Politik, Recht und Wissenschaft in Zeiten der Pandemie
Ein Gespräch mit Stefan Huster, Professor für Öffentliches Recht, Sozial- und Gesundheitsrecht und Rechtsphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum, Vorsitzender der Evaluationskommission zum Infektionsschutzgesetz und Fellow im Jahr 2010/2011
Daniel Schönpflug: Im Jahr 2010/2011 waren Sie Fellow am Wissenschaftskolleg und haben sich mit Gerechtigkeit und Freiheit in der Gesundheitsversorgung beschäftigt. In Ihrem Jahresbericht schrieben Sie damals, das Wissenschaftskolleg sei „eine äußerst liberale Einrichtung. Selbstverständlich wird niemand gezwungen oder auch nur genötigt, gesund zu leben – es wird ihm nur leicht gemacht, von der Selbständigkeit der Tätigkeit über die freie Zeiteinteilung bis zur ausgewogenen Ernährung (nur die Desserts der vorzüglichen Küche kommen der Körperverletzung gefährlich nahe). Der Wein beim wöchentlichen Abendessen ist noch keinem Gesundheitsterror zum Opfer gefallen, und selbst Aschenbecher finden sich hier und dort. Damit hat das Wissenschaftskolleg – unter gewiss sehr günstigen Bedingungen – eine Balance geschafft, die die Gesellschaft noch sucht: Wie können wir unsere Gesundheit fördern oder erhalten, ohne in einem paternalistischen und freudlosen ‚healthism‘ zu ersticken?" Dazu zum Einstieg die Frage: Wie beurteilen Sie es, dass die Leitung des Kollegs vor einiger Zeit auf Wunsch der Fellows entschieden hat, das Rauchen in seinen Räumlichkeiten zu verbieten?
Stefan Huster: Ich erinnere mich, dass ich mich damals schon ein wenig gewundert habe, dass bei Veranstaltungen zu später Stunde Zigarettenrauch durch die Clubräume zog. Ich kann nachvollziehen, dass damit irgendwann Schluss gemacht wurde. Ich finde ohnehin, dass in Deutschland über das Rauchen eine etwas heuchlerische Diskussion geführt wird. In den juristischen Debatten wird immer gesagt, dass es nicht um den Schutz des Einzelnen vor sich selbst gehe. Der einzelne Raucher könne angeblich qualmen, so viel er will, Ziel sei immer nur der Schutz der Nichtraucher. Wenn man dann aber schaut, was Institutionen wie das Deutsche Krebsforschungszentrum als Erfolgsmeldung verkünden, dann wird klar, dass es in Wirklichkeit um die Reduzierung der Anzahl der Raucher geht. Wir tragen also die Grundsätze einer freiheitlichen Gesellschaft vor uns her, aber tatsächlich möchten wir doch das Verhalten von Individuen verändern. Ganz abgesehen davon, dass es natürlich eine Illusion ist, dass die Entscheidung über Rauchen oder Nichtrauchen eine ganz freie und autonome ist. Das sage ich als jemand, der lange geraucht und vor zwei Jahren damit aufgehört hat. Angesichts der erheblichen Abhängigkeit, die Zigaretten erzeugen können, finde ich einen gewissen Paternalismus durchaus diskussionswürdig.
DS: Die Frage, die sich hier im Kleinen stellt, wirft die aktuelle Pandemie im ganz großen Maßstab und mit schmerzlicher Dringlichkeit auf: Wer trägt die Verantwortung für die Volksgesundheit? Regierung und Staat, die einzelnen Bürger, die Ärzte und Krankenhäuser, die Gesellschaft als politische und solidarische Gemeinschaft?
SH: Das Erstaunliche ist ja, dass eine Pandemie aus der Perspektive der Public-Health-Forschung eigentlich ein uraltes Problem ist. Mit übertragbaren Krankheiten hatte die Menschheit ja seit Angedenken zu tun und wir dachten, dass wir die längst im Griff haben. Die Bedrohung durch Pocken oder Malaria schien der Vergangenheit anzugehören beziehungsweise ein Problem der Dritten Welt zu sein. Bis zum Ausbruch von Covid-19 dachten wir, dass wir uns dringend neuen Problemkreisen zuwenden müssten, die man mit dem Begriff der „New Public Health“ beschrieben hat. Das Interesse richtete sich auf die Wirkung von Lebensumständen und sozialen Determinanten auf die Gesundheit – und auch auf Alternativen zum staatlichen Paternalismus. Ich erinnere mich aber, dass vor einigen Jahren eine sehr gute juristische Dissertation erschien, die sich mit dem Zustand des deutschen Infektionsschutzrechts beschäftigte und die zu dem Schluss kam, dass man in Deutschland zwar durchaus darauf vorbereitet ist, Masernausbrüche in Kindergärten in den Griff zu bekommen, aber keinesfalls auf eine Epidemie oder Pandemie. Diese Einschätzung hat sich leider als richtig erwiesen. Wir merken seit 2020, dass die Systeme schlecht abgestimmt und dass auch die Rechtgrundlagen nicht klar genug sind. Zu den Problemen gehört insbesondere, dass die Verantwortlichkeiten für den Erhalt der Gesundheit in einer pandemischen Lage nicht eindeutig verteilt sind. Das hat dann dazu beigetragen, dass sich die Parlamente, als die Pandemie ausbrach, weggeduckt und das Feld weitgehend der Exekutive überlassen haben. Niemand hat den Parlamenten aktiv Entscheidungsbefugnisse weggenommen, sondern sie haben sie freiwillig abgegeben, weil sie die Verantwortung scheuten. Insofern gibt es auf Ihre Frage nach der Verantwortung keine eindeutige Antwort. Das war in normalen Zeiten auch kein Problem, denn es war immer genug Zeit, um die bereits angesprochene Balance immer wieder neu auszuhandeln und herzustellen. Aber die unklare Verantwortung wurde sehr schnell zu einem überaus drängenden Problem, als sich ab dem März 2020 die Intensivstationen zu füllen begannen.
DS: Das führt zu der Frage, wie gut Deutschland rechtlich auf eine solche Krise vorbereitet war. Im Grundgesetz gibt es Regelungen zum „Notstand“, die in den 1950er- und 1960er-Jahren nachträglich eingeflickt worden sind. Aber unter den verschiedenen Szenarien, die hier geregelt werden, kommt eine sich über viele Jahre hinziehende Seuche nicht vor.
SH: Das ist richtig. Der „Gesundheitsnotstand“ ist in der Verfassung nicht geregelt. Weil dem so ist, hatte sich der Bundestag so eine Art kleinen Ausnahmezustand zusammengebastelt: die „epidemische Lage nationaler Tragweite“ entsprechend dem § 5 des Infektionsschutzgesetzes. Das bedeutete sehr weitgehende Kompetenzübertragung vom Parlament auf die Exekutive – konkret zum Beispiel auf das Bundesministerium für Gesundheit, das jetzt an geltenden Gesetzen vorbei Sonderregelungen erlassen konnte. In der Praxis ist der Gesundheitsminister bei der Nutzung dieser neuen Kompetenzen weit hinter den gesetzlichen Möglichkeiten zurückgeblieben. Dennoch ist der § 5 ein klarer Bruch mit unseren gängigen Vorstellungen von juristischer Normenhierarchie. Ich interpretiere diesen Schritt als eine Panikreaktion. Es schlug die berühmte „Stunde der Exekutive“, alles musste schnell gehen, die Möglichkeit zum „Durchregieren“ möglichst schnell geschaffen werden. Rückwirkend kann man durchaus zweifeln, ob das wirklich nötig gewesen wäre. Aber das Problem war, wie bereits angesprochen, dass Deutschland am Anfang der Pandemie mit einem Infektionsschutzgesetz dastand, das in keiner Weise geeignet war, auf die drängenden Probleme zu reagieren. Hier waren weder Abstandsregeln noch Testregime noch Schulschließungen noch gar weiträumigere „Lockdowns“ auch nur erwähnt. Insofern stand man normativ völlig blank da; und die Befürchtung war, dass es viel zu lange dauern würde, sich erst einmal auf eine Gesetzesänderung zu einigen.
DS: Als Bürger hatte man in der Folge den Eindruck, dass die wirkliche Handlungs- und Entscheidungsmacht in den Händen der Länderregierungen lag, denen das Infektionsschutzgesetz eigentlich nur den Vollzug von Maßnahmen zugedacht hatte. Ist dieser Eindruck richtig? Und wenn ja, könnten die Länderparlamente nicht eine größere Rolle als Gegengewicht zu den Ministerpräsidenten spielen?
SH: Zum Teil erklärt sich das einfach durch unsere föderale Struktur. Dass Bundesgesetze durch die Länderexekutiven vollzogen werden, ist ja der Regelfall. Da haben die Länderparlamente zunächst einmal keine Mitsprache. Inzwischen gibt es aber doch in fast allen Bundesländern Versuche, die Rolle der Parlamente zu stärken. Das hat sehr unterschiedliche Formen angenommen. In vielen Ländern sind etwa die Informationsrechte des Parlaments gegenüber der Regierung gestärkt worden. In anderen sind die Corona-Schutzverordnungen mit Vetomöglichkeiten versehen worden, sodass die Parlamente sich dort im Vor- oder im Nachhinein gegen bestimmte Regelungen sperren können. In Nordrhein-Westfalen beschließt das Parlament sogenannte „pandemische Leitlinien“, die zumindest einen groben Rahmen für das Regierungshandeln vorgeben sollen – verbindlich ist das wohl am Ende nicht. Im Bayerischen Landtag stellt man derzeit ähnliche Überlegungen an. Man sieht also, dass sich die Legislative durchaus zurückmeldet. So wie auch auf Bundesebene, wo die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ ja mit dem 25. November 2021 ausgelaufen ist.
DS: Was Sie sagen, klingt nicht so, als würden Sie sich eine Stärkung der Zentralgewalt auf Bundesebene wünschen. Wie in Frankreich, wo der Präsident vom Élysée-Palast aus die Strände in der Bretagne sperren kann …
SH: Man muss hier zwei Dinge unterscheiden: Zum einen muss man feststellen, dass es bis heute keine einheitlichen Maßstäbe für den Infektionsschutz in Deutschland gibt. Aber man sollte doch anordnen können, dass ab einer bestimmten Inzidenz in einer Region auch bestimmte Maßnahmen gelten sollten. Das gab es ja bei der sogenannten „Bundesnotbremse“, aber die ist schon lange wieder ausgelaufen. Seitdem gibt es eigentlich keine bundeseinheitlichen Vorgaben, welche Maßnahmen unter welchen Umständen ergriffen werden müssen. Das scheint mir ein Problem zu sein, weil die Länder auf ähnliche Situationen unterschiedlich reagieren. Es vermindert die Akzeptanz von Maßnahmen, wenn bei derselben Inzidenz die Geschäfte in Sachsen geöffnet, aber in Sachsen-Anhalt geschlossen sind. Zum anderen wäre es aber auch Unsinn zu verlangen, dass alle Bundesländer die gleichen Maßnahmen ergreifen müssen, unabhängig von der jeweiligen Lage. Warum soll man in Schleswig-Holstein Geschäfte schließen, nur weil in Sachsen die Inzidenz hoch ist? Die Alternative kann eben nicht sein, entweder macht jeder das, was er will, oder alle machen das Gleiche. Das Entscheidende ist für mich ist nicht eine starke Zentralgewalt in Berlin, sondern bundeseinheitliche Maßstäbe, die je nach Landeskontext differenziert umgesetzt werden.
DS: Ich möchte auf eine der meistdiskutierten Rechtsfragen der Pandemie zu sprechen kommen: auf die Einschränkung von Freiheiten. Wenn ich es richtig sehe, ist in den Notstandsregeln der Verfassung eine Beschneidung der Grundrechte nicht vorgesehen.
SH: Das ist richtig, aber in der rechtswissenschaftlichen Literatur wird inzwischen durchaus darüber diskutiert, ob nicht ein „kleiner Ausnahmezustand“ auch in der Verfassung eingeführt werden sollte. Ich habe dafür eine gewisse Sympathie, weil das deutlich machen würde, dass in einem definierten und endlichen Zeitraum andere Maßstäbe gelten als sonst. Das würde vielleicht die weitverbreitete Befürchtung lindern, dass sich in einer „epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ Einschränkungen von Grundrechten sozusagen einschleichen, die dann nicht mehr rückgängig gemacht werden, wenn die Pandemie beendet ist. Wenn man aber klar sagt, jetzt ist Ausnahmezustand, dann ist sicher, dass und wann der endet und wann man wieder zu den ursprünglichen Rechten zurückkehrt.
DS: Unter den Prämissen der „epidemischen Lage nationaler Tragweite“ sind aber verschiedene Grundrechte eingeschränkt worden. Mit welcher juristischen Konstruktion ist das überhaupt möglich?
SH: Dass Grundrechte durch Gesetzgebung eingeschränkt werden, ist ja zunächst mal nicht spezifisch für die Pandemie. In vielen Gesetzen wird der Freiheitsgebrauch reguliert – denken Sie an ganz triviale Dinge wie eine Geschwindigkeitsbeschränkung für Kraftfahrzeuge oder Hygieneregeln am Arbeitsplatz. In der Pandemie gibt es nun aber flächendeckend besonders intensive Freiheitseingriffe, die zudem noch vielfach auf die Entscheidungen einer der Parlamentskontrolle entbundenen Exekutive zurückgehen. Auch wenn das Verfassungsgericht seine Rolle als letzte Kontrollinstanz wahrgenommen hat, hatte man phasenweise den Eindruck, dass von einigen Grundrechten gar nicht mehr viel übrig ist. Wenn von intensiv geschützten Rechten wie dem zur freien Religionsausübung oder zur politischen Versammlung nicht mehr Gebrauch gemacht werden kann, ist das schon sehr gravierend. Da wäre es schon gut, wenn man – und nicht nur durch einen Paragrafen des Infektionsschutzgesetzes – feststellen könnte, dass das Staatswesen für eine klar definierte und begrenzte Zeit in einen anderen Zustand übergegangen ist. Das sollte von der üblichen Gesetzgebungsroutine deutlich unterscheidbar sein. Aber eine solche Möglichkeit sieht die deutsche Verfassung eben nicht vor, und deswegen gilt der gleitende Maßstab der Verhältnismäßigkeit; das heißt, wenn die Gefahr groß genug ist, dann darf man auch tief in die Freiheitsrechte eingreifen. Das Risiko, dass man sich an so tiefgreifende Grundrechtseingriffe gewöhnt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen. Als die massiven Lockdown-Vorschriften beschlossen wurden, da sind ja durchaus Stimmen laut geworden, die gefragt haben: Wenn das bei der Pandemieabwehr geht, warum nicht auch im Klimaschutz? Wenn die Politik wirklich durchregieren will, dann geht das doch offenbar auch. Wir müssen sehr aufpassen, dass wir uns nicht an diesen Gedanken gewöhnen.
DS: Eine zum Teil wütende öffentliche Debatte wird über das Maskentragen geführt. Sehen Sie hier Grundrechte in Gefahr?
SH: Das Maskentragen im öffentlichen Raum ist eine der Maßnahmen mit sehr geringer Eingriffsintensität. Natürlich ist das lästig; das finde ich auch. Aber es hindert mich an nichts, was ich tun will, und schränkt meine Bewegungsfreiheit nicht ein. Das ist auf einem ganz anderen Niveau als etwa Ausgangsbeschränkungen und Kontaktverbote. Deshalb wird den Ländern ja das Maskentragen sogar nach der Aufhebung der „pandemischen Lage von nationaler Tragweite“ als Instrument zum Infektionsschutz anheimgestellt.
DS: Mit der Impfpflicht sieht es aber anders aus, oder? Da geht es um einen Eingriff in den Körper.
SH: Es gibt eine traditionelle Vorstellung von der Körpergrenze als einem harten politischen und rechtlichen Limit. Das ist einerseits einleuchtend, andererseits muss man sagen, dass das nie so richtig gestimmt hat. Wenn Sie angetrunken beim Autofahren erwischt werden, dann müssen Sie sich Blut abnehmen lassen. Oder denken Sie an das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen, wo die Vorstellung „Mein Körper gehört mir“ schon immer an Grenzen gestoßen ist. Insofern darf man auch aus der Impfpflicht keinen Popanz machen. Natürlich ist sie ein Eingriff, mit dem man zurückhaltend umgehen muss. Aber wenn ich mir die Situation anschaue und feststelle, dass ein Teil der Bevölkerung nicht willens ist, sich impfen zu lassen, und feststelle, dass diese Weigerung dazu führt, dass das Gesundheitssystem überlastet ist und deshalb wieder Grundrechte eingeschränkt werden müssen – bis hin zu Schulschließungen, unter denen Kinder nachweislich sehr leiden –, wenn ich weiterhin feststelle, dass die verwendeten Impfstoffe so gut untersucht sind, wie es Impfstoffe fast nie waren, wenn sich darüber hinaus zeigt, dass es fast kein Risiko gibt, dann finde ich eine Impfpflicht gerechtfertigt. Man muss ja auch darüber reden, was man darunter genau versteht. Ich würde für ein strenges 2G plädieren – also die Impfung als Voraussetzung, um am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Damit vermeidet man die eigentlich naheliegende ordnungspolitische Maßnahme, die man folgendermaßen zusammenfassen könnte: Ihr müsst Euch nicht impfen lassen, aber wenn Ihr dann krank werdet, dann glaubt nicht, dass Ihr die Ersten seid, die im Krankenhaus einen Platz auf der Intensivstation bekommen. Diese Konsequenz, Triagierung nach dem Impfstatus, kollidiert natürlich mit dem Berufsethos der Ärzte.
DS: Das führt zurück zum Eingangsgedanken der Balance zwischen staatlicher und individueller Verantwortung und gleichzeitig zu einem Verständnis der Interdependenz von Freiheiten. Wenn man eine verteidigt, schränkt man womöglich eine andere ein. Auch hier geht es offenbar um Gleichgewichte. Müsste man nicht auch die Existenz unterschiedlicher Freiheitsbegriffe in Rechnung stellen: individuelle Freiheit gegen kollektive Freiheit, Eigeninteresse gegen Solidarität?
SH: In den letzten Monaten gab es Diskussionen darüber, ob die Impfgegner oder die FDP mit einem verkürzten Freiheitsbegriff operieren. Ehrlich gesagt, habe ich für diese Diskussion nicht ganz so viel Sympathie. Selbst wenn der Impfgegner in der Sache unrecht hätte, kann man nicht bestreiten, dass er ein Recht auf freie Entscheidung über seinen Körper hat, das durch eine Impfpflicht eingeschränkt wird. Daran würde ich gerne festhalten. Man muss eine Freiheitsbeschränkung klar als eine solche benennen – aber eben auch nicht vor ihr zurückschrecken, wenn sie gerechtfertigt ist. Es macht nach meiner Auffassung wenig Sinn, alle möglichen kollektiven Belange in den Freiheitsbegriff hineinzudefinieren. Freiheit ist Freiheit, und das ist nicht das Gleiche wie Sicherheit oder wie Gemeinwohl.
DS: Sehen Sie die Triage, die ja mit dem Auftauchen von Omikron auch in Deutschland Realität werden könnte, als Grundrechtsfrage? Das Verfassungsgericht hat ja unlängst in diesem Sinne entschieden.
SH: Das ist wirklich eine verflixte Diskussion, wo sich die Juristen in eine Sackgasse manövriert haben. Manche sagen, die Triage müsse unbedingt gesetzlich geregelt werden. Das kann man so sehen und man kann auf verfassungsrechtlicher Grundlage dafür plädieren. Auf der anderen Seite kann man sich vorstellen – und das ist auch die Position des Ethikrates –, dass eine solche Regelung in einem Rechtsstaat nicht unproblematisch ist. Sie führt ja direkt in eine Situation, wo das Parlament unterschiedliche Lebenswerte definiert. Dagegen würde nur ein Losverfahren helfen oder das Prinzip first come, first served. Aber das ist aus der Sicht des medizinischen Personals unbefriedigend, und wir wissen, welche Lasten diese Menschen derzeit zu tragen haben. Es ist berechtigt, dass das medizinische Personal für seinen Einsatz auch einen Ertrag sehen will: nämlich gerettete Menschen. Darum ist es nachvollziehbar, dass es die Ressourcen so verteilen will, dass sie etwas bewirken können. Am Ende glaube ich nicht, dass der Bundestag zu einer guten prinzipiellen Entscheidung über das Verhältnis von Dringlichkeit und Erfolgsaussichten kommen kann. Deswegen würde ich es für besser halten, in dieser überaus schwierigen Frage letztlich doch der Notfallmedizin zu vertrauen, die damit seit Jahrhunderten Erfahrung hat und sich im Großen und Ganzen als vertrauenswürdig erwiesen hat.
DS: Ich würde Sie abschließend gerne noch nach Ihrer Rolle als Experte in dieser Pandemie befragen. Es ist ja zum einen eine große Befriedigung, dass wissenschaftliche Erkenntnisse derzeit eine so große Rolle für die Politik spielen. Zum anderen wirft gerade das auch Fragen auf. Sie waren an vielen der Ad-hoc-Empfehlungen der Leopoldina beteiligt. Wie muss man sich diese Beratungstätigkeit konkret vorstellen?
SH: Es gibt Arbeitsgruppen an der Leopoldina, die sich über Jahre hinweg regelmäßig treffen. Aber die Ad-hoc-Stellungnahmen sollen ja ganz aktuell sein. Sie gehen in der Regel von einzelnen Akademiemitgliedern aus, die ausgewählte Kolleginnen und Kollegen für ein kurzfristig anberaumtes – jetzt digitales – Treffen zusammenrufen. Die Ergebnisse werden dann von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Leopoldina in einer ersten Fassung verschriftlicht und dann in einem zweiten Treffen oder intensivem E-Mail-Verkehr finalisiert. Natürlich stellt sich die Frage nach der Legitimation – warum gerade die Leopoldina, warum gerade diese Personen –, aber damit kann ich deshalb leben, weil diese Stellungnahmen ja nur Empfehlungen sind.
DS: Es gibt aber inzwischen ein Konzert der Experten – neben dem Robert-Koch-Institut auch die Ständige Impfkommission, den Ethikrat, die Leopoldina, öffentlich wirksame Einzelforscher usw. – und das ist nicht immer harmonisch. Sehen Sie das als Problem?
SH: Das Verhältnis von Wissenschaft und Politik wird eine der ganz großen Fragen nach dem Ende der Pandemie sein. Was ist die Erwartung an wissenschaftliche Politikberatung? Die Frage stellt sich ja weit über die Pandemie hinaus, denken Sie nur an den Klimaschutz. Aber ihre Beantwortung finde ich eigentlich gar nicht so schwierig. Man muss nur den Unterschied zwischen Beratung und Entscheidung zu jedem Zeitpunkt verdeutlichen. Frau Merkel hat in der Pandemie vieles richtig gemacht, aber es war nicht geschickt von ihr, Entscheidungen als „alternativlos“ darzustellen. Politiker dürfen nicht den Eindruck erwecken, dass sie in bestimmter Weise handeln, weil es ihnen ein Wissenschaftler oder die Wissenschaft so gesagt hat. Da stimmt etwas nicht, da entstehen Kategorienfehler, und das merken die Leute auch. Das Entscheiden beginnt ja damit, von welchen Wissenschaftlern sich Politiker beraten lassen. Bis hierher dominierten vor allem die Mediziner, was man an vielen Entscheidungen – etwa über die Impfreihenfolge – sehen kann. Ein weiteres Problem ist, dass politische Entscheidungen oft nötig sind, bevor überhaupt wissenschaftliche Evidenz vorliegt. In diesem Feld gibt es noch viel Klärungsbedarf.
DS: Als Vorsitzender der gerade gegründeten und beim Bundesgesundheitsministerium angesiedelten Evaluationskommission für das Infektionsschutzgesetz sind Sie ganz unmittelbar mit den Lehren aus der Pandemie befasst. Was sehen Sie – neben dem Verhältnis von Wissenschaft und Politik – als Lektionen, die gelernt werden müssten?
SH: Grundsätzlich finde iches ein bisschen hochnäsig, im Rückblick zu sagen, alles sei katastrophal gelaufen und man hätte doch dieses oder jenes wissen müssen und tun sollen. Die Psychologie würde hier wohl von einem „Rückschaufehler“ sprechen. Dessen ungeachtet muss die Sachverständigenkommission zum Infektionsschutzgesetz bis zur Mitte nächsten Jahres einen Bericht vorlegen, der den Umgang mit der Pandemie evaluiert. Ich kann zum jetzigen Zeitpunkt nur über meine eigenen Beobachtungen berichten. Dazu gehört erstens, dass wir in Deutschland jetzt seit bald zwei Jahre in der Pandemie sind, aber nicht wissen, welche Instrumente wirklich wirken. Es gab nur wenig und unkoordinierte Begleitforschung zu diesen Fragen. Es gibt keine Stelle, die große Studien oder gar Sozialexperimente koordiniert. Man könnte doch zum Beispiel ausprobieren, was passiert, wenn man in einem Bundesland die Schulen schließt, in einem anderen offen lässt und in einem dritten in den Wechselunterricht geht. Nach ein paar Wochen wäre man deutlich klüger. Und noch ein zweiter Punkt fällt mir auf: Wir müssen darauf achten, dass wir unterschiedliche Perspektiven und Betroffenheiten besser zur Geltung bringen. Die Interessen von Kindern und Schulen, von Studierenden und Universitäten sind bislang oft hinten heruntergefallen. Es herrschte ein virologischer Tunnelblick vor, der beachtliche Kollateralschäden erzeugt hat. Wenn man sich zum Beispiel den neuen Expertenrat der Bundesregierung ansieht, da gibt es neben einem Landrat, einem Leiter eines Gesundheitsamts, der Vorsitzenden des Ethikrates, einer Psychologin, die sich mit Widerständen gegen das Impfen beschäftigt, nur Mediziner. Kein einziger Sozialwissenschaftler oder Jurist wurde in diesen Rat berufen. So kommen auch die unterschiedlichen Auswirkungen der Pandemie nicht in den Blick: Der Lockdown in einer Grunewaldvilla ist aber doch etwas ganz anderes als der Lockdown in einer Hochhauswohnung im Märkischen Viertel. Da wird viel aufzuarbeiten sein.