Eine kurze Geschichte des Wissenschaftskollegs
Im Oktober 1978 beschloss das Berliner Abgeordnetenhaus, im Gedenken an den ersten Regierenden Bürgermeister der Stadt ein „Ernst-Reuter-Zentrum“ einzurichten, dessen Aufgabe es sein sollte, „die internationale wissenschaftliche Kommunikation zu fördern, Wissenschaftler aus allen Teilen der Welt, insbesondere Gelehrte, die durch den Nationalsozialismus zur Emigration gezwungen wurden, und ihre Schüler als Gäste nach Berlin zu bringen, durch Kontakte zwischen ausländischen Gästen und deutschen, insbesondere Berliner Wissenschaftlern das geistige Leben Berlins zu fördern und auszubauen.“ Im Laufe der Planungsphase wurde daraus das von der Ernst-Reuter-Stiftung getragene „Wissenschaftskolleg zu Berlin e. V.“, entworfen nach dem Modell und mit dem hohen Qualitätsanspruch amerikanischer Institutes for Advanced Study (insbesondere Princeton). Auf der Gründungsversammlung des Vereins (dem die Berliner Universitäten sowie die wichtigsten deutschen Wissenschaftsorganisationen angehören) wurde der Germanist und Mediävist Peter Wapnewski zum ersten Rektor gewählt; im Oktober 1981 trafen die ersten 18 Fellows ein (ein Jahrgang mit zwei Frauen, mit fast zur Hälfte deutschen Fellows, aber auch vier Polen und zwei Israelis – ohne Naturwissenschaften, dafür stark in Literaturwissenschaft und Geschichte). Die Gründung einer solchen dem Elitegedanken verpflichteten wissenschaftlichen Einrichtung in der ‚Frontstadt Berlin‘ führte damals zu heftigen Diskussionen, die auch in überregionalen Medien ihren Niederschlag fanden. (Einblick in die geistigen Auseinandersetzungen jener Zeit wie auch in die der ersten Fellow-Gruppe gibt der Bericht von Uwe Pörksen, selbst Fellow: Camelot im Grunewald. Szenen aus dem intellektuellen Leben der achtziger Jahre. München: Beck 2014.) In der Rückschau wird deutlich, dass das Kolleg seine Existenz einer glückhaften Konstellation von Umständen und – vor allem auch – entschlossenen Personen verdankt; genannt sei hier insbesondere der damals für Wissenschaft zuständige Berliner Senator Peter Glotz. (Einzelheiten der Gründungsgeschichte finden sich in 25 Jahre Wissenschaftskolleg zu Berlin; 1981-2006, hg. von Dieter Grimm in Zusammenarbeit mit Reinhart Meyer-Kalkus. Berlin: Akademie Verlag 2006.)
Im Verlauf der ersten Jahre kristallisierten sich bald die für das Wissenschaftskolleg spezifischen Formate und Ziele des internen Zusammenlebens und -arbeitens heraus, wie sie im Wesentlichen bis heute gelten (und in den folgenden Kapiteln dargestellt werden). Ab der zweiten Hälfte der 80er-Jahre konnte das Kolleg den Fellows und ihren Familien weitere Arbeits- und Wohngelegenheiten in der Wallotstraße zur Verfügung stellen: Dank der räumlichen Nähe verstärkten sich diskursive Interaktionen und Zusammenhalt deutlich; es entstand gewissermaßen ein kleiner Campus, der in späteren Jahren durch die Anmietung zusätzlicher Wohnungen noch erweitert wurde.
Während der ersten Jahre galt es aber auch, die neuartige, zumal in Deutschland als Typus unbekannte Institution in der nationalen und internationalen Wissenschaftslandschaft zu situieren und ihr Bestehen zu sichern. Neben dem Land Berlin unterstützte zunächst maßgeblich die VolkswagenStiftung die neue Einrichtung. Im Mai 1982 stellte der Wissenschaftsrat bei einer ersten Begehung fest, dass die „Aufgabenstellung des Kollegs von überregionaler Bedeutung“ und von „gesamtstaatlichem wissenschaftspolitischem Interesse“ sei und empfahl die Aufnahme der Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter in die gemeinsame Förderung durch Bund und Länder. Im Ergebnis beteiligt sich das zuständige Bundesministerium seit 1985 und hat sich mit dem Land Berlin auf eine je hälftige Finanzierung verständigt. Auch innerhalb der Universitätslandschaft fand das Kolleg mehr und mehr Zuspruch und Unterstützung – so befand die Kultusministerkonferenz 1985, deutsche Universitäten sollten als Fellow berufene Hochschulangehörige beurlauben. Wesentlichen Anteil an Aufbau, Konsolidierung und Expansion des Kollegs hatte von Anfang an Joachim Nettelbeck, der als Sekretär die Verwaltung leitete und gemeinsam mit dem Team der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für optimale Forschungsbedingungen der Fellows sorgte, bis er zu Ende des akademischen Jahres 2011/12 seine Aufgaben an Thorsten Wilhelmy übergab.
Auf den Gründungsrektor Peter Wapnewski folgte von 1986 bis 2001 der Soziologe Wolf Lepenies an der Spitze des Kollegs. Mit ihm näherte sich die Institution stärker dem angloamerikanischen Raum an, baute die bestehenden Bindungen nach Israel und dem Nahen Osten weiter aus, wandte sich dezidiert der Wissenschaftsgeschichte zu und nutzte die Chance der historischen Wende 1989 zu einer betonten Öffnung nach Osten:
- Mit dem auswärtigen Permanent Fellow Yehuda Elkana, dem israelischen Physiker und Wissenschaftsphilosophen, entwickelte das Wissenschaftskolleg am Van Leer Jerusalem Institute ein Stipendienprogramm für junge Forscherinnen und Forscher aus Deutschland, Israel und Palästina („Europe in the Middle East“). Wenig später wurde in Berlin der „Arbeitskreis Moderne und Islam“ gegründet und als extern finanziertes Projekt an das Wissenschaftskolleg angebunden. Das intellektuelle Profil dieses Vorhabens wurde geprägt durch den renommierten syrischen Islamwissenschaftler Aziz al-Azmeh, später durch den deutsch-iranischen Islamwissenschaftler und Schriftsteller Navid Kermani (beide zu ihrer Zeit Long-term Fellows des Kollegs).
- Um eine theoretisch reflektierte und historisch-philosophisch kontextualisierte Wissenschaftsgeschichte im deutschsprachigen Raum zu stärken, engagierte sich das Kolleg über mehrere Jahre mit einem „Forschungsverbund Wissenschaftsgeschichte“ und gestaltete dadurch eine Etappe auf dem Weg zum Berliner Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte.
- Im Osten Europas ergriff Wolf Lepenies gemeinsam mit ungarischen Partnern schon 1989 die Initiative, ein Institute for Advanced Study zu gründen. Es gelang, ein internationales Konsortium von Förderern für die Sache zu begeistern, sodass im Sommer 1992 das Collegium Budapest eröffnet werden konnte. Von früheren Fellows des Kollegs wurden später ähnliche Institutionen in Bukarest und Sofia gegründet, mit denen bis heute intensive Beziehungen bestehen.
Aber auch innerhalb des Kollegs wurden nachhaltige Veränderungen eingeleitet: Mit der Berufung des Zürcher Zoologen Rüdiger Wehner zum (auswärtigen) Permanent Fellow gewann das Wissenschaftskolleg einen starken Fürsprecher der Lebenswissenschaften; so eroberte sich in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre die (theoretische) Biologie einen festen Platz in der Fächerpalette. Die Einbeziehung von Künstlern, insbesondere von Musikern und Literaten, hatte bereits in der Zeit von Peter Wapnewskis Rektorat begonnen, wurde nun aber ebenfalls prominent weiterverfolgt – ein Höhepunkt war gewiss, als Imre Kertész während seiner Residenz am Wissenschaftskolleg den Nobelpreis zugesprochen erhielt.
Zum Ende des Jahrtausends bemühte sich das Wissenschaftskolleg um eine „Europäisierung“ seiner institutionellen Grundlagen; 1998 schloss es einen Vertrag mit der Schweizerischen Eidgenossenschaft, die sich fortan an der Grundfinanzierung beteiligte. Mit der schwedischen Stiftung Riksbankens Jubileumsfond wurde vereinbart, dass sie sich einige Jahre für den Projektbereich des Kollegs engagiere. In der Folge einer dritten Begehung durch den Wissenschaftsrat wurde das Wissenschaftskolleg im Jahre 2001 als gesonderte Einrichtung in die gemeinsame Förderung von Bund und Ländern übernommen – ein wesentlicher Schritt in der institutionellen Entwicklung.
Als 2001 Dieter Grimm, Professor des Öffentlichen Rechts an der Humboldt-Universität zu Berlin und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht, das Amt des Rektors übernahm, unterzog er die Existenzberechtigung des Wissenschaftskollegs einer kritischen Analyse und kam zum Schluss, dass es einer solchen Institution nach wie vor bedürfe. Im Vergleich mit den Gründungsjahren habe sich die Erwartung an die Wissenschaft, als „Zulieferbetrieb“ für die Gesellschaft zu fungieren, sogar noch verstärkt: Umso bedeutsamer sei ein Ort, wo einzelnen herausragenden Gelehrten die Möglichkeit geschenkt werde, „ohne externen Druck selbst gesetzten Erkenntniszielen nachzugehen“ (Broschüre zur Rektoratsübergabe am 2. Oktober 2001, 37 ff.). Während Grimms Amtszeit wurde der Kerngedanke des Kollegs daher nochmals vertieft, zugleich aber auch die oben genannten, mehr projektorientierten Aktivitäten konsolidiert. Den Interessen des Rektors entsprechend rückten in den Fellow-Gruppen dieser Jahre Fragen der staatlichen Verfasstheit, der Globalisierung und der Finalität Europas stärker in den Vordergrund. Zwei längerfristig angelegte Forschungsachsen verfolgte das Kolleg auch mit Fellow-Einladungen einerseits im Bereich der Bildwissenschaften, angetrieben durch Permanent Fellow Horst Bredekamp (Kunsthistoriker an der Humboldt-Universität), andererseits disziplinenübergreifend durch die Konzentration auf cultural encounters bzw. cultural mobility; ein Thema, das der amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaftler Stephen Greenblatt (auch er Permanent Fellow) vorantrieb. Dieser Bereich zeitigte langfristige Auswirkungen auch auf die projektförmigen Nebenaktivitäten des Kollegs (Berliner Forschungsverbünde „Wege des Wissens“, „Forum Transregionale Studien“ u. a.).
Seit April 2007 leitet Luca Giuliani, Professor der Klassischen Archäologie an der Humboldt-Universität zu Berlin, das Wissenschaftskolleg. Als er dieses Amt übernahm, zeichnete sich der enorme Aufschwung schon ab, den die Gattung Institute for Advanced Study seither genommen hat. Angesichts dieser Veränderungen suchte das Kolleg sein Profil zu schärfen und seine Qualitäten weiterzuentwickeln. Dabei wurde die Unterschiedlichkeit der hier versammelten Persönlichkeiten als zentrales Merkmal ausgemacht, das durch die Gestaltung von institutionellen Rahmenbedingungen, welche ein förderliches Neben-, wenn nicht Miteinander stimulieren, zur Geltung gebracht werden soll. So formulierte der neue Rektor beim Amtsantritt: „Die Heterogenität der Fellows und ihr Zusammenschluss zu einer Gemeinschaft, die alle Unterschiede überhaupt erst zu thematisieren erlaubt: das scheinen mir die entscheidenden Unterschiede zwischen diesem Haus und allen neueren universitären Kollegs zu sein, die sich gegenwärtig in ihrer exzellenzbedingten Gründungsphase befinden“ (Broschüre zur Rektoratsübergabe am 1. April 2007, S. 17). Entsprechend wurden mehr Ressourcen in den Prozess der Fellowauswahl investiert – mit dem Ziel, Fellow-Jahrgänge von mehrdimensionaler Vielfalt zusammenzustellen, die weiterhin den Kriterien wissenschaftlicher Exzellenz genügen. Im Bestreben, die Lebens- und Naturwissenschaften zu stärken und gleichzeitig junge Forscherinnen und Forscher zu fördern, wurde mit der Unterstützung der zuständigen Permanent Fellows Paul Schmid-Hempel (Biologische Ökologie, Zürich) und Raghavendra Gadagkar (Biologie, Bangalore) das College for Life Sciences ins Leben gerufen. Den Fellows und ihren Familien suchte man zusätzliche Dienstleistungen anzubieten, die auf eine bessere Integration der mitreisenden Partner zielen. Es gehören dazu beispielsweise die Einführung des (für Fellows unentgeltlichen) Deutsch-Intensivkurses vor Beginn des akademischen Jahres sowie die Hilfestellungen des Kollegs bei der Kinderbetreuung.
Neben dem Kernbereich der Fellow-Einladungen wurde um 2010 auch der Einsatz im Projektbereich erhöht. Um die Rechtswissenschaften als Sozialwissenschaften auf breiterer Basis zu interpretieren und die herausragende doppelte Kompetenz der Permanent Fellows Dieter Grimm und Christoph Möllers (auch er Jurist an der Humboldt-Universität) zur Geltung zu bringen, wurde der Berliner Forschungsverbund „Recht im Kontext“ konzipiert und vom Kolleg aus koordiniert. Auf langfristigen theoretisch-methodischen Interessen baute auch die Institutionalisierung des „Forums Transregionale Studien“ auf, für das sich das Wissenschaftskolleg ebenfalls stark engagierte. Unter dem Dach des Forums werden mehrere Forschungsprojekte zusammengefasst; dazu gehören derzeit vornehmlich „Europe in the Middle East – The Middle East in Europe“ (ein Folgeprogramm des früheren „Arbeitskreis Moderne und Islam“), „Art Histories and Aesthetic Practices“ sowie neuerdings die „Berlin-Brandenburgische Ukraine-Initiative“. Kennzeichen aller dieser Unternehmungen ist das Bestreben, disziplinär verankerte rigorose Methodologie mit Regionalkenntnissen zu verbinden, die lokalen Phänomene jedoch immer aus einer übergeordneten Perspektive in den Blick zu nehmen. Im Projektbereich spiegeln sich so Forschungsfragen und Prinzipien, die auch in der Auswahl der Fellows des Wissenschaftskollegs zum Tragen kommen und wechselseitig für Inspiration und Ansporn sorgen.
Eine methodische Bemerkung zum Schluss: Die Geschichte des Wissenschaftskollegs zu schreiben, ist eine nahezu unlösbare Aufgabe. Denn diese Institution lebt vor allem von den und für die Fellows, die Jahr für Jahr neu berufen werden. Eine wirkliche Geschichte müsste also alle diese rund 1600 Persönlichkeiten mit ihren Themen, ihren Beiträgen, Verdiensten und Wirkungen nennen – ein Ding der Unmöglichkeit, ihnen allen gerecht zu werden. So bleibt es bei diesem mangelhaften Abriss.