Sag's durch die Maske!
Andreas Dorschel, Fellow 2020/2021, über das Wissenschaftskolleg in Coronazeiten
I
Gesicht
Allzu nah darf man einander nicht kommen. Und manchmal muss man zweimal hinschauen oder gar dreimal. Man merkt daran, wie viel dazu gehört, ein Gesicht zu erkennen. Wir erkennen einander mit den Augen und anerkennen uns dadurch, dass wir einander in die Augen schauen; aber wir erkennen einander nicht immer gleich an den Augen. Die Maske in Zeiten der Pandemie verdeckt nur Mund und Nase; bisher hatte man vielleicht geglaubt, diese seien für das Wiedererkennen eines Menschen unwichtig. Aber nichts ist unwichtig am Gesicht. Man konnte diese Erfahrung zuvor nur machen mit jemandem, den man bartlos kannte und der einem dann plötzlich mit ausgewachsenem Bart entgegentrat: Er war kaum wiederzuerkennen.
II
Blick
Maskierte tasten einander ab mit ihren Blicken, auf Anhaltspunkte an Kleidung, Haltung, Frisur, ja am Stil der Masken selbst. Sie spähen nach Zeichen des Wiedererkennens beim anderen. Erlernt wird so eine leicht veränderte Art des Erkennens. Stellt es sich ein, folgt der Gruß, gedämpft durch die Maske.
III
Augen
Die Coronamaske ist eine Halbmaske, aber auch die zahlreichen Masken der Tradition, die das Gesicht bedeckten, ließen die Augen frei – Maskierte mussten sehen, wie sie gesehen wurden. „To thee I do commend my watchful soul, / Ere I let fall the windows of mine eyes.“ (Shakespeare, King Richard III, 5.3.117) Vielleicht sind die Augen wirklich die Fenster der Seele. Aber sie sind es doch eher im Gesicht als ohne das Gesicht. Das Gesicht zeigt die Augen; die Maske hingegen, das Gesicht verdeckend, verfremdet sie.
IV
Fremd
Weniges gilt für alle Masken gleichermaßen: für die Masken des griechischen Theaters, die Masken des venezianischen Karnevals, die Gasmasken der Weltkriege, die mit all dem verglichen so bescheidenen Coronamasken; weniges, nur dies: Sie erinnern daran, wie fremd wir einander sind.
V
Frei
Mit der Maske in der Pandemie trat ein neuer Sozialcharakter zum Vorschein: der Maskengegner. Gemeint ist hier das generische Maskulinum; empirisch gesehen gehört dieser Sozialcharakter aber ohnehin vorwiegend dem männlichen Geschlecht an. Er sieht sich durch die Maske sichtbar des Rechts beraubt, andere zu infizieren. Die Zumutung, sie zu tragen, gilt ihm als Anschlag auf seine Freiheit. Zwischen dem großen Wort und dem kleinen Stück Stoff besteht ein Missverhältnis – und die emotionale Haltung, die zwischen beiden die Brücke schlägt, ist Wehleidigkeit. Dass so viel Emotion an dieser Stelle von jemandem aufgebracht werden kann, dem die Einfühlung in andere mangelt, ist bemerkenswert: denn die einfache Stoffmaske schützt eher die anderen als einen selber. Das Wort „Freiheit“, das der Maskengegner vor sich herträgt, erweist sich selber als Maske: die seines Egoismus. Der neue Sozialcharakter ist ein alter.
VI
Trump
In den selben Wochen, in denen wir Fellows des Jahrgangs 2020/21 auf den Straßen Berlins namenlose Maskengegner sehen konnten, zeigte sich auf den Bildschirmen der namhafte Maskengegner. Bei seiner Rückkehr ins Weiße Haus nahm Donald Trump die Maske herunter. Er hasste und hasst sie, weil sie daran erinnert, dass auch er verletzlich ist, sterblich wie all die anderen. Wie all die anderen kann er nicht sein. Die Maske aus Stoff nahm er herunter – nicht aber die Maske, die sein Gesicht ist.
VII
Begegnen
Der Untertitel eines deutschen Buchs über Diskotheken in den 1980er Jahren lautete: „Die Kunst, Kontakte zu verkaufen“. Ein Buch über das Wissenschaftskolleg zu Berlin könnte heißen: „Die Kunst, Begegnungen zu verschenken“. Und Begegnungen verändern sich zweifellos, wenn sie über kontrolliert eingehaltene Meterdistanzen und maskiert stattfinden. Nicht zu ihrem Vorteil. Dies auszusprechen, kann in der Gegenwart bereits wehleidig klingen. Zum Leiden gibt diese Textilie nicht wirklich Anlass; aber ein unbefangenes Aufeinandertreffen macht sie schwerer.
VIII
Lächeln
Zu den Nachteilen des Maskiertseins im Jahr 2020, auch in den Fluren der Wallotstraße 19 oder den Bibliotheksräumen der Weißen Villa, zählt das Verschwinden des Lächelns – dieser Freundlichkeit, die vor, jenseits und über der eines vielleicht unverstanden bleibenden freundlichen deutschen Satzes oder der eines ungeschickt formulierten und schlecht ausgesprochenen, nett gemeinten englischen Satzes an diesem internationalen Ort steht. Sicher, Letztere wird jeder leicht verzeihen im Grunewald. Aber ein Lächeln braucht man nie zu verzeihen, man nimmt es nur an. Nichts kann es ersetzen. Es gibt Stoffmasken, auf die ein Lächeln aufgedruckt ist. Sie gleichen den unsäglichen Emojis, darum taugen sie nichts. Zur Anmut bringt es das Lächeln nicht, wenn es fertig vorhanden ist, sondern nur, wenn es im Moment entsteht.