Mit essbaren Insekten die Welt ernähren
Goggy Davidowitz, Institut für Entomologie, University of Arizona, USA
Mir war etwas bange, als ich an ihre Tür klopfte. „Im schlimmsten Fall sagt sie nein“, dachte ich. Ich wollte einen Vortrag über essbare Insekten halten und unsere Restaurantchefin Dunia fragen, ob es möglich wäre, dazu Grillenkekse und Mehlwurmchips an die Fellows zu verteilen. Wie ich befürchtet hatte, war Dunias erste Antwort: „Nein“ ... aber gefolgt von: „Wir kaufen die Insekten und machen selber etwas daraus!“
So geschah es dann auch. Im Rahmen eines Donnerstagskolloquiums im Dezember 2022 hielt ich einen Vortrag mit dem Titel „Die Welt mit essbaren Insekten ernähren“, gefolgt von Insektenhäppchen beim Aperitif. Fast hätte ein Problem in der Küche den ganzen Plan zum Scheitern gebracht, aber am Ende zauberte Dunia auf die Schnelle drei Gerichte, während ich meinen Vortrag hielt: Mehlwürmer im Schokoladenmantel, Grillenpesto und Grashüpfer-Crunchies. Als das Abendessen begann, war nichts mehr übrig. Besonders beliebt waren die Snacks bei den Fellowkindern.
Die Produktion von essbaren Insekten ist eine Branche mit erstaunlichem Wachstumspotenzial. Seit 2013 wurden hier schätzungsweise 1,1 Milliarden Euro investiert – vor allem in der EU – und es wird erwartet, dass das Volumen bis 2030 etwa 9,1 Milliarden Euro erreichen wird. Im Jahr 2022 gab es weltweit über dreihundert eingetragene Gesellschaften, die Insekten als Lebens- und Futtermittel züchten. Neunundfünfzig davon sind in zwanzig europäischen Ländern ansässig, acht davon in Deutschland.
Wie erklärt sich das Interesse an essbaren Insekten? Bis 2050 müssen weltweit über zehn Milliarden Menschen ernährt werden. Mit den derzeitigen landwirtschaftlichen Methoden ist das schlicht nicht möglich. Deshalb wird nach alternativen Lösungen für die Proteinproduktion gesucht, wobei Insektenproteine als nachhaltiges Nahrungsmittel immer mehr an Bedeutung gewinnen.
Es gibt inzwischen zahlreiche Studien, in denen der Nährwert von Insekten mit dem von Wirbeltieren verglichen wird. Pro Kalorie enthalten Insekten mehr Eiweiß und weniger Fett als Kühe oder Fische, und sie haben einen viel höheren Gehalt an Mineralstoffen wie Kalzium, Kalium, Eisen und Zink als Hühner. Fast alle Fette in Insekten sind ungesättigt und damit gesünder als die gesättigten Fette in der Haut von Rindern oder Hühnern. Das unverdauliche äußere Skelett des Insekts besteht darüber hinaus aus Ballaststoffen, die ebenfalls gesund sind.
Insekten lassen sich bei Weitem nachhaltiger züchten als Wirbeltiere. Um ein Kilogramm Eiweiß aus Kühen zu produzieren, werden etwa 15.400 Liter Wasser benötigt – einschließlich des Wassers, das für den Anbau des Futters benötigt wird. Das entspricht anderthalb Tanklastwagen. Im Vergleich dazu benötigt man zur Erzeugung von einem Kilogramm Eiweiß aus Insekten nur etwa fünf Liter Wasser.
Viel geringer ist auch die Menge an Futtermitteln, die zur Erzeugung von Eiweiß benötigt wird. Aus zehn Kilogramm Futter kann mit Kühen etwa ein Kilogramm Eiweiß gewonnen werden, mit Insekten dagegen neun Kilogramm. Die Umwandlungseffizienz von Futter in Protein ist also bei Insekten neunmal höher als bei Kühen. Warum ist das so? Kühe sind wie alle Säugetiere Warmblüter. Sie müssen einen Großteil ihrer Nahrung verbrennen, um eine konstante Körpertemperatur zu halten. Im Gegensatz dazu schwankt die Körpertemperatur von Insekten mit der Umgebungswärme. Daher können sie viel mehr von dem, was sie essen, in Wachstum investieren.
Insekten brauchen nur sieben Prozent der Fläche, die für Rinder benötigt wird, um die gleiche Menge an Eiweiß zu produzieren. Außerdem können Rinder nur auf einer einzigen Schicht, dem Boden, aufgezogen werden. Im Gegensatz dazu eignen sich Insekten ausgezeichnet für die vertikale Aufzucht – einige Anlagen stapeln die Aufzuchtkästen bis auf die Höhe von zwei Stockwerken. Dadurch wird ihr „Fußabdruck“ noch weiter verringert.
Worüber forsche ich an meiner Heimatuniversität, der University of Arizona? Ich züchte keine Insekten zum Verzehr; vielmehr entwickeln wir Technologien für die Zukunft. Wir konzentrieren uns darauf, wie man Lebensmittelabfälle – vor allem Obst und Gemüse – für die Insektenzucht nutzen kann. Jedes Jahr landet etwa ein Drittel aller weltweit produzierten Lebensmittel auf der Mülldeponie. Das sind etwa 1,3 Milliarden Tonnen im Wert von über 913 Milliarden Euro, die jährlich verschwendet werden. Diese Lebensmittelabfälle erzeugen fast zehn Prozent aller Treibhausgase und tragen damit erheblich zur globalen Erwärmung bei.
Wir arbeiten daran, diese Situation durch den Einsatz von Insekten zu entschärfen. Es gibt zwei Arten von verschwendeten Lebensmitteln: Ein großer Teil verrottet und kann nicht verzehrt werden. Ein kleiner Teil dieser verrottenden Abfälle wird abgefangen, bevor er auf der Deponie landet, und in Kompost verwandelt, der dann als Dünger für Pflanzen dient. Wir nun haben eine andere Vorstellung: Wir kompostieren verrottende Lebensmittel, verändern sie aber so, dass sie für Insekten, die sich von verfaulendem organischem Material ernähren, attraktiv sind. Diese Insekten verwenden wir dann in Aquaponiksystemen als Fischfutter. Aquaponik ist eine Kombination aus Aquakultur, also Fischzucht, und Hydroponik, also Anbau von Pflanzen in nährstoffreichem Wasser statt in Erde. Die Grundidee der Aquaponik ist folgende: Man füttert die Fische, und ihre Ausscheidungen werden dann in einen Biofilter geleitet, der Bakterien enthält. Diese Bakterien wandeln Ammoniak in Nitrate und Nitrite um, beides wichtige Bestandteile von Pflanzendünger. Diese werden dann an die Pflanzen weitergeleitet. Statt kommerzielles Fischfutter zu verwenden, das achtzig Prozent der Kosten für die Fischzucht ausmacht, füttern wir die Fische mit Insekten. Wir haben festgestellt, dass sowohl die Fische als auch die Pflanzen viel besser wachsen, wenn die Fische mit Insekten gefüttert werden.
Eine zweite Art von Lebensmittelabfällen besteht aus Obst und Gemüse, das noch frisch und verzehrfertig ist, aber nicht in die Versorgungskette gelangt, weil es im Überschuss angebaut wird. Diese hochwertigen Überschüsse können für die Fütterung von Insekten verwendet werden, die der Mensch essen kann. Eine wesentliche Einschränkung besteht darin, dass das Obst und Gemüse verarbeitet werden muss, bevor es verfault. Zu diesem Zweck haben wir einen Trocknungsturm entwickelt, der Sonneneinstrahlung nutzt, um Obst und Gemüse zu trocknen. Der Turm ist etwa 4 x 4 x 8 Meter groß und damit fast so hoch wie das Hauptgebäude des Wissenschaftskollegs. In diesem Turm trocknet überschüssiges Obst und Gemüse schneller als in einem handelsüblichen Dörrgerät; dabei tötet die Hitze die Bakterien ab, die sich auf den Pflanzen befinden. Außerdem besteht frisches Obst und Gemüse zu etwa 95 % aus Wasser. Wir fangen das verdunstete Wasser aus dem Inneren des Turms wieder auf, sodass wir für jede Tonne Abfall, die wir verarbeiten, fast einen Kubikmeter Wasser zurückgewinnen. Dieses kann als Trinkwasser oder zur Bewässerung verwendet werden.
Darüber hinaus gibt es noch ein weiteres Forschungs- und Entwicklungsfeld: Das derzeitige Paradigma in der Landwirtschaft lautet, dass Pflanzen geschützt und Insekten bekämpft werden müssen. In meinem Labor kehren wir den Spieß um: Wir lassen Insekten Pflanzen fressen und ernten dann die Insekten. Vor allem Heuschrecken sind große Schädlinge in der Landwirtschaft: Die schlimmsten sind Wanderheuschrecken, die zu Hunderten von Millionen ausschwärmen können. Wir sind dabei, eine KI- und GPS-gesteuerte Heuschreckenerntemaschine zu entwickeln, einen halbautonomen Roboter, der Heuschrecken einfängt, wenn sie springen. Diese Maschine kann zur Schädlingsbekämpfung oder zum Sammeln von Heuschrecken als Nahrungsmittel eingesetzt werden. Mein Fernziel ist es, Flotten von diesen Robotern in Brutgebieten von Wanderheuschrecken einzusetzen, um ganze Schwärme zu bekämpfen. Wird dies das Heuschreckenproblem lösen? Natürlich nicht. Aber wenn Erntemaschinen verhindern können, dass ein Dorf seine gesamte Ernte verliert, wäre schon einiges erreicht.
In den Wochen nach meinem Vortrag hatte ich viele Gespräche mit Fellows, Partnerinnen und Partnern über Insekten. Vor allem die Frage, wie man Menschen dazu bringen kann, Insekten zu essen, beschäftigte viele. Obwohl ich nach Berlin gekommen war, um an einem Projekt über Insektenphysiologie zu arbeiten, das nichts mit essbaren Insekten zu tun hat, brachten mich die Gespräche mit den Fellows beim Essen auf eine Idee. Eins der wunderbaren Dinge am Kolleg ist die Bibliothek, die fast jedes Medium für die Fellows beschafft. Inzwischen gibt es mehr als ein Dutzend Kochbücher, die sich ausschließlich mit Insektenrezepten befassen. Mit der unschätzbaren Hilfe von Stefan Gellner aus der Bibliothek habe ich so viele dieser Kochbücher zusammengesucht wie möglich. Mich interessierte, wie Insekten in Kochbüchern präsentiert werden: Setzen die Autoren ein Zeichen, indem sie ganze Insekten in den Gerichten herausstellen, oder gehen sie verstohlen vor und zermahlen Insekten zu Pulver, sodass sie nur eine unsichtbare Zutat unter vielen sind? Wie jeder Fellow weiß, werden nicht alle Projekte am Ende eines Jahres in Berlin abgeschlossen – aber ich habe die feste Absicht, dieses noch zu beenden.