Editorial
Dieser Newsletter erscheint zwischen zwei Jahrestagen: dem 9. November 2019 und dem 3. Oktober 2020. Beide verweisen auf Schlüsseldaten der deutschen Geschichte, die nun dreißig Jahre zurückliegen, aber auch auf eine europäische und globale Umwälzung, die für das Wissenschaftskolleg ausgesprochen folgenreich war. Westberlin hörte auf, eine Insel zu sein, Berlin wurde Hauptstadt eines vereinigten Deutschlands und das Wissenschaftskolleg sah sich herausgefordert, in einem vereinten Europa eine neue Rolle einzunehmen.
Der 9. November 1989 war ein Donnerstag, schon damals der Tag des Fellowdinners. Doch Gerüchte von Veränderung drangen ins Kollegrestaurant, und so strömten die Fellows zu den 20-Uhr-Nachrichten zum Fernseher im Clubraum und lauschten dem Beitrag über Günter Schabowskis inzwischen berühmte Pressekonferenz. Nicht einmal der Tagesschausprecher Jo Brauner wusste um die Tragweite der Nachrichten, die er an jedem Abend verlas. Aber einige Fellows, so etwa der Jurist Hasso Hofmann, witterten Wandel und nahmen gleich die S-Bahn in Richtung Friedrichstraße. Andere wie der Verfassungsrechtler Ulrich K. Preuß hielten es dagegen für ausgeschlossen, dass ein so komplexer Vorgang rasch vonstattengehen könnte, und gingen ins Bett. Dies sollte sich als Fehleinschätzung erweisen. Ironischerweise sollte – wie Sie in einem Interview in dieser Ausgabe lesen können – die ostdeutsche Revolution gerade ihn umso intensiver beschäftigen: Im Dezember 1989 war Preuß an der Ausarbeitung einer Verfassung für die DDR beteiligt. Auch andere Fellows schoben ihre Projekte beiseite, um sich dem aufregenden Tagesgeschehen zu widmen. Zu ihnen gehörte etwa der Ostberliner Schriftsteller Friedrich Dieckmann, der seine Wendeerfahrungen in Essays und Gedichten niederlegte, oder der US-amerikanische Historiker Robert Darnton, der statt seines Manuskripts zur Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts den Erlebnisbericht Tanz auf der Mauer verfasste.
Rasch entwickelte sich das Wissenschaftskolleg zu einer Denkkammer für das zusammenwachsende Deutschland, zu einer Brücke zwischen West- und Osteuropa. Dies zeigte sich im Veranstaltungsprogramm: Bald nach dem Mauerfall fand etwa ein Workshop zur Privatisierung der DDR-Wirtschaft statt, und Willy Brandt sprach über „Politische Reaktionen auf unvorhergesehene historische Veränderungen“ – diesen Titel hatte er kurioserweise bereits im Frühjahr des Jahres festgesetzt. Auch die Einladungspolitik des Kollegs wandelte sich. Allein aus Ungarn kamen seither an die fünfzig Fellows, darunter der Schriftsteller Imre Kertész, der während seines Fellowjahres den Nobelpreis für Literatur erhielt und an den kürzlich eine von Wolf Lepenies geleitete öffentliche Diskussion erinnerte. Darüber hinaus machte es sich das Kolleg zur Aufgabe, Gründungen von Partnerinstituten in Osteuropa zu unterstützen – darüber berichtet die ehemalige Leiterin der Fellowauswahl, Kathrin Biegger, die intensiv in diese Initiativen involviert war und ist.
Dreißig Jahre später scheinen viele der Fragen, die das Jahr 1989 aufgeworfen hat, offen. Karolina Wigura und Jarosław Kuiz (Fellows 2019/2020) werfen einen polnischen Blick auf das Jubiläum. Ihr Kommentar zeigt die unerwarteten Folgewirkungen des Umbruchs, der heute von vielen Polen als Verlusterfahrung wahrgenommen wird.
Laurenz Lütteken
Im Namen des Vorstands des Fellowclubs