Editorial
Dieser Newsletter erscheint ein Jahr nach dem 24. Februar 2022. Das Leid und der Schrecken des russischen Marschs auf Kyiv wird selbst für diejenigen unvergesslich bleiben, die ihn aus sicherer Entfernung in den Medien verfolgt haben. Seitdem hat sich die Welt verändert, wobei noch unklar ist, in welche Richtung die Veränderung weist. Aus der Berliner Perspektive waren es zunächst die vielen Geflüchteten, die den Krieg unvermittelt nahekommen ließen. Allein am Hauptbahnhof wurden im März und April des letzten Jahres täglich bis zu 2000 ankommende Geflüchtete gezählt; insgesamt sind seitdem etwa eine Million Ukrainerinnen und Ukrainer nach Deutschland gekommen. Zu dieser Zeit erreichten auch das Wissenschaftskolleg zahlreiche Anfragen mit der Bitte um Unterstützung. Als Soforthilfe konnten wir leer stehende Gästeappartements zur Verfügung stellen und private Unterkünfte vermitteln. Drei Kurzzeitfellowships wurden ad hoc geschaffen und weitere ukrainische Wissenschaftlerinnen mithilfe von Förderungen durch die Marga und Kurt Möllgaard-Stiftung, später auch durch die Stiftung Preußische Seehandlung, unterstützt.
Ukrainische Fellows waren bereits in der Vergangenheit ans Kolleg eingeladen worden. Etwa die Soziologin Viktoriya Sereda (2017/2018), deren Essay zu den Folgen des Krieges für die ukrainische Erinnerungskultur Sie in der aktuellen Ausgabe des Newsletters lesen können, oder der Historiker Andrii Portnov, der bis heute das Projekt „Prisma Ukraïna“ am Forum Transregionale Studien leitet. Doch durch die Ankunft einer ganzen Gruppe von Wissenschaftlerinnen und Künstlern direkt aus dem ukrainischen Kriegsgebiet und ihre intensiven Gespräche mit den Fellows des aktuellen Jahrgangs rückte die Ukraine in den Fokus. Etwa wenn der aus dem befreiten Irpin nach Berlin gekommene Schriftsteller Oleksandr Irvanets von seinen Erfahrungen berichtete. Wenn die Belarussin Olga Shparaga und der Syrer Mohammad Al Attar über ihre – unterschiedlichen und ähnlichen – Erfahrungen mit dem russischen Imperialismus diskutierten. Wenn der Kyiver Komponist Valentyn Sylvestrov einen Zyklus von Klavierstücken vortrug, den er auf der Flucht geschrieben hatte. Oder wenn im Abendkolloquium aus der Serie „Zur Zeit“ die ukrainische Schriftstellerin Kateryna Mishchenko und der bereits genannte Andrii Portnov mit dem Münchener Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel die Auswirkungen des Krieges auf die ukrainische Gesellschaft analysierten.
So blieb das Wissenschaftskolleg auch und gerade in Zeiten eines nahen Krieges ein Ort der Begegnung – auch wenn einige der Fellows und Gäste ganz ungeplant und gegen ihren Willen nach Berlin gekommen waren und statt Rückzug und Inspiration eine Bleibe auf Zeit suchten, wo sie ankommen und sich auf ein Exil einstellen konnten, dessen Dauer völlig unbestimmt war. Letzteres galt nicht nur für Geflüchtete aus der Ukraine, sondern auch für einen russischen Dissidenten, dem es – trotz der zunehmenden Schwierigkeiten mit dem Flugverkehr und an den Grenzen – gelungen war, das Land zu verlassen. Den Moskauer Schriftsteller Maxim Osipov haben wir einige Monate im Kolleg beherbergt; in diesem Newsletter berichtet er von seinen Gedanken und Gefühlen bei der Flucht. Die Begegnungen zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und Russland waren nicht selbstverständlich; dass sie doch immer wieder möglich waren, sehen wir als ein großes Glück an.
Je länger der Krieg dauert, desto deutlicher werden die verheerenden Folgen für das Land – und auch für die ukrainische Wissenschaft. Entsprechend hat sich das Wissenschaftskolleg vorgenommen, seinen Beitrag zum Erhalt und Wiederaufbau der von massiver Zerstörung, von Flucht, von Energie- und Wirtschaftskrise geschwächten ukrainischen Wissenschaft zu leisten. In der von Wolf Lepenies begründeten Tradition der 90er Jahre wollen wir auf die Gründung eines Institute for Advanced Study in der Ukraine hinarbeiten – als Beitrag zum Wiederaufbau der Ukraine, als Initiative gegen den Brain-Drain, als Plattform für eine bessere Einbindung der ukrainischen Academia in die internationale Wissenschaftslandschaft. Dieser Austausch ist nicht nur im ukrainischen Interesse. Es steht zu hoffen, dass eine intensivere Vernetzung mit der Region auch den mangelhaften Kenntnissen und den massiven Fehlurteilen im Westen entgegenwirkt, die zur Vorgeschichte dieses Krieges gehören.
Professorin Dr. Barbara Stollberg-Rilinger, Rektorin
Professor Dr. Daniel Schönpflug, Leiter Wissenschaftliche Programme