Editorial
Das Wissenschaftskolleg wird 40 Jahre alt. Runde Geburtstage sind bekanntlich Anlass zu Rückschau und Bilanz. Ist das Kolleg jung geblieben? Gut oder schlecht gealtert? Mit der Zeit gegangen? Für diesen Jubiläums-Newsletter haben wir ein bisschen im Archiv gestöbert und zwei Zeitzeugen befragt: die Wissenschaftssoziologin Helga Nowotny, Fellow des allerersten Jahrgangs 1981/82, und Wolfgang Neudorfer, den dienstältesten Wiko-ianer und IT-Fachmann.
Was hat sich verändert? Ein SPIEGEL-Artikel mokierte sich in der Gründungszeit über den akademischen Heldenkult und die elitäre Abgeschiedenheit im Grunewald, kritisierte die Selbst-Sakralisierung der Geistesheroen und schrieb maliziös, das neugegründete Kolleg solle „der geteilten Stadt mit dem Abriß-Image einen Hauch von wissenschaftlichem Aufwind zufächeln“. 2021 ist die Lage eine andere. Berlin ist keine geteilte Stadt mehr und hat auch keinen wissenschaftlichen Aufwind mehr nötig. Zwischen 1981 und 2021 liegt nicht nur die deutsche Wiedervereinigung, sondern auch die Digitalisierung der Welt. Auf die alltagspraktischen Folgen beider Revolutionen werfen die Erinnerungen von Wolfgang Neudorfer ein hübsches Schlaglicht: Es gab Zeiten, als die E-Mails aus dem Kolleg noch auf Datenbändern sicher verstaut mit dem Auto durch die DDR nach Westdeutschland transportiert werden mussten. Mehrere Sekretärinnen waren damals im Kolleg damit beschäftigt, die Manuskripte der Fellows abzutippen. Im Unterschied zu den Sekretärinnen waren die Fellows, die damals offiziell noch „wissenschaftliche Mitglieder“ genannt wurden, in ihrer überwiegenden Mehrheit männlich. Diversität war zwar schon 1981 ausdrücklich erwünscht, aber vor allem im Hinblick auf die Herkunft der Fellows. Die disziplinäre Vielfalt war dagegen noch überschaubar. In der ersten Kohorte gab es keinen einzigen Naturwissenschaftler; im Jahrgang 2018/19 stellten sie knapp die Hälfte. Das Geschlechterverhältnis war 1981 noch gar kein Thema. Helga Nowotny war 1981/82 eine von insgesamt zwei Frauen – der Jahrgang 2020/21 hat erstmals mehr weibliche als männliche Fellows.
Liest man das Gutachten des Wissenschaftsrats über das frisch eingerichtete Kolleg, dann fällt aber vor allem die institutionelle Kontinuität ins Auge. In dem Gutachten heißt es, das Kolleg beziehe seine Legitimität daraus, „den einzelnen Forscher in seiner wissenschaftlichen Arbeit und Entwicklung zu fördern“, die Möglichkeit zu bieten, „Forschungsvorhaben ohne Belastung durch Lehre oder Verwaltungsarbeit und ohne Bindung an Institutszwecke durchzuführen und dabei […] Anregung aus anderen Gebieten zu empfangen“, und zwar „über die Disziplinen hinweg in zwangloser längerfristiger Kommunikation“. An dieser Konzeption hat sich nichts geändert. Die Disziplingrenzen zu überschreiten ist nach wie vor ein herausforderndes Ziel. Die Zwanglosigkeit der Kommunikation hat dagegen offenbar zugenommen. 1981 tafelte man noch an einem langen Tisch unter dem Vorsitz des Rektors, der das Wort erteilte. Der schriftliche Vorschlag von Nicolaus Sombart (Fellow 1982/83), den Mahlzeiten noch mehr zeremonielle Würde und vor allem mehr Wein zu verleihen, fiel nur teilweise auf fruchtbaren Boden. Die von ihm diagnostizierte „gefährliche Tendenz, daß jeder viel zu schnell mit seinem Tablett fertig ist und den Tisch vorzeitig verläßt“, hat sich erfreulicherweise trotzdem nicht durchgesetzt.
Die Dienstleistungen für die Fellows sind nach und nach veränderten Bedürfnissen angepasst worden. Die Bibliothek kommt nicht mehr ohne enge Kooperation mit der IT-Abteilung aus, die es 1981 noch gar nicht gab. Aber noch immer genießen die Fellows den Luxus, dass ihnen die Bücherschätze aller Berliner Bibliotheken zur Verfügung stehen, und zwar nicht nur virtuell, sondern materiell. Das soll auch in Zukunft so bleiben – auch wenn der Abschied von Sonja Grund, die die Leitung der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek in Kiel übernimmt, für uns alle schmerzlich ist.
Soweit zu Kontinuität und allmählichem Wandel. Das Kolleg verleugnet sein Alter nicht, aber scheut auch keineswegs die Konkurrenz mit den vielen jugendlichen IAS um sich herum. Doch dann kam Corona. Die Pandemie gefährdete den Kern dessen, was das Kolleg ausmacht: internationale Mobilität, feste Jahrgangsgruppen und alltäglicher persönlicher Austausch. Auch das Fellowclub-Treffen 2020 ist (vorerst) der Seuche zum Opfer gefallen und das Treffen 2021 wird nur in reduzierter Form möglich sein. Die Masken, deren Wirkungen Andreas Dorschel (Fellow 2020/21) beschreibt, waren noch das geringste Übel. Der Verlust all dessen, was an gemeinsame physische Anwesenheit gebunden ist, veränderte den Alltag drastisch. Die Fellowgruppe 2019/20 traf es im letzten Drittel ihres Kollegjahres, als sie schon so weit zusammengewachsen war, dass ihre Solidarität durch die Beschränkungen eher noch gesteigert wurde. Die Fellowgruppe 2020/21 trat dagegen von vornherein unter Pandemiebedingungen an und war deshalb viel härter betroffen. Umso bemerkenswerter ist, dass (fast) alle Eingeladenen trotzdem in den Grunewald kamen und aus der stillen Einkehr in ihren Arbeitszimmern das Beste machten.
Doch wenn Kolloquien, Gesprächskonzerte, Diskussionsrunden, Berliner Abende, Beiratssitzungen auch digital stattfinden können – wird das Kolleg als Ort der Begegnung dann nicht am Ende überflüssig? Nein, ganz im Gegenteil. Die Pandemie hat gelehrt, dass es „ein virtuelles Wissenschaftskolleg nicht geben kann“ (Helga Nowotny). Auch wenn sich der Wandel in der Umwelt des Kollegs in den nächsten vierzig Jahren weiter beschleunigen wird, so ist doch Optimismus angezeigt, was den Kern der Kollegphilosophie angeht. Denn wer monatelang nur virtuelle Sitzungen ohne gegenseitigen Augenkontakt, ohne informelle Kaffeepausengespräche und ohne gelegentlich anarchisches Durcheinanderreden erlebt hat, dem ist nur umso deutlicher geworden, dass gemeinsame physische Präsenz unersetzlich ist.
Ihre
Barbara Stollberg-Rilinger
Rektorin des Wissenschaftskollegs