Als die Computer laufen lernten
Wolfgang Neudorfer, Leiter der IT-Administration und dienstältester Mitarbeiter des Kollegs, erinnert sich an die Anfänge der Digitalisierung
Als ich im Jahr 1984 meinen Dienst am Wissenschaftskolleg antrat, gab es dort exakt zwei Computer. Einer stand als „Schreibmaschine“ im Rektorat; ein zweiter war über eine Datenleitung mit dem nahegelegenen Konrad-Zuse-Rechenzentrum verbunden. Damals war ich 23 Jahre alt und stolzer Inhaber eines Vordiploms als Handelslehrer. Als ersten größeren Auftrag sollte ich für ein sozialwissenschaftliches Fellowprojekt Abfragen aus einem großen Umfrage-Datensatz tätigen. Weil die Datenleitung ins Rechenzentrum quälend langsam war, entschied ich mich, vor Ort nach den Daten zu sehen. Mich erwartete ein riesiges Hochhaus, das bis unters Dach mit der damals modernsten Computertechnik vollgestopft war: unzählige Magnetbandleser, Computerterminals, die mit Lochkarten kommunizierten, Wagenladungen von Ausdrucken auf gestapeltem Endlospapier. Zu dieser Zeit begrüßte den Nutzer beim Anschalten eines Rechners nichts als ein schwarzer Bildschirm mit einem erwartungsvoll blinkenden Cursor. Jemand drückte mir ein telefonbuchdickes Benutzerhandbuch zum Erlernen der Programmiersprache „fortran“ in die Hand. Es war der Beginn einer großen Liebe.
Zu dieser Zeit hatte in den USA der Siegeszug des sogenannten BITNET bereits begonnen. Auch in Deutschland fing man an, Rechner miteinander zu vernetzen. Das war nützlich, um Rechenkapazitäten zu teilen, aber auch, um Dateien und elektronische Post zu versenden. Das Wissenschaftskolleg legte sich als hochmoderne Forschungseinrichtung bald einen Rechner mit BITNET-Zugang zu. Erste Versuche mit dem brandneuen E-Mailing lieferten jedoch ernüchternde Ergebnisse: Selbst die Auslieferung einer elektronischen Botschaft an einen Büronachbarn brauchte einen ganzen Tag. Den Grund dafür fand ich bald heraus: Bis zur Wiedervereinigung war an die Verlegung eines Datenkabels von West-Berlin in den deutschen Hauptknotenpunkt des BITNET in Braunschweig nicht zu denken. Das Kabel hätte ja unter dem Staatsgebiet der DDR hindurchgeführt werden müssen! So wurden alle E-Mails aus Berlin an einer zentralen Stelle gesammelt, dort auf Datenbänder gespeichert und dann in einem VW-Käfer über die Transitstrecke nach Braunschweig gefahren. Da wurden sie verarbeitet, erneut auf Band gespeichert, über die Straße zurück nach Berlin spediert und erst dann dem Empfänger zugestellt. Zum Glück fuhr der Käfer zwei Mal am Tag, sonst hätte die Zustellung doppelt so lange gedauert.
1992 wurde bei einer Fortbildungsveranstaltung des Deutschen Forschungsnetzwerks eine Innovation namens „Worldwide Web“ präsentiert. Man zeigte uns freudlose, textlastige Seiten ohne relevanten Inhalt, die sich mit quälender Langsamkeit aufbauten. Ich war nach der Veranstaltung zu hundert Prozent überzeugt, dass diese Technologie keinerlei Zukunft haben würde. Dreißig Jahre später muss ich einräumen, dass ich die Sache wohl ein wenig unterschätzt habe. Wie sagen wir Informatiker gern, wenn es Schwierigkeiten mit Computern gibt: „Das Problem sitzt meist vor dem Bildschirm.“