Begegnungen mit dem Hausengel
von Monika Wagner
Monika Wagner studierte Malerei in Kassel, dann Kunstgeschichte, Archäologie und Literaturwissenschaft in Hamburg und London. Sie war Assistentin an der Universität Tübingen, leitete das Funkkolleg Moderne Kunst und lehrt seit 1987 Kunstgeschichte an der Universität Hamburg. Im akademischen Jahr 2005/2006 war sie Fellow des Wissenschaftskollges.
Kaum hatte ich meine neue Adresse in der Villa Jaffé, Wallotstraße 10, inspiziert, wartete als Teil des wunderbaren Wissenschaftskollegs-Service auch schon ein Päckchen Visitenkarten auf mich. Obwohl ich keineswegs eine Freundin dieser als unvermeidlich geltenden Erinnerungshilfen bin, war ich spontan fasziniert. Was mir sofort das Gefühl gab, an der "richtigen" Adresse zu sein, war weniger der kunsthistorisch schwergewichtige Straßenname als vielmehr der kleine, durch Leichtigkeit und Eleganz bestechende Engel mit dem großen Zirkel auf der Vorderseite. In einem geschlossenen Zirkelschlag stehend, scheint er sich selbst konstruiert zu haben. Das Emblem des Wissenschaftskollegs war mir zwar schon aus der Korrespondenz vertraut, aber jetzt firmierte mein Name unter den Auspizien des Flügelwesens. Der Hausengel ließ meine neue Adresse äußerst verheißungsvoll erscheinen.
Denn der Zirkel als Attribut gehört zu den bedeutungsvollsten Werkzeugen, heute spricht man wohl eher von "tools", die lange Zeit den Erfinder und Baumeister, den himmlischen wie den irdischen, auszeichneten. In mittelalterlichen Darstellungen der Erschaffung der Welt, in Porträts von Architekten und Baumeistern der Renaissance, bei Personifikationen der Architektur, wie sie in Emblembüchern und Architekturtraktaten auftreten, ist der Zirkel das prominente Attribut. Auch Dürers berühmte Melancholie sinniert mit dem Zirkel in der Hand und noch Avantgardekünstler wie El Lissitzky nutzten den Zirkel, um sich als Konstrukteure einer neuen Welt auszuweisen. Doch keine der mit einem Zirkel ausgestatteten Figuren ist so elegant, so grazil wie Schinkels Flügelwesen, das zudem trotz seiner Nacktheit als Neutrum, als Hybrid auftritt. Jedenfalls figuriert der Zirkel als Zeichen der Konstruktion und der Erfindungskraft gleichermaßen für den Weltenschöpfer wie für den Konstrukteur utopischer Welten. Der Zirkel steht für Idee und Tatkraft zugleich. Kein schlechtes Motto also für das Erkennungszeichen einer den Wissenschaften verpflichteten Adresse.
Auf eben jenes Engelmotiv mit dem Zirkel sprach mich kurze Zeit später Frau Bottomley an, als ich mich wieder einmal über ein Buch freute, um das ich mich zuvor wochenlang ergebnislos bemüht hatte. Sie fragte, ob ich zufällig wisse, woher das Motiv stamme, denn der Verein der Freunde des Wissenschaftskollegs plane eine Art "Engeledition" für die große Feier anlässlich des 25-jährigen Geburtstags des Wissenschaftskollegs im September 2006. Schinkel oder Schinkelkreis war alles, was ich zu diesem Zeitpunkt als Vorschlag anbieten konnte. Ich ahnte noch nicht, auf welch sonderbare Weise ich im Laufe der Recherchen für mein Forschungsprojekt wieder auf den Engel stoßen sollte.
Es war ausgerechnet die Architektur der ehemaligen Stalinallee, die mich zu den Ursprüngen des Hausengels führte. Um diese Begegnung zu erklären, muss ich einen kleinen Umweg gehen. Bis dahin war die Stalinallee für mich lediglich ein städtebauliches Monster gewesen und hatte überhaupt nichts mit meinem Forschungsprojekt zu tun; doch gehört sie zu einer jener unvorhersehbaren Berliner Begegnungen, die mich nun nicht mehr loslässt und meiner Arbeit eine unerwartete Wendung gegeben hat. Für einen der monatlichen Stadtrundgänge, ein Angebot von Kunsthistorikern für interessierte Fellows, das auf Martin Warnkes Initiative zurückgeht, wählte ich die Architektur der Stalinallee aus. Wir kämpften uns Anfang Februar 2006 durch einen eisigen, immer heftiger werdenden Schneesturm vom Strausberger Platz nach Osten und diese eindringliche Begegnung mit der ehemaligen Paradeachse der DDR machte mir klar, dass die Stalinallee ein unverzichtbarer Teil der sozialen Oberflächen im Berliner Stadtraum darstellt und zu meinem Forschungsprojekt gehören müsse. Seit jenem hart erkämpften Go East, von dem sich trotz widrigster äußerer Umstände eine ganze Reihe von Fellows, unter ihnen Horst Bredekamp, Ingolf Dalferth, Jean-Louis Fabiani, Luca Giuliani, Charlotte Klonk und Mordechai Kremnitzer, nicht abschrecken ließ, sehe ich die Straße in einem neuen Licht. Die Gespräche, Beobachtungen und Diskussionen auf der heutigen Karl-Marx-Allee und vor dem Hochhaus an der Weberwiese sind mir unvergesslich und haben mich regelrecht beflügelt.
Ein paar Wochen später, als ich im warmen Sessel meinen im Schneesturm initiierten Recherchen in der prominenten Architekturzeitschrift der DDR Deutsche Architektur nachging, die jeden Schritt des frühen Prestigeobjekts begleitete und die Rezeption steuerte, stieß ich unvermutet auf den Hausengel des Wissenschaftskollegs. Zu dem von der DDR vertretenen sogenannten nationalen Erbe, auf das sich die Architekten der frühen 50er-Jahre beziehen sollten, gehörte an erster Stelle Karl Friedrich Schinkel. Das erklärt die ganzseitige Publikation eines lehrbuchartigen Blattes mit der vielteiligen Ornamentik, die nach Schinkels Plänen am Berliner Feilner-Haus realisiert worden war. Aus den Architekturornamenten sprang mir der Engel geradezu ins Auge. Er stammt aus dem ornamentalen Arkanthusfries des Türsturzes und war durch einen Tondo hervorgehoben, der die Mittelachse des Eingangs zum Haus des stadtbekannten Fabrikanten Tobias Christoph Feilner schmückte. Feilners Werkstatt galt als Experimentieranstalt, in der alle möglichen keramischen Teile, vom Leuchter über Bauornamentik bis zu neuartigen Kachelöfen, entwickelt und fabriziert wurden. Der Fabrikant stand in produktiver Kooperation mit Schinkel, dem Stararchitekten der Zeit, und stellte seinerseits die von Schinkel entworfenen Bauornamente auch seines eigenen Hauses aus rotem Ton her. (Wenn die Engeledition der Freunde weiß ausfällt, lässt sich immerhin geltend machen, dass sie Schinkels Entwurfszeichnung näher kommt als der Ausführung am Bau.) Während weitere Flügelwesen mit Messinstrumenten ausgestattet das Ornamentband der seitlichen Türeinfassung des Feilner-Hauses zierten, schwebte der Engel mit dem Zirkel über den in das Haus Eintretenden. Für die bei Feilner ein- und ausgehenden Handwerker, Architekten und Erfinder mag er ein ähnliches Angebot der Teilhabe am produktiven Geist des Hauses dargestellt haben wie das Emblem des Wissenschaftskollegs für die Fellows.
Mir bleibt die Hoffnung, dass sich der Hausengel, den, wie sich schließlich klären ließ, der Gründungsrektor Peter Wapnewski als das passende Logo des Wissenschaftskollegs ausgewählt hat, auch für den Abschluss meines und all der anderen Projekte als inspirierend herausstellen möge.
Berlin, Sommer 2006