Ihr Vertrauen in nichtakademische Akteure in Zeiten von Wissenschaftsfeindschaft, „alternative facts“ und Verschwörungstheorien?
Auf den harten Kern der Verschwörungstheoretiker würde ich nicht eine Minute meiner Zeit verschwenden. Aber insgesamt scheint mir, dass die Wissenschaft durch die Pandemie an Terrain, an Vertrauen zurückgewonnen hat.
Hat wirklich die Wissenschaft in der Krise gewonnen oder die Virologie?
Im Moment konzentriert sich vielleicht alle Aufmerksamkeit auf die Life Sciences. Aber die weitaus größere Folge der Pandemie ist ein weiterer Schub in der Digitalisierung. Im Kampf gegen das Virus ist es deutlich geworden, wie entscheidend das Sammeln und Vorhalten von großen Datenmengen ist und wie hilfreich künstliche Intelligenz für ihre Auswertung sein kann. Wir treten in eine Phase ein, wo es nicht mehr übertrieben ist, von einer Koevolution zwischen Menschen und datenverarbeitenden Maschinen zu sprechen. Das wirft viele Fragen auf! Daten sind ja kein natürlicher Rohstoff; sie entstehen vor allem durch Entscheidungen über Formate. Und auch Algorithmen können menschliche Entscheidungen nicht ersetzen, sie sind ja selber das Ergebnis menschlicher Entscheidungen. Welche Daten und welche Algorithmen brauchen wir wirklich? Wo endet das öffentliche Interesse und beginnt der Schutz der Privatsphäre? Solche Fragen können nur in einem breiten gesellschaftlichen Gespräch diskutiert werden.
Solche Fragen haben wir am Kolleg in der Serie „Thinking the Virus“ diskutiert. Konkret hat uns die Digitalisierung aber auch in anderer Weise beschäftigt: Kolloquium, Workshops und Meetings fanden nur noch als Videokonferenzen statt. Das macht den Austausch mit weit entfernten Menschen oft viel leichter, aber was wäre das Kolleg ohne Präsenz?
Ein virtuelles Wissenschaftskolleg kann es nicht geben. Aber wir alle haben nicht nur schlechte Erfahrungen mit modernen Videokonferenzsystemen gemacht. Nach dem Peter Drucker Forum in diesem Jahr waren sich zum Beispiel alle einig, dass man bei kleinen, detailliert vorbereiteten virtuellen Panels mit guter Moderation viel lernen kann. Vielleicht könnte das Kolleg durch digitale Kommunikation mehr Flexibilität gewinnen. Es ist ja – besonders in den Naturwissenschaften – schwierig, Forscherinnen und Forscher für zehn Monate aus ihren Laboren zu holen. In einem hybriden Fellowship könnten sich Präsenzphasen und Phasen der Kommunikation aus der Distanz abwechseln. So ist übrigens auch „Mode 2“ entstanden. Wir haben uns an unterschiedlichen Orten der Welt verabredet – meist in schönen Hotels in abgelegenen Gegenden, wo wir drei Tage lang von früh bis spät miteinander sprechen konnten. Bevor wir auseinandergingen, haben wir die Aufgaben für die Zeit bis zum nächsten Treffen verteilt – ein akademischer Wanderzirkus! Von wechselnden Höfen aus hat doch auch der „Reisekaiser“ Karl der Große sein Reich regiert. Vielleicht ist das auch ein neues Modell für thematische Fokusgruppen am Kolleg?
Ich leite die Idee gern weiter! Aber werden die Hauptfolgen der Pandemie für die Wissenschaft nicht leere Kassen sein?
Die europäischen Staaten machen jetzt enorme Schulden. Die Ausgaben für Wissenschaft sind daneben verschwindend gering. Gewiss, Budgets schwanken, aber davon geht die Wissenschaft nicht unter. Viel wichtiger ist, dass wir mit diesen Schwankungen verantwortlich umgehen. Ich denke vor allem an den wissenschaftlichen Nachwuchs. Wenn es an den Universitäten weniger Stellen gibt, muss man aktiv dafür sorgen, dass hochqualifizierten jungen Menschen eine andere berufliche Perspektive eröffnet wird. Dies ist keineswegs als Verlust für die Wissenschaft zu sehen. Es geht vielmehr darum, dass sie so Wissenschaft in die Gesellschaft tragen und ihr Wissen in vielfältigen gesellschaftlich relevanten Kontexten umsetzen können. Das wäre dann ein Gewinn für uns alle.
Das Gespräch führte Daniel Schönpflug