Wolfgang Seibel, Dr. rer. pol.
Professor der Politikwissenschaft
Universität Konstanz
Geboren 1953 in Barsinghausen, Niedersachsen
Studium der Politikwissenschaft, Germanistik und Verwaltungswissenschaft
an der Universität Marburg und an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer
Arbeitsvorhaben
Holocaust und Polykratie in Westeuropa, 1940-1944
Das nationalsozialistische Herrschaftssystem wird in der Forschung als fragmentiert, "polykratisch" und, was die von Deutschland seit 1939 besetzten Gebiete betrifft, geradezu als "organisiertes Chaos" charakterisiert. Dazu steht der effektive Apparat der Repression und der Verfolgung der jüdischen Bevölkerung in denkwürdigem Kontrast. Mein Aufenthalt am Wissenschaftskolleg dient dem Abschluss einer Monographie, die der Aufhellung dieses Paradoxons gewidmet ist. Zugrunde liegen zwei konkurrierende Hypothesen, wonach Arbeitsteilung und Machtdifferenzierung in den Verfolgungsapparaten die Durchsetzung der Verfolgungsmaßnahmen sowohl behindert als auch begünstigt haben können: Einerseits bedeutete jede Art von Machtteilung und Dezentralisierung für die Kerngruppe der Verfolger, SS und Gestapo, eine Beschränkung ihrer Handlungsmöglichkeiten. Andererseits erweiterte sich die motivationale Basis der Helfer der Verfolger, ohne die, zumal in den besetzten Gebieten, die Durchführung der "Endlösung" undenkbar gewesen wäre. Diese Annahmen werden überprüft am Beispiel Frankreichs, Belgiens und der Niederlande, Länder, die starke Unterschiede bei den Opferraten unter der jüdischen Bevölkerung aufweisen (25% Deportierte in Frankreich, 43% in Belgien, 76% in den Niederlanden).Lektüreempfehlung
Seibel, Wolfgang. "The Strength of Perpetrators: The Holocaust in Western Europe, 1940-1944." Governance ( An International Journal of Policy, Administration,
and Institutions 15 (2002): 211-240.
-. "A Market for Mass Crime? Inter-Institutional Competition and the Initiation of the Holocaust in France, 1940-1942." Journal of Organization Theory and Behavior 5
(2002): 211-257.
Seibel, Wolfgang und Jörg Raab. "Verfolgungsnetzwerke: Zur Messung von Arbeitsteilung und Machtdifferenzierung in den Verfolgungsapparaten des Holocaust."
Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 55 (2003): 197-230.
Kolloquium, 23.11.2004
State Structure and Mass Murder
Einige Staaten zeigen eine höhere Wahrscheinlichkeit, Verbrechen in großem Maßstab zu begehen als andere; Diktatur als Gegenteil von Demokratie ist zumindest in unseren Lehrbüchern ein solcher Fall. Staatlich organisiertes Verbrechen ist jedoch nicht nur eine Folge von fehlender Herrschaft des Rechts, sondern auch von Machtkonzentration und einem streng hierarchisch gegliederten Durchsetzungs- und Vollstreckungsapparat. "Macht mordet, und absolute Macht mordet absolut", wie es der Experte für Völkermord, R. J. Rummel formuliert, in Anlehnung an Lord Actons berühmten Satz ("Macht korrumpiert, und absolute Macht korrumpiert absolut").
Der Massenmord an sechs Millionen Juden unter deutscher Herrschaft in Europa während des zweiten Weltkrieges ist mit dieser Annahme nicht leicht in Übereinstimmung zu bringen. Der Holocaust wurde von einem Regime organisiert, das in der etablierten Literatur als "polykratisch" beschrieben wird, und zwar in dem Sinne, dass das Regime den Rivalitäten verschiedener Machzentren unterworfen war. Darüber hinaus wird die Verwaltung der Nationalsozialisten als desorganisiert, gleichsam chaotisch und folglich als ineffizient beschrieben. Die Ungereimtheiten liegen auf der Hand: Sind die Annahmen der etablierten Literatur in Bezug auf das Wesen der nationalsozialistischen Herrschaft falsch? Oder treffen sie zwar auf das Regime als solches, aber nicht auf die Verfolgungsmaschinerie zu, die Millionen von Juden in den von Deutschen kontrollierten Teilen Europas ermordet hat? Oder müssen wird Rummels Hypothese modifizieren, wenn wir die mörderische Effektivität von gestreuter Macht und einer desorganisierten Verwaltung erklären wollen?
Meine Forschung geht von der letzten Annahme aus. Es gibt keine Belege, die die Auffassung der etablierten Literatur, die Herrschaft der Nationalsozialisten sei im Kern polykratisch gewesen, ernsthaft in Frage stellen könnten; und nichts könnte die Annahme rechfertigen, die Organisation des Holocaust sein kein integraler Bestandteil des Regimes gewesen, während ihm doch alle Charakteristika des Regimes eigen waren. Wie die neue Forschung vielmehr hervorhebt, war der Holocaust ein arbeitsteiliges Verbrechen, an dem viele verschiedene Institutionen beteiligt waren, jenseits der unmittelbaren Kontrolle durch die SS und die Gestapo. Diese Institutionen hatten ihre eigenen Vorstellungen, die nicht notwendigerweise mit dem übereinstimmten, was die Verfolger wollten. Dennoch wissen wir nicht sehr viel darüber, was tatsächlich dazu führte, dass sich die subsidiären Institutionen fügten. Man darf annehmen, dass die Differenzierung der Macht und die Arbeitsteilung innerhalb der Verfolgungsapparate, die die unmittelbare Kontrolle durch die Kerngruppe der Verfolger reduzierte, die Motivation zur Einwilligung bei den unabdingbaren Helfern an der Peripherie gestärkt hat; das führte zu eher zur Beschleunigung als zur Beschränkung der Radialisierung bei der Verfolgung.
Um die oben ausgeführte Hypothese zu überprüfen, konzentriere ich mich auf den Holocaust in Frankreich, Belgien und in den Niederlanden in den Jahren 1940-44; an diesen Orten variierte der Anteil der jüdischen Opfer erheblich (25% der französischen Juden, die aus Frankreich deportiert und dann in Auschwitz ermordet wurden, im Vergleich zu 43% der jüdischen Bevölkerung in Belgien und 73% in den Niederlanden). Der Anteil der jüdischen Opfer kovariierte mit dem Maß an Zentralisierung auf deutscher Seite, in Übereinstimmung mit der Organisationsstruktur des entsprechenden Besatzungsregimes. Dennoch verschleiern solche formalen Korrelationen eher die tatsächlichen Kausalzusammenhänge, als dass sie diese erhellen würden, wenn wir die relevanten Entscheidungsprozesse bei der Analyse außer Acht lassen. Wenn wir sie aber analysieren, entdecken wir, dass die Differenzierung der Macht und die Arbeitsteilung wichtige strukturelle Determinanten der Verfolgung waren. Wie sich diese Determinanten auswirkten, war jedoch von der Handlungsweise der Eliten abhängig, die in gleichsam vertraglichen Arrangements und in Kontrollnetzwerken der Verfolgung eingebunden und mehr oder minder willens und fähig waren, moralisch und politisch zu urteilen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Seibel, Wolfgang (Frankfurt, 2005)
Seibel, Wolfgang (New York, NY [u.a.], 2005)
Networks of Nazi persecution : bureaucracy, business, and the organization of the Holocaust Studies on war and genocide ; 6 [i.e. 7]
Seibel, Wolfgang (2003)
Seibel, Wolfgang (2003)
Seibel, Wolfgang (2002)
The strength of perpetrators : the Holocaust in western Europe, 1940 - 1944
Seibel, Wolfgang (2002)
Seibel, Wolfgang (Manchester [u.a.], 2001)
The nonprofit sector in Germany : between state, economy and society Johns Hopkins nonprofit sector series ; [10]
Seibel, Wolfgang (Berlin, 1996)
Verwaltungsaufbau in den neuen Bundesländern : zur kommunikativen Logik staatlicher Institutionenbildung Modernisierung des öffentlichen Sektors
Seibel, Wolfgang (Baden-Baden, 1994)
Seibel, Wolfgang (1992)
Theoretische und methodologische Perspektiven der Analyse "abweichenden" Verwaltungshandelns