Das Kolleg und der Osten – das New Europe College in Bukarest
Katharina Biegger verabschiedet sich als Leiterin der Fellowauswahl und wirft nach über dreißig Jahren am Wissenschaftskolleg einen Blick zurück
Schon die Gründer des Wissenschaftskollegs blickten ostwärts über die Grenzen: Unter den achtzehn Fellows des ersten Jahrgangs 1981/1982 waren vier polnische Wissenschaftler, und auch in den Folgejahren wurden immer wieder Einladungen ausgesprochen an Kollegen „hinter dem Eisernen Vorhang“. Doch dies blieben Einzelfälle, aus denen sich kein lebendiges Hin und Her entwickeln konnte.
Im Fellow-Jahrgang 1990/1991, der auf die Wende folgte, war „der Osten“ hingegen stark vertreten. Wissenschaftler aus Ungarn, der Tschechoslowakei, Bulgarien, Jugoslawien, Rumänien, Georgien und Russland kamen an den Halensee. Ștefan Savulescu, der erste rumänische Forscher am Kolleg, fasste abschließend zusammen: „I recognized the importance of being integrated in current scientific research as well as the disastrous effects of a long isolation. […The] moral support [of the West] is essential during the difficult period of normalization and integration into Europe for a scientific community from the East, which has suffered from political pressure and injustice.” Dem Physiker Savulescu, Spezialist für die Erforschung turbulenter Strömungen, konnte das Kolleg nicht helfen, in seinem Heimatland das Labor wieder aufzubauen, das im Kommunismus zerstört worden war. Eine geeignetere Kombination ergab sich im Folgejahr, als eine Einladung an den rumänischen Kunsthistoriker und Philosophen Andrei Pleșu ausgesprochen wurde: Eben erst war er von seinem Amt als Minister für Kultur der ersten Regierung nach Ceauseşcus Sturz zurückgetreten und dadurch für eine Fellowship verfügbar geworden. Pleșu ließ sich zunächst nur widerstrebend auf die vielfältigen Verlockungen in Berlin ein, die ihn von seiner Forschung – Engelkunde als „Theorie der Proximität“ – ablenkten. Doch dann erkannte er: „What mattered now and here was the intellectual opening beyond the boundaries of specialty, the capacity for dialogue, interest in the great questions of contemporary history. I finally understood that I could only gain by it, that I was being offered the rare chance of immediate integration into the breathing rhythm of this century. […] The six months spent at the Kolleg have been […] a decisive influence on my future activity.” Die letzte Voraussage traf ins Schwarze. Pleșu hatte mit Rektor Wolf Lepenies und Sekretär Joachim Nettelbeck darüber gesprochen, dass ihm ein Institute for Advanced Study (IAS) auch für sein Land wichtig schiene. Vermutlich hatte er diese Idee geäußert, ohne an Verwirklichung zu glauben – wie er später erwähnte, war die „Projektologie“ ein im kommunistischen Osten weit verbreitetes Symptom gewesen: Man dachte und malte sich die phantastischsten Dinge aus, immer im Bewusstsein, dass die politischen Umstände eine Realisierung verhindern würden. Pleșu kannte aber die Begeisterungsfähigkeit und Tatkraft der Berliner noch nicht! Die Leitung des Kollegs hatte sich bereits stark für das Collegium Budapest engagiert, das als erstes IAS des Ostens schon 1992 seine Pforten öffnete. Im Gründerenthusiasmus ging es gleich weiter: Das rumänische „Projekt“ wurde konkretisiert, Komplizen gesucht und überzeugt, Allianzen von privaten und öffentlichen Geldgebern geschmiedet. Nachdem Pleșu durch einen eigens geschaffenen Preis (New Europe Prize der sechs internationalen IAS – Princeton, Stanford, North Carolina, Wassenaar, Uppsala, Berlin) ein Startkapital in der Hand hatte, wurde es ernst: Am 23. Januar 1994 wurde die Fundația Noua Europă in Bukarest als private Stiftung registriert, und die ersten sechs Fellows erhielten ein Stipendium. Die folgenden Jahre, gekennzeichnet von drastischen gesellschaftlichen Veränderungen in den postkommunistischen Ländern, erforderten große Anstrengung, Aufmerksamkeit und Klugheit: Das New Europe College (NEC) wuchs und musste sich und seine Rolle entwickeln, ohne doch seine Identität zu verlieren. Dass dies geglückt ist, ist – wie vergleichbare Gründungen zeigen - keineswegs selbstverständlich. So geriet das Collegium Budapest im ungarischen Kontext zunehmend in Schwierigkeiten und musste seine Unabhängigkeit schließlich aufgeben. Die Entwicklung der ebenfalls vom Kolleg unterstützten Institute in St. Petersburg, Bukarest und Sofia verlief glücklicherweise unproblematischer.
Während eines Freijahrs, das ich mir 1995/1996 genommen hatte, verbrachte ich mehrere Monate in Bukarest mit dem Wunsch, am NEC mitzuarbeiten. Es war ein lehrreicher Aufenthalt, der mir einerseits den dramatischen, unkontrollierbaren Umbruch in der Gesellschaft, andererseits das Fortwirken übler Machenschaften und alter Cliquen, schließlich auch die Effekte schierer Ärmlichkeit und Not in der Wissenschaft vor Augen führte. In meinem Tagebuch hielt ich damals fest: „In einer solchen Situation, wo bewährte Handlungsrichtlinien ringsum fehlen, ist es umso entscheidender für die Realisierung eines wissenschaftlichen Projekts, dass die ‚richtigen‘ Personen vorhanden sind (…), Wissenschaftler, welche die Autorität und die Fähigkeit haben, Maßstäbe zu setzen und auf Besseres hin zu arbeiten. (…) Leicht bewegt sich in diesen Verhältnissen nichts – zäh klebt das Alte, frisst das Bestehende die Kräfte auf.“ Und ich notierte mir, dass man erst „sorgfältig hinhören und nach-denken muss, wenn man einen wissenschaftlichen Text vorgesetzt bekommt, den man beim ersten Lesen als thematisch abstrus, altmodisch, verkrustet und positivistisch abtun will“. Ich wollte verstehen und lernte, dass ich vermitteln, übersetzen und mein Know-how einbringen konnte. Unter anderem verfasste ich einen ersten Sachbericht zuhanden der Geldgeber – meinen rumänischen Kollegen jagte allein der Begriff „raport“ Schauder ein, denn dies war die Textgattung der Securitate. So hießen die infamen Meldungen und Informationen, die Ceaușescus Geheimpolizei verfasste oder verlangte.
Am Ende meiner Zeit in Bukarest wurde ich gefragt, ob ich in Zukunft einen Teil meiner Arbeitskraft für die Unterstützung des NEC einsetzen wollte, und die Schweizer Landis & Gyr Stiftung versprach dem Wissenschaftskolleg einen jährlichen Beitrag, um damit das rumänische Institut zusätzlich zu sichern. So kam es, dass ich im Folgenden (und bis heute) als „Doppelagentin“ in engem Kontakt mit dem NEC geblieben bin. Unvergessen ist in Bukarest, wie Stephen Greenblatt, damals Berliner Permanent Fellow, in den 90er Jahren auf Einladung des NEC einen Vortrag hielt, wo das Publikum so groß war, dass sich die Zuhörer sogar vor den offenen Fenstern drängten. Als folgenreich erwies sich die Vermittlung der jungen bulgarischen Historikerin Diana Mishkova, Mellon Fellow 1998/1999, zu einem Vortrag nach Bukarest: Nachdem sie gesehen hatte, dass ein solches Institut auch unter den schwierigen Bedingungen eines postkommunistischen Landes gedeihen konnte, entschloss sie sich, selbst ein ähnliches Forschungszentrum aufzubauen. Bei der Gestaltung des Centre for Advanced Study in Sofia konnte ich so von Anfang an mittun und bin stolz wie eine Patentante, wenn das bulgarische Institut in diesem Jahr seinen zwanzigsten Geburtstag begeht, während die rumänische ältere Schwester 2019 doch tatsächlich schon ein Vierteljahrhundert feiern konnte.
Selbstverständlich bin ich längst nicht die einzige Berlinerin, die sich für das Gedeihen der osteuropäischen Schwesterinstitute einsetzte. Ohne das große Engagement der Leitung und ohne die vielen bereitwilligen Helfer in der Verwaltung wäre nichts gegangen. Ein allen Beteiligten unvergessliches Erlebnis war der Betriebsausflug im Juni 2001, der über dreißig Wiko-Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach Bukarest führte. Diese Expedition markierte zugleich auch das zwanzigjährige Jubiläum des Wissenschaftskollegs sowie den Amtswechsel im Rektorat, von Wolf Lepenies zu Dieter Grimm.
Durch seine Initiativen und die Patenschaften mit den Instituten in Budapest, Bukarest, St. Petersburg und Sofia stand und steht das Wissenschaftskolleg in engerem Kontakt mit der osteuropäischen Wissenschaft als andere westliche Institutes for Advanced Study. Diese Ausrichtung ist eines seiner Markenzeichen geworden. Ein außerordentlich großzügiges Förderprogramm der Andrew W. Mellon Foundation unterstützte diese Orientierung von 1993 bis 2012: Wenn vielversprechende Anwärter in das Visier der Fellowauswahl gerieten, konnten sie mit Mitteln der Stiftung zu Kurzzeit-Fellowships von drei Monaten eingeladen werden. Dies förderte die Risikobereitschaft und Experimentierfreude der verantwortlichen Gremien.
Hat 1989 das Wissenschaftskolleg verändert? Ich denke schon. Und nicht nur das Leben des Kollegs, sondern – das dürfte durch die Schilderung deutlich geworden sein – auch meines.