Helge Rossen-Stadtfeld, Dr. iur.
Professor der Rechtswissenschaft
Universität der Bundeswehr München
Geboren 1955 in Braunschweig
Studium der Rechtswissenschaft und Philosophie an der
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Arbeitsvorhaben
Demokratie im Wandel
Die Strukturen der rechtlichen Steuerung moderner Gesellschaften unterliegen tiefgreifenden Veränderungen. Immer stärker wird die Produktion des tatsächlich steuerungsrelevanten Rechts durch Tendenzen der Informalisierung, der Entstaatlichung und der Internationalisierung beeinflusst. Unklar ist, welche Konsequenzen für Gehalt, Bedeutung und Verwirklichung des Demokratieprinzips sich daraus ergeben. Möglicherweise muss eine normative Vorgabe des Demokratieprinzips als nicht mehr wirklichkeitsangemessen angesehen werden, die bislang für moderne Verfassungsordnungen konstitutiv schien: dass nämlich Demokratie eine originäre Gestaltung des Vergesellschaftungsprozesses durch die Bürgerschaft meine. Zwar wird der verbreiteten Neigung zu widerstehen sein, Demokratie mehr oder weniger vollständig in der Effektivität und Effizienz der Steuerung aufgehen zu lassen. Dies wäre keine Veränderung, sondern eine Preisgabe des Demokratieprinzips. Wohl aber könnten für ein zeitgemäß fortentwickeltes Demokratieverständnis die nachträgliche Information, die Kritik, unterschiedliche Kontrollen und die Öffentlichkeit eine immer größere, zuletzt vielleicht prägende Bedeutung erlangen.Lektüreempfehlung
Rossen-Stadtfeld, Helge. Vollzug und Verhandlung: Die Modernisierung des Verwaltungsvollzugs. Tübingen: Mohr Siebeck, 1999.
-. "Kontrollfunktion der Öffentlichkeit: ihre Möglichkeiten und ihre (rechtlichen) Grenzen." In Verwaltungskontrollen, herausgegeben von Wolfgang
Hoffmann-Riem und Eberhard Schmidt-Aßmann, 117. Baden-Baden: Nomos, 2001 (Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts, Bd. 8).
-. "Die Konzeption regulierter Selbstregulation und ihre Ausprägung im Jugendmedienschutz." Archiv für Presserecht 2 (2004).
Kolloquium, 19.04.2005
Changing Democracy
Demokratie kann als Antwort auf die Frage verstanden werden, wer aus welchem Grund Entscheidungen treffen kann, die für eine ganze Gesellschaft verbindlich sind. Die Konzeptionen moderner Demokratie antworten darauf mit dem Vorschlag, dass kollektiv verbindliche Entscheidungen vom Volk selbst durch seinen Staat getroffen und verwirklicht werden sollen. Das Volk ist letzter Zurechnungsgrund des Willens, dem die Befugnis zur Lenkung der ganzen Gesellschaft zugesprochen ist. Betroffen von der Staatsmacht sind diejenigen, die sie lenken und kontrollieren. Die Machtausübung erscheint gerechtfertigt: volenti non fit iniuria.
Diese demokratische Antwort impliziert anspruchsvolle Voraussetzungen. Sie können in den modernen europäischen Gesellschaften nicht ohne weiteres als erfüllt gelten. In welchem Sinn von einem "Staatsvolk" als dem einen Zurechnungsgrund demokratischer Entscheidung noch gesprochen werden kann, ist unklar. Fraglich geworden ist auch, ob einem Staat noch die Aufgabe zugewiesen werden kann, den Volkswillen festzustellen und zu verwirklichen. Ebenso ungewiss ist, ob dieser Staat noch als der einzige, jedenfalls aber wichtigste Träger kollektiv verbindlicher Entscheidungen anzusehen ist. Schließlich sind auch die Verfahren zweifelhaft geworden, in denen kollektiv verbindliche Entscheidungen getroffen und verwirklicht werden. Die Demokratie stößt auch dann an Grenzen, wenn ein Staat zwar aus demokratischen Wahlen hervorgegangen ist, sich aber in (gesetzgeberische, gerichtliche, exekutive) Verfahren verstrickt, die jenseits demokratischer Rechtfertigung stattfinden.
Die aktuellen Probleme der europäischen Demokratie stellen sich bereits auf der Ebene der Nationalstaaten. Sie werden im Prozess der Entgrenzung und Globalisierung moderner Staatlichkeit aber beträchtlich verschärft. Versuche, demokratieschädlichen Globalisierungsfolgen entgegen zu wirken, haben oftmals eher eine Verstärkung von Entdemokratisierungstendenzen zur Folge.
Die Perspektiven des demokratischen Projekts sind schwer absehbar. Im Hinblick auf Akteure, Prozesse und Themen scheint sich der Realisationsspielraum dieses Projekts weiter zu verengen. Neuere Angebote zur Demokratietheorie arbeiten vor allem mit der Unterscheidung von Markt und Deliberation. Dass dem demokratischen Projekt innerhalb dieser Unterscheidung Entwicklungsperspektiven eröffnet werden können, ist nicht sicher. Die Zukunft der modernen Demokratie in Europa wird eher in der inkrementalistischen Anpassung und Fortentwicklung längst bekannter Bauelemente demokratischer Systeme liegen (Bürgerbeteiligung, Informationsrechte, Öffentlichkeit, Gewaltenteilung etc.). Im übrigen werden sich Politik und Recht wahrscheinlich auf eine beträchtliche Rücknahme des demokratischen Geltungsanspruchs, letztlich auf einen erheblichen Bedeutungsverlust der Demokratie einzustellen haben.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Rossen-Stadtfeld, Helge (2008)
§ 29: Beteiligung, Partizipation und Öffentlichkeit
Rossen-Stadtfeld, Helge (2007)
Demokratische Staatlichkeit in Europa
Rossen-Stadtfeld, Helge (2002)
Verfassungsrechtliche Perspektiven des dualen Rundfunksystems
Rossen-Stadtfeld, Helge (2001)
Kontrollfunktion der Öffentlichkeit - ihr Möglichkeiten und ihre (rechtlichen) Grenzen
Rossen-Stadtfeld, Helge (Tübingen, 1999)
Vollzug und Verhandlung : die Modernisierung des Verwaltungsvollzugs Jus publicum ; 39