Zur Zeit | Gespräche
Krieg und Frieden. Vergangenheit und Zukunft der Ukraine
13. Juni 2022
Kateryna Mishchenko und Andrii Portnov im Gespräch mit Martin Schulze Wessel
Ausschnitte aus dem Abendkolloquium vom 13.6.2022
MSW: Die Ukraine ist nicht weit weg und trotzdem ist das, was sich im Krieg abspielt, das Grauen des Krieges - etwa wie es in Bucha zu erkennen war oder in dem Asow Stahlwerk in Mariupol oder auch jetzt in Sjewjerodonezk – für uns nicht ermessbar. Es reicht aber sich vorzustellen, man hätte einen siebzehnjährigen Sohn, der jetzt in den Krieg geschickt wird, um zu verstehen, wie wenig wir der aktuellen Situation genügen. Die russische Armee greift im Moment mit mehrfacher Überlegenheit - zehnfacher, zwölffacher Artillerie-Überlegenheit - die Ukraine an. Und die westlichen Staaten, und sicherlich nicht zuletzt Deutschland, haben viel Zeit verloren, effektive Hilfe zu leisten. Das ist der bedrückende Hintergrund unseres Gespräches, in dem es vor allem um Analyse und Erkenntnis des Geschehens gehen soll. Vor allem möchte ich Fragen nach historischen und gesellschaftlichen Zusammenhängen aufwerfen. Aber auch moralische Fragen, die damit zusammenhängen, sollen nicht ausgespart werden.
Ich beginne mit einer Frage, die sich vielleicht nicht als erstes aufdrängt: Dass die Armee erfolgreich war, hat sicherlich sehr viel mit politischer Führung, mit Wolodymyr Selenskyj, zu tun. Vom ukrainischen Präsidenten kennen wir inzwischen viele Facetten. Einst hat er als Schauspieler einen Präsidenten gespielt hat - in der Serie „Diener des Volkes“. Wie hängt eigentlich beides zusammen, die Präsidentenrolle im Film und die bemerkenswerte Präsidenten-Werdung in der Kriegszeit?
KM: Ich habe vor kurzem einen Witz von einem ukrainischen Komiker gehört, der sagte: „Stellt euch ein Land vor, das angegriffen wird, und dessen Oberbefehlshaber ein Komiker ist“. Tja … aber es hat funktioniert. Ich kann mir nicht genau vorstellen, wie Selenskyj das militärische Management macht. Aber was unser Präsident auf jeden Fall leistet, ist die Kommunikation mit Gesellschaften und politischen Eliten auf der ganzen Welt. Er hat seine eigene Methode gefunden, über die Bildschirme auf den Plätzen überall in Europa die Menschen direkt anzusprechen. Das ist seine Art der Diplomatie, die ganz entscheidende politische Ergebnisse erzielt. Innenpolitisch hat es damals bei der Präsidentenwahl ähnlich funktioniert. Selenskyj hat die Wähler direkt angesprochen und viele konnten sich mit seiner Person identifizieren. Es ist ein Paradox, dass eine Person, die jemanden spielt, in einer politischen Funktion glaubwürdiger sein kann, als diejenigen, die eine professionelle politische Karriere absolviert haben, aber kein Vertrauen mehr genießen.
AP: Also ich glaube, Selenskyj hat sich als Politiker erst während des Krieges, genauer gesagt am 24. Februar 2022, gefunden oder erfunden. Vor dem Krieg hatte er immer Probleme, auch wegen der Spannungen zwischen dem Komiker und dem Präsident. Aber seit dem 24. Februar, seit seiner Entscheidung, in Kyiv zu bleiben, hat er wirklich eine eigene politische Rolle gefunden. Ich vermute allerdings, dass in der jetzigen Phase des Krieges die präsidiale Rolle Selenskyjs noch schwieriger ist, als zu Beginn des Krieges. Jetzt geht es hinter den Kulissen auch um Kompromisse, um diplomatische Spiele. Von diesen Dingen weiß die Öffentlichkeit sehr wenig. Erst später werden wir Historiker beurteilen können, ob er sie gut gespielt hat.
MSW: Sie haben beide betont, dass der ukrainische Präsident sich durch den Krieg verändert habe. Wie hat sich denn die ukrainische Gesellschaft seit dem Februar 2022 verändert? Im Westen wurde die Ukraine als eine geteilte Nation wahrgenommen, selbst noch nach der Annexion der Krim. Heute scheint sie - jedenfalls oberflächlich - eine geeinte Nation zu sein. Wie schätzen sie das ein?
KM: Das ist zu diesem Zeitpunkt wirklich schwierig zu sagen. Aber vielleicht hilft bei der Beantwortung dieser Frage noch einmal der Blick auf Selenskyj und das Agieren der militärischen Führung seit dem russischen Versuch eines Blitzkriegs. Es ist so wichtig zu verstehen, wie die ukrainische Armee kämpft. Es gibt da einen fast anarchistischen Ansatz, ein produktives Chaos, weil es in der Ukraine nie eine starke Machtvertikale gab, zumindest nie so stark wie in Russland. Das hat uns in diesem Krieg geholfen, denn viele Einheiten haben nicht auf Befehle von Oben gewartet, sondern sie haben eigenständig vor Ort agiert. Durch die fehlende Vertikale entstand plötzlich der Druck, selbst Entscheidungen treffen zu müssen und diese Entscheidungen dann auch zu verantworten. Das ist vielleicht auch etwas, was Selenskyj verkörpert: ein „Machen-lassen“. Timothy Snyder hat das als dekoloniale Praxis beschrieben.
MSW: Ich finde besonders interessant, was Sie am Anfang gesagt haben, nämlich die kontrastive Entwicklung von Ukraine und Russland, die wir ja im Übrigen auch im Vergleich von Selenskyj und Putin sehen. Selenskyj hat Putin plötzlich sehr alt aussehen lassen. Putin hat immer seine Maskulinität und Stärke betont, aber gegen Selenskyj sieht er einfach alt aus. Im militärischen Bereich gibt es ähnliche Kontraste, der Unterschied zwischen imperialen Befehlsstrukturen und dem nationalen Typus einer Armee. Spielen solche Typenbildungen, solche Abgrenzungen gegenüber Russland in der Konzeption des Eigenen, eine starke Rolle? Und wie hängt das mit der Frage von geteilter und geeinter Nation zusammen?
AP: Das spielt eine große Rolle, ich glaube auch für Selenskyj selbst. Er hat als Komiker sehr viele Filme in Russland oder mit russischen Kolleginnen und Kollegen gemacht. Das heißt, dass dieser Krieg für ihn die Geschichte einer Ablösung von seiner eigenen Vergangenheit ist, die auch russisch, auch sowjetisch geprägt war. Es ist nicht einfach, von diesem Gedanken aus den Schritt zur allgemeineren Frage nach den Veränderungen der ukrainischen oder der russischen Gesellschaft im Krieg zu machen. Dazu ist die Situation zu dynamisch und zu komplex. Ich denke auch, und nicht erst seit Beginn des Krieges, dass es zum Verständnis der ukrainischen Gesellschaft eine andere analytische Sprache braucht. Hier in Deutschland, eigentlich überall im Westen, benutzen wir sehr oft diese alten Begriffe oder Kategorien, um die Ukraine zu beschreiben, z.B. „gespaltenes Land“. Ist das wirklich hilfreich? Ich frage mich, wie man auf Deutsch, Englisch oder Französisch die ukrainische politische Mentalität besser beschreiben kann. Es stehen doch jene Ukrainer, die vornehmlich russisch sprechen, nicht alle auf der Seite Russlands und teilen dessen imperiale Ideologie. Historisch gesehen spielt die russische Sprache sogar für den ukrainischen Nationalismus eine wichtige Rolle.
Ich kann Beispiele erfolgreicher ukrainischer Politiker nennen, die ausschließlich russischsprachig sind - wie etwa Arsen Awakow, ehemaliger Minister, Reformer des Polizeiapparats und der inneren Systeme der Ukraine. Er beschrieb sich selbst als ein „russischsprachiger ukrainischer Nationalist.“ Er stammt aus dem grenznahen Gebiet um Charkiw, aus der Sloboda-Ukraine, und ergänzte später: „russischsprachig ist nicht genug, ich bin ein sloboschansko-sprachiger ukrainischer Nationalist.“ Was machen wir mit so einem? Ich frage meine Studierenden immer, ob es möglich wäre, in Deutschland einen Minister des Inneren zu haben, der kein Deutsch spricht – in unserem angeblich postnationalen Deutschland? Wohl eher nicht! Aber in der Ukraine, wo nur Ukrainisch als Staatssprache zugelassen ist, ist es möglich.
Sehr wichtig ist es auch, das Phänomen zu verstehen, das ich „situative Zweisprachigkeit“ nenne. Viele Menschen in der Ukraine beherrschen beide Sprachen und nutzen Russisch oder Ukrainisch abhängig vom jeweiligen sozialen Kontext. Das heißt, man muss den Kontext kennen, um zu verstehen, warum sich sogar Selenskyj in seinen Videoansprachen teilweise des Russischen bedient. Warum ist das so? Wenn wir darüber gründlich nachdenken und die Sprachenfrage besser beschreiben und tiefer analysieren, können wir hoffentlich am Ende die Ukraine als ganze Gesellschaft besser verstehen.
MSW: Das ist ein wichtiger Punkt! Es ist ja bekannt, dass viele Ukrainer Russisch sprechen - und nicht nur die russische ethnische Minderheit. Zugleich gibt es Sprachgesetze, die das Ukrainische nach vorne bringen sollen. Jetzt im Krieg ist Russisch die Sprache des Feindes, aber gleichzeitig ist es eine zweite Sprache. Was tut sich da?
KM: Was die Sprache anbetrifft, wissen wir noch nicht, wo wir letztendlich landen werden. Es gibt heute schon geflüchtete Menschen, die ursprünglich russischsprachig waren und die jetzt nicht mehr Russisch sprechen wollen. Für sie ist Russisch jetzt eine „Trigger-Sprache“ und sie wollen daher zum Ukrainischen wechseln, obwohl sie von niemandem dazu aufgefordert wurden.
Ich stimme Andrii Portnov zu, dass wir uns mit dem Konzept der „gespaltenen Gesellschaft“ auf schwierigem Terrain bewegen. Denn einerseits spricht man seit den Zeiten des Maidan immer wieder über die Spaltung, über die Zerrissenheit der Ukraine, so als wäre sie eine Rechtfertigung für Annexion und Intervention. Es habe, so sagen manche, auch Ukrainer gegeben, die für Janukowytsch waren und gegen die Revolution; deshalb sei der Krieg eigentlich ein Bürgerkrieg. Für mich ist überhaupt nicht klar, warum die Ukraine aus solchen Gründen ein gespaltenes Land sein soll. Warum gelten nicht andere Länder, deren Bevölkerung sich in Linke und Rechte teilt oder fundamental unterschiedliche Vorstellung vom Umgang mit der Covid-Pandemie hat, als gespalten? Warum gelten nur wir als gespalten und alle anderen als einig?
Natürlich gibt es in der Ukraine Individuen und Gruppen, die mit der Entwicklung des Landes seit dem Maidan nicht einverstanden sind und die sich politisch nicht ausreichend vertreten fühlen. Aber das heißt nicht, dass sie automatisch pro-russisch sind, wie vielfach behauptet wird. Das gilt auch für die Linke: Wenn du neoliberale Reformen in der Ukraine in Frage stellst, dann bist du ein Sozialist und wenn du ein Sozialist bist dann bist du aus Russland finanziert. Meinungsverschiedenheiten lassen sich nicht sprachlich abbilden.
AP: Wenn ich in Deutschland versuche, die ukrainische Komplexität zu beschreiben, sage ich oft, dass wir die „Spaltung“ auch Vielfalt oder Pluralismus nennen könnten - oder noch besser post-sowjetischen Pluralismus. Dieser Pluralismus hat ja historisch gesehen einen sowjetischen Kern oder sowjetische Wurzeln. Pluralismus und Spaltung sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Koexistenz und Konkurrenz der Sprachen ist ein Aspekt, ein anderer ist die Vielfalt der Konfessionen - in der Ukraine gibt es mindestens vier, fünf orthodoxe Kirchen, also nicht zwei, immer mehr als zwei! Das meine ich mit Pluralismus. In Belarus gibt es nur eine orthodoxe Kirche, auch in Russland gibt es nur eine.
Schulze Wessel: Abschließend noch die Frage: Wie beobachten sie die deutsche Politik und die deutsche Öffentlichkeit?
KM: Ich versuche eine diplomatische Antwort zu geben, in Form einer Geschichte: Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch herausgegeben. Es war ein Sammelband mit Texten und Werken von Josef Beuys, aber auch von ukrainischen Intellektuellen und Künstlern. In der Vorbereitung hatte ich eine Diskussion mit einer Übersetzerin, die meinte, Beuys sei reaktionär. Es gab einen Text von ihm, in dem er sagte, die deutsche Sprache sei ja nicht nur die Sprache der Nazis, sondern auch die Sprache der Philosophie und daher könne sie auch die Sprache der Befreiung sein. Ich denke, Beuys hat eine richtige Frage gestellt. Wir sind doch in gewisser Weise wieder in Konfigurationen des Zweiten Weltkriegs angekommen. Die Russen verhalten sich heute wie damals die Nazis. Während sie die Ukrainer als Faschisten beschimpfen, ist ihr eigenes Verhalten getragen von der Vorstellung der Ukraine als kolonialem Raum und von den Ukrainern als Untermenschen.
Ich glaube, dass Deutschland gerade in seiner solchen Konfiguratin, die so viel mit seiner eigenen Geschichte zu tun, das Konzept der Vergangenheitsbewältigung mit neuem Inhalt füllen müsste. Die deutsche Vergangenheit ist doch ein Aufruf zum Kampf gegen neue Faschismen. Der Krieg gegen die Ukraine birgt die Möglichkeit, dass Deutschland sich selbst überwindet, dass es andere Konsequenzen aus der Nazizeit zieht, als sich nur schuldig zu fühlen oder den Waffen für immer abzuschwören. Heute gibt es einen neuen schrecklichen Krieg, neue Täter, und sie müssen gestoppt werden. Das ist für Deutschland eine Chance zur Bewältigung seiner Vergangenheit, die jetzt in so schrecklichen Form aktualisiert wird.
AP: Als Historiker verstehe ich, warum die deutsche Reaktion auf den russischen Überfall so verspätet, so vorsichtig ist. Aber, ganz offen gesprochen, die meisten Menschen in der Ukraine verstehen das nicht.
Kateryna Mishchenko ist Schriftstellerin, Übersetzerin und Verlegerin aus Kyiv, wo sie den Verlag Medusa gründete. Sie ist derzeit Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin.
Andrii Portnov stammt aus Dnipro. Erist Professor für Entangled History of Ukraine an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder und Direktor von PRISMA UKRAЇNA am Forum Transregionale Studien Berlin. Er war im Jahr 2012/13 Fellow des Wissenschaftskollegs.
Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig Maximilian Universität München. Er ist Direktor des Collegium Carolinum, wo die Geschichte Tschechiens und der Slowakei erforscht wird, und Vorsitzender der Deutsch-Ukrainischen Historikerkommission.
Transkription von Vera Kempa