Editorial
Im Jahr 1348 kommt die Pest nach Florenz und versetzt die Stadt, „die vor allen anderen in Italien schön ist“, in einen „allgemeinen Schrecken“. Die Folgen sind verheerend: 100.000 Todesfälle sind zu beklagen. Die Seuche bringt das Stadtleben zum Erliegen, löscht ganze Familien aus und führt zu Gottlosigkeit, Eigensucht und zum Niedergang der Sitten. So beschreibt Giovanni Boccaccio in seinem Decamerone die pandemische Situation, wobei er es an grausigen medizinischen Details nicht fehlen lässt.
Auch wenn das Wissenschaftskolleg weder von „allgemeinem Schrecken“ noch gar von einem Niedergang der Sitten erfasst wurde, hat die aktuelle Covid-Pandemie seine Arbeit vor große Herausforderungen gestellt – und zwar in dreifacher Hinsicht: Erstens hat sie internationale Mobilität deutlich erschwert, zweitens hat sie den persönlichen Austausch unter Anwesenden empfindlich eingeschränkt, und drittens hat sie zwar bestimmten Spielarten der Wissenschaft – vor allem der angewandten epidemiologischen und medizinischen Forschung – enorme Bedeutung verschafft, aber auf den ersten Blick nicht jenem Modell individueller Grundlagenforschung in völliger Freiheit, ohne Zeitdruck und ohne Vernutzungszwänge, für das das Kolleg steht.
Während ansteckende Krankheiten mühelos Grenzen überwinden und „ohne anzuhalten, von Ort zu Ort sich verbreitend, jammerbringend“ auf alle Kontinente vordringen, blockiert die Pandemie die menschliche Fortbewegung in ungekanntem Ausmaß. Geschlossene Grenzen, verschärfte Visaregeln und unregelmäßiger Flugverkehr haben die An- und Abreisen der Fellows nach und von Berlin massiv erschwert. Die Fellowdienste müssen seit März 2020 erhebliche Kräfte, Know-how und Beziehungen mobilisieren, um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt nach Berlin zu bringen. Bislang ist das fast immer gelungen, wenn auch manche Fellows mit Verspätung kommen und andere enorme bürokratische oder logistische Zumutungen ertragen müssen. Nur Einzelne schrecken vor dem Risiko eines Auslandsaufenthalts zurück oder brechen ihre Fellowship früher ab. So ist die 1981 begonnene Serie der jährlichen Fellowkohorten nicht unterbrochen worden, und sogar die ersten Iso Lomso Fellows können aus ihren afrikanischen Heimatländern nach Berlin kommen. Was sonst eine Selbstverständlichkeit ist, wird in der Pandemie, in der viele Institutes for Advanced Study in der Welt ihre Pforten schließen oder nur mit „digitalen Fellowships“ operieren, zu einer Erfolgsmeldung.
Im Decamerone entscheiden sich zehn tugendhafte junge Menschen, aus einer verseuchten Stadt zu fliehen und sich auf einem Landgut in Sicherheit zu bringen. Zwei Wochen verbringen sie zurückgezogen in Quarantäne und vertreiben sich die Zeit, indem sie sich an zehn Tagen gegenseitig je zehn Geschichten erzählen. Ähnlich machte es auch der Wiko-Jahrgang 2019/2020 in seinem Domizil vor den Toren Berlins, als im März 2020 der erste Lockdown über Berlin verhängt und ein „Notbetrieb“ für das Wissenschaftskolleg ausgerufen wurde. Sämtliche wissenschaftlichen Aktivitäten und auch die Sprachkurse fanden nur noch im Netz statt, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten vornehmlich von zu Hause, sämtliche Besuche auf dem Campus wurden abgesagt, das Restaurant zum Lieferservice umgerüstet. Dem Bibliotheksteam gelang es trotz geschlossener Bibliotheken, die Fellows mit digitaler Literatur zu versorgen. Zum Glück kannten sich die Fellows schon gut, bevor sie sich zum ersten Mal auf den Kacheln von Zoom sahen. So konnten Debatten und Beziehungen fortgesetzt und neue begonnen werden. Unser Veranstaltungsspezialist Frank Nörenberg, der sich in rasender Geschwindigkeit vom Tontechniker zum Allround-Videokünstler entwickelte, und die Kolleginnen und Kollegen von der IT und der Öffentlichkeitsarbeit haben im Lauf der Pandemie immer neue Formate auf die Beine gestellt – von komplexen hybriden Formaten über immer professionellere Videoaufnahmen bis hin zum Live-Streaming. Die ersten lebhaft diskutierten Vortragsreihen von Fellows über aktuelle Themen hießen, wen wird es wundern, Decamerone Series und Thinking the Virus.
Mit dem Ende des „Notbetriebs“ begann die Zeit unentwegt wechselnder „Hygienekonzepte“, die vor allem dank Petria Salehs unermüdlichem Wirken an immer neue Rahmenbedingungen angepasst wurden. In allen Abteilungen waren ein Maximum an Kreativität und immer neue Lösungen für immer neue Probleme gefragt. So finden die monatlichen Auswahlsitzungen nun digital statt, sodass auch die non-resident Permanent Fellows regelmäßig teilnehmen können. Die erste Beiratssitzung der Pandemie fiel aus, die zweite wurde erst verschoben und dann auf eine digitale Kurzversion reduziert, die sich jedoch in der Realität als langwierig erwies. Die dritte wurde – in leicht reduzierter Runde und unter 2G-Bedingungen – doch wieder in Präsenz abgehalten. In den Zeiten, in denen das Restaurant vorsichtig wieder öffnen kann, wird es zu einem sich ständig verändernden Experimentierfeld: Fellows bekommen eine Uhrzeit zum Abholen ihres hübsch gedeckten Tabletts zugewiesen. Sitzplätze werden 1,50 m voneinander entfernt gedeckt. Zwischenzeitlich wird der Große Kolloquiumsraum zum Speisesaal. Terrasse und Garten werden zum Freiluftrestaurant, wo oft mit dicken Mänteln und Fleecedecken gespeist wird. Überhaupt wird der Garten – wie auch auf dem von Boccaccio beschriebenen Landsitz bei Florenz – zum wichtigsten Ort menschlicher und wissenschaftlicher Begegnung. Vielleicht ist nirgendwo sonst so erbittert – und manchmal bis zum Gefrierpunkt – um die Kollegidee des persönlichen Austauschs gerungen worden wie dort.
Fälle von Covid-Kontakten und -Infektionen bleiben nicht aus, und so müssen immer wieder Quarantänezimmer zur Verfügung gestellt und Fellows dort rundum versorgt werden. Katharina Wiedemann hat ein elegantes Accessoire kreiert: die Wiko-Gesichtsmaske aus Stoff, die nach der Einführung der FFP2-Maskenpflicht zu einem Sammlerstück wird. Der Empfang verwandelt sich in eine Teststation. Hausarzt Dr. Kowalski verpasst so manchem Fellow ein bis drei Impfspritzen. Das Rektorat organisiert Impfkampagnen für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Eltern unter den Fellows müssen sich als Hilfslehrer versuchen und die Kinder müssen ausprobieren, ob sich der Wiko-Campus auch als Spielplatz eignet. Im Frühsommer 2020 tauft der Fellow und Priester Felix Körner auf der Terrasse des Hauptgebäudes sogar ein Fellowbaby.
Oft ist der nahe gelegene Grunewald die letzte Zuflucht für Geselligkeit. Spaziergänge bieten Gelegenheit zum Begegnen und Reden. Aber im Wald wird auch gewalkt, allein und in Gruppen gejoggt und Natur beobachtet. Georges Khalil erfindet angesichts solcher Praktiken den „Walk-Shop“, und die Künstlerin Reetu Sattar aus Bangladesh entwirft ein Performanceprojekt über Waldspaziergänge als essenzielle Lebens- und Selbsterfahrung.
Wissenschaft ist in der Pandemie überlebenswichtig, und Forscherinnen und Forscher spielen in Politik und Öffentlichkeit eine nie gekannte Rolle. Einige der aktuellen und ehemaligen Fellows sind zu jenem Kreis von Experten zu rechnen, die helfen, die Welt durch die Pandemie zu steuern. Dazu gehört der Bochumer Rechtswissenschaftler Stefan Huster (Fellow 2010/2011), der unlängst zum Vorsitzenden der Bundeskommission zur Evaluation des Infektionsschutzgesetzes ernannt wurde – Sie können ein Interview mit ihm in dieser Ausgabe lesen. In den USA gehörte die Epidemologin Alison Galvani (Fellow 2006/2007), Mitglied am Yale Center for Infectious Disease Modeling and Analysis, zu den häufig konsultierten Fachleuten. Im aktuellen Fellowjahr sind mit Sanyu A. Mojola und C. Jessica E. Metcalf zwei führende Pandemie-Expertinnen aus Princeton am Kolleg; hier können Sie ihr gemeinsames Abendkolloquium anschauen. Auch andere aktuelle und ehemalige Fellows – Christoph Möllers, Oliver Lepsius, Holger Spamann, Dieter Grimm, Karin Mölling, David Stark, Elena Esposito und Dirk Helbing – meldeten sich öffentlich zu Wort.
Im Decamerone endet die florentinische Pestwelle nach zehn mal zehn Novellen. Panfilo, der König des zehnten Tages, schlägt der Gruppe die Rückreise nach Florenz vor und zieht ein positives Fazit: „Denn, habe ich recht zu beobachten gewusst, so ist trotz all der lustigen und vielleicht die Sinnenlust anregenden Geschichten, trotz unseres beständigen guten Essens und Trinkens, trotz Spielens und Singens – welches doch alles Dinge sind, die schwache Gemüter vielleicht zu minder ehrbaren Betragen verlocken könnten – doch keine Gebärde, kein Wort, keine Handlung, weder von eurer noch von unserer Seite vorgekommen, die zu tadeln wären. Vielmehr schien alles, was ich sah und hörte, mir nur von stetem Anstande, steter Eintracht und brüderlicher Vertraulichkeit zu zeugen.“
Auch die letzten drei Fellowkohorten haben sich unter teils ungünstigen Umständen ganz tadellos verhalten. Doch die Pandemie des 21. Jahrhunderts wird nicht so rasch vorübergehen. Die vielfältigen Veränderungen, die sie auslöst, werden die Welt verändern und das Kolleg wird seine Rolle neu justieren müssen. Niemand kann wissen, wie die postpandemische Welt aussehen wird, doch es steht zu befürchten, dass die Vision eines durch Mobilität und Zirkulation vernetzten Globus gescheitert sein könnte. Absehbar ist auch, dass die digitale Kommunikation ihren Siegeszug über den Austausch unter Anwesenden fortsetzen wird. Beides könnte man als Infragestellung der Prinzipien des Wissenschaftskollegs sehen – oder eben als eine Bestätigung seiner Gründungsidee! Das Kolleg war von vornherein als Ausnahme vom Wissenschaftsbetrieb konzipiert und könnte es in der Zukunft noch emphatischer sein. Als Ort der Begegnungen zwischen weit voneinander entfernten Wissenschaftskulturen, als Insel der Begegnung zwischen kreativen Menschen und auch als Raum für eine keineswegs überholte Vorstellung von Wissenschaft, die nicht nur unter Hochdruck zur Lösung der jeweils drängendsten Probleme ihrer Zeit beiträgt, sondern die auch mit Abstand und in Ruhe jene Probleme erkennt, von denen die Welt noch nicht einmal ahnt, dass sie sie hat. Gerade dies könnte sich für zukünftige Krisen als überlebenswichtig erweisen.
Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin des Wissenschaftskollegs, und Daniel Schönpflug, Leiter der akademischen Programme