Verfassung als gewaltlose Revolution
Ein Gespräch mit Ulrich K. Preuß, der 1989/1990 Fellow des Wissenschaftskollegs und Experte im Verfassungsausschuss des „Runden Tischs“ war
Daniel Schönpflug: Sie waren Fellow des Jahrgangs 1989/1990. Erinnern Sie sich noch an den 9. November 1989, an den Moment, als hier im Kolleg die Nachrichten von der Öffnung der Mauer eintrafen?
Ulrich K. Preuß: Das akademische Jahr hatte gerade erst begonnen. Aber es gab schon einen kleinen Zirkel von Fellows aus dem In- und Ausland, die sich daran gewöhnt hatten, gemeinsam die Tagesschau zu gucken. Wir haben uns also auch am 9. November um acht Uhr vor dem Fernseher im Clubraum versammelt, und die erste Schlagzeile der Sendung lautete: „DDR öffnet Grenzen“. Wir waren alle völlig überrascht, und einzelne sagten sofort: „Die Mauer ist offen, da müssen wir hinfahren.“ Ich selber allerdings war Opfer meiner déformation professionelle als Jurist und davon überzeugt, dass es zwar recht bald neue Reisemöglichkeiten für DDR-Bürger geben würde – aber doch noch nicht am selben Abend! Der Beschluss musste doch erst implementiert werden, Anträge gestellt und bearbeitet werden und all das würde seine Zeit dauern. Insofern sah ich keinerlei Grund, an die Mauer zu fahren. Andere haben sofort ihre Jacken angezogen, aber ich bin die Treppe hinaufgestiegen und in meinem Zimmer schlafen gegangen. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, wurde ich allerdings eines Besseren belehrt: Die gesamte Wallotstraße war von einem Stau von Trabbis blockiert.
DS: Wie gestalteten sich die folgenden Tage in der Wallotstraße?
UP: Der Tagesrhythmus ging durchaus weiter – Mahlzeiten, Kolloquium –, aber alles in einer fiebrigen Atmosphäre. Die Wiedervereinigung war das Thema aller Gespräche und den ausländischen Fellows musste erklärt werden, was überhaupt gerade passierte. Einige sind schon an den ersten Tagen ins Berliner Umland gefahren. Ich aber hielt mich an die abendliche Tagesschau und an mein Projekt, ironischerweise eine Studie über Thomas Hobbes in den politischen und epistemologischen Umbrüchen seiner Zeit.
DS: Ihre Involvierung in den Prozess änderte sich schlagartig im Dezember 1989: Sie wurden eingeladen, im Verfassungsausschuss des sogenannten „Runden Tischs“ mitzuwirken. Für unsere ausländischen Leser: Was war eigentlich der Runde Tisch?
UP: Der Runde Tisch war eine Institution, die die Polen erfunden hatten. Dort hatte der Umbruch schon einige Jahre früher begonnen. In diesem Kontext wurde zwischen der Gewerkschaft Solidarność und der kommunistischen Regierung ein Pakt geschlossen, um von der Gesellschaft gewünschte Veränderungen einzuleiten, ohne aber das Regime als solches abzuschaffen. Der Tisch war aus symbolischen Gründen rund, um zu zeigen, dass es keine Fronten geben sollte. Dieses Modell war Vorbild für den deutschen Runden Tisch, der Vertreter der Regierung und der Bürgerbewegungen zusammenbrachte. Ziel war es, gemeinsam einen Übergang im Konsens zu gestalten.
DS: Ist dieses Selbstverständnis des Runden Tisches ein Grund dafür, dass 1989 in Deutschland keine „echte“ Revolution wie etwa 1918 stattgefunden hat?
UP: Nein, es war umgekehrt: es gab einen Runden Tisch, weil die Bürgerrechtsbewegungen der DDR einen gewaltsamen Umsturz der alten Ordnung vermeiden wollten. Dafür war sicher auch die Tatsache bestimmend, dass deren Träger stark kirchlich geprägt waren. Sie waren der Überzeugung, dass die notwendigen Veränderungen gewaltlos stattfinden sollten.
DS: Kann man in diesem Sinne auch die Initiative für eine neue DDR-Verfassung verstehen, an der Sie unmittelbar beteiligt waren: Der Runde Tisch nicht als Constituante im Sinne der Französischen Revolution, sondern als Rat- und Ideengeber für die angeschlagene DDR-Regierung?
UP: Ich würde einen Schritt weiter gehen: Die Verfassung sollte das Instrument sein, durch das eine Verschiebung der Machtstrukturen in einer zivilen, nicht gewalttätigen, nicht abrupten Form gestaltet werden sollte. Anders als die französische Nationalversammlung des Jahres 1789 griff der Runde Tisch nicht nach der Macht, sondern reflektierte über Formen, in denen sich Schritt für Schritt die politischen Machtverhältnisse ändern konnten und sollten.
DS: Plagten Sie keine Zweifel, eine so gewaltige Arbeit in Angriff zu nehmen für einen Staat, der bereits in Auflösung begriffen war?
UP: Zu dieser Zeit, als wir die Arbeit begannen, also in den Monaten nach dem 7. Dezember 1989, war keinesfalls sicher, dass die DDR dem Untergang geweiht war. Natürlich war klar, dass sie nicht in ihrer damaligen Form weiterleben würde. Aber selbst Helmut Kohl hatte in seinem 10-Punkte-Programm vom 28. November 1989 die Idee einer Konföderation zwischen den beiden deutschen Staaten – DDR und Bundesrepublik – formuliert, nicht die eines wiedervereinigten Deutschlands. Noch war ja auch völlig unklar, wie sich die vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges verhalten würden. Ich selbst hatte das Gefühl, dass die Wiedervereinigung und damit das Ende der DDR allenfalls in ein paar Jahren stattfinden würde.
DS: Was wäre die DDR für ein Regime geworden, wenn die Verfassung des Runden Tischs in Kraft getreten wäre?
UP: Natürlich hatte unser Verfassungsentwurf große Ähnlichkeiten mit dem bundesrepublikanischen Grundgesetz. Nochmal: Wichtiger als das Ergebnis war uns der Prozess der Verfassungsgebung nicht nur für, sondern durch die DDR-Bürger. Dagegen war es zweitrangig, was ein paar Verfassungsjuristen miteinander besprachen. Ein solcher Prozess wäre eine wirkliche Einigung gewesen, zunächst innerhalb der DDR, die Grundlage für eine deutsch-deutsche Vereinigung hätte werden können.
DS: In welchen Punkten sehen Sie die wichtigsten Unterschiede des Entwurfs zur bundesrepublikanischen Verfassung?
UP: Die westdeutsche Verfassung von 1949 war sehr stark auf den Staat ausgerichtet und wurde daher häufig als „Staatsverfassung“ bezeichnet; alles Gesellschaftliche wurde darin als Teil der Privatsphäre angesehen. Die neue Verfassung der DDR sollte dagegen offen zur Gesellschaft sein. Eine Formulierung, die mir besonders wichtig ist, findet sich in ihrem Grundrechtekatalog. Dort heißt es: „Jeder schuldet jedem die Anerkennung als Gleicher“. Das ist eine klare Intervention in die Sphäre, die in der klassischen Verfassungskonzeption den Staat gar nichts angeht, in die Privatsphäre. Der Verfassungsentwurf stellte Ansprüche an das Zusammenleben, an Solidarität, an ein gesellschaftliches Ethos – sie sollte die Verfassung eines Staat und Gesellschaft umgreifenden Gesamtpolitikums werden.
DS: Wann kam der Moment, an dem Ihnen klar wurde, dass die Anstrengungen für eine neue Verfassung der DDR umsonst gewesen waren?
UP: Endgültig klar wurde das nach der Wahl zur Volkskammer am 18. März 1990. Ein Mitglied des Runden Tischs, Gerd Poppe, hatte als Abgeordneter den Antrag ins Parlament eingebracht, die neue Verfassung durch ein Volksbegehren in Kraft zu setzen. Auch das ist originell, denn normalerweise ist die Verfassung ja Voraussetzung für ein Volksbegehren. Doch Poppes Antrag wurde abgelehnt. Am 5. April dann wurde die neue Regierung unter Lothar de Maizière vereidigt und zwar – trotz kontroverser Diskussion – auf die alte DDR-Verfassung! Für die Ablehnung unseres Entwurfs gab es durchaus achtbare Gründe: Man wollte keine neue Verfassung, weil dies so aussehen könnte, als wolle man die DDR perpetuieren. Außerdem war die Situation dramatisch. Die DDR litt unter massenhafter Abwanderung. „Wenn die Deutsche Mark nicht zu uns kommt, dann gehen wir zur Deutschen Mark“, sagten damals viele. Hinzu kam die internationale Situation. Angesichts der Verantwortung der vier Siegermächte des Zweiten Weltkrieges war es durchaus möglich, dass das 1989 und 1990 aufgestoßene Fenster der Gelegenheit für eine deutsche Wiedervereinigung rasch wieder geschlossen werden konnte. Und am Ende hätte man vielleicht eine Verfassung haben können, aber keine Wiedervereinigung. Diese Gründe habe ich damals akzeptiert, und ich akzeptiere sie bis heute. Für einen diskursiven Verfassungsgebungsprozess, wie wir ihn uns vorgestellt hatten, war schlicht keine Zeit – ganz in dem Sinne einer bekannten Sentenz von Arnold Gehlen: „Reflexion ist handlungshemmend“.
DS: Hat die Entscheidung gegen eine letzte DDR-Verfassung im Rückblick negative Konsequenzen gehabt?
UP: Der Preis für die damalige Entscheidung ist die bis heute andauernde Entfremdung zwischen Ost und West und das Gefühl vieler Ostdeutscher, bei der Vereinigung vom Westen „übernommen“ worden zu sein. Aber man kann im Leben nicht alles haben: die Vereinigung und gleichzeitig einen reflektierten und kollektiven Prozess, eine wirkliche Revolution ohne Gewalt. Dieser Idee trauere ich nach.
DS: Hätte man das Versäumte später nachholen können, etwa – wie Dieter Grimm vorgeschlagen hat – durch einen Verfassungsprozess nach erfolgter Wiedervereinigung, entsprechend dem § 146 des Grundgesetzes?
UP: Das wäre denkbar gewesen, hätte aber nicht die gleichen Konsequenzen gehabt. Denn dann hätte ja nicht die Verfassunggebung zur Einheit geführt, sondern umgekehrt die Einheit zur Verfassunggebung. In dieser Reihenfolge wäre die gesellschaftliche Wirkung des Verfassungsprozesses viel geringer gewesen. Meines Erachtens hätte allein eine breite, differenzierte, dissonante, aber eben auch neue, gemeinsame Grundlagen schaffende Diskussion in einer Situation der Offenheit zu einem auf Dauer stabileren Ergebnis geführt. Dafür gab es nur ein schmales „window of opportunity“. Ich denke, im Herbst 1990 war der kurze „constitutional moment“ schon verstrichen.