Architekturen des Überlebens
Ein Interview mit Natalia Romik (Elkana-Fellow 2024/2025)
Daniel Schönpflug: In der Rubrik „My Favourite“ geht es darum, einen Fellow des laufenden Jahres anhand eines Objekts oder Ortes seiner Wahl vorzustellen. Dieses Mal gehen wir von einer enigmatischen Skulptur aus. Sie wurde schon mehrfach gezeigt, zuletzt in der Ausstellung „Architekturen des Überlebens“ im Jüdischen Museum in Frankfurt. Ich spreche mit der Schöpferin der Skulptur. Herzlich willkommen, Natalia Romik! Was sehen wir auf dem Bild?
Natalia Romik: Das Foto zeigt eine Skulptur, die einen Teil eines Verstecks auf dem jüdischen Friedhof in Warschau abbildet. Es handelt sich um den Abguss eines Mauerstücks im Maßstab 1:1. Das gesamte Versteck misst drei Meter in der Länge und zwei Meter in der Breite. Während der deutschen Besetzung Polens im Zweiten Weltkrieg diente es als Zufluchtsort für von den Nazis verfolgte Juden.
Die Herstellung des Abgusses für die Skulptur war ein komplexer Prozess. Er begann mit Silikon- und Gipsformen, die wir am Originalschauplatz entnahmen – für diese Arbeit haben wir über eine Woche gebraucht. Um die Form weiterzuentwickeln, haben wir Acryl und Erde verwendet. Schließlich wurde die Skulptur mit Silber überzogen. Ich habe Silberflocken aufgetragen, als Hommage an die Amateurarchitekten, die behelfsmäßige Unterkünfte bauten, um sich und ihre Angehörigen zu schützen. Das Silber fungiert auch als Spiegel, in dem die Betrachter ihr Spiegelbild in der Vergangenheit sehen können – allerdings wird sich dieses Spiegelbild mit der Zeit zunehmend verzerren, da das Silber anläuft.
DS: Wissen wir, wer sich hier versteckt hat?
NR: Wir wissen von mehreren Personen, die in diesem Versteck im orthodoxen Viertel des Friedhofs, im Abschnitt Nr. 41, Zuflucht gefunden haben. Es wurde ursprünglich von Isaac Posner, dem damaligen Leiter des Friedhofs, mit Hilfe von Moshe Aroniak, einem Steinmetz, angelegt. Sie vergrößerten die für ein Grab vorgesehene Fläche, mauerten die Wände dieses behelfsmäßigen Bunkers, konstruierten das Dach aus Straßenbahnschienen und bedeckten es zur Tarnung mit Matzevot, jüdischen Grabsteinen.
Dieser Fall ist einzigartig, denn Posner und Aroniak verfügten über Fachwissen und die richtigen Werkzeuge für den Bau eines Schutzraums. Im Gegensatz dazu waren die jüdischen Bauherren in anderen Fällen, die ich für mein Projekt recherchiert habe, Laien. Sie hatten keine Vorkenntnisse im Maurerhandwerk oder in Architektur und kein geeignetes Werkzeug – nur Löffel oder Messer. Dennoch mussten sie alle im Verborgenen arbeiten, in ständiger Todesangst, weil sie durch deutsche Soldaten oder die Polizei entdeckt werden konnten. Außerdem lebten sie in der Angst, von polnischen oder ukrainischen Schmaltzovniks entdeckt und verraten zu werden, die Juden gegen Geld auslieferten.
Zurück zum Versteck auf dem jüdischen Friedhof in der Okopowa-Straße: Durch ein Gespräch mit einem ehemaligen Leiter des Friedhofs erfuhr ich von Abraham Carmi, der als Jugendlicher in dem Grab Unterschlupf fand. Er war einer von nur zwei Juden, die sich dort verbargen und den Krieg überlebten. Alle anderen wurden 1942 von den Nazis entdeckt und an Ort und Stelle getötet.
Vor vier Jahren habe ich Abraham in Israel besucht, wo er in einem Kibbuz lebt. Er ist jetzt 98 Jahre alt und erzählte mir viele Geschichten aus seinem Leben während der Nazi-Besatzung. Ihm zufolge gab es nicht nur einen, sondern mehrere Orte, an denen jüdische Menschen Zuflucht suchten. Das Grab ist jedoch das einzige Versteck in Warschau, das bis heute erhalten geblieben ist, da 90 Prozent der Architektur der Stadt während des Krieges zerstört wurden.
DS: Würden Sie sagen, dass sich die Menschen im Grab versteckt haben oder dass sie dort versteckt wurden?
NR: In einigen der Fälle, die ich recherchiert habe, haben die Juden ihre Verstecke selbst gefunden und gebaut, in anderen erhielten sie Hilfe von außen. Ich sehe mein Projekt als eine Hommage an den Einfallsreichtum und den Überlebenswillen der untergetauchten Menschen.
In diesem speziellen Fall war Abraham noch ein Teenager, als er nach einem Unterschlupf suchte. Er erzählte uns, dass er bei der Vorbereitung seines eigenen Verstecks half. Er kann sich jedoch nicht daran erinnern, wie lange er in dem Bunker blieb – ob es ein paar Tage oder mehrere Wochen waren. Seine Erinnerung ist verschwommen. Er war ein Kind, das Schutz und Unterstützung brauchte, aber gleichzeitig sollte er als Architekt seines eigenen Überlebens anerkannt werden.
DS: Was geschah mit dem Ort nach 1945?
NR: Nach dem Krieg geriet die Geschichte in Vergessenheit, und das Versteck wurde erst vor zehn Jahren wiederentdeckt. Damals fand man ein kleines Graffito, das Abraham hinterlassen hatte. Es ist auf Hebräisch geschrieben und lautet: „Ich war hier, Abraham Carmi. Dies war mein Bunker.“ Außerdem fanden wir mehrere Gegenstände, wie Münzen und Metallklammern, die wir im Rahmen der Ausstellung zusammen mit anderen Dokumenten und der Skulptur präsentierten. Gemeinsam mit Aleksandra Janus, mit der ich in diesem Fall zusammengearbeitet habe, sind wir derzeit dabei, am originalen Ort eine Gedenkstätte zu errichten, die an die Juden erinnert, die sich dort versteckt hatten. Sie soll dazu dienen, das Versteck zu erhalten.
DS: Können Sie mehr darüber sagen, was es bedeutet, eine solche Stätte auszugraben und im heutigen Polen des Holocausts zu gedenken?
NR: In den acht Jahren, in denen die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) regierte, wurde das Gedenken an den Holocaust immer schwieriger, da die Regierung den Schwerpunkt auf polnisches Leid und Heldentum legte. Forschungen über den Holocaust, die die polnische Beteiligung an diesen Verbrechen beleuchteten, wurden stark behindert und zeitweise sogar verfolgt.
Ein weiteres heikles Thema ist das Schicksal der sogenannten postjüdischen Grundstücke und Städte, die nach dem Holocaust von nichtjüdischen Bevölkerungsgruppen neu besiedelt wurden. Doch trotz des politischen Drucks setzten Organisationen wie das Polnische Zentrum für Holocaustforschung ihre Arbeit fort, ebenso wie viele andere Institutionen, NGOs, unabhängige Wissenschaftler und Aktivisten, die sich unermüdlich um die Aufdeckung und Bewahrung dieser Geschichte bemühen. Seitdem die PiS nicht mehr an der Macht ist, sind die Dinge glücklicherweise etwas einfacher geworden; die Zukunft bleibt jedoch aufgrund des zunehmenden Antisemitismus ungewiss.
Meine Forschungen wurden in Polen und in der Westukraine – die bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs zu Polen gehörte – mithilfe lokaler Partner wie dem Zentrum für Stadtgeschichte Ostmitteleuropas in Lviv durchgeführt. Es war ein grausamer Zufall, dass die Ausstellung, in der ich meine Ergebnisse präsentierte, im März 2022 in Warschau eröffnet wurde, kaum einen Monat nach Beginn der russischen Invasion in der Ukraine.
Auf jeden Fall habe ich den größten Teil meiner Forschungsmittel durch Stipendien aus Frankreich und Deutschland erhalten. Die Ausstellung wurde jedoch von der Nationalen Kunstgalerie Zachęta in Warschau und dem Zentrum für Zeitgenössische Kunst TRAFO in Stettin in Auftrag gegeben, die beide das Projekt mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützten.
DS: Ihre Arbeit scheint perfekt in die Kategorie des „artistic research“ zu passen? Beziehen Sie sich auf diese Kategorie? Was verstehen Sie darunter?
NR: Ich habe meinen MA in Politikwissenschaft in Warschau und Berlin abgeschlossen und arbeite seitdem als Künstlerin und Forscherin. Meine künstlerischen und architektonischen Interventionen, kombiniert mit Archivrecherchen und historischen Untersuchungen, bildeten den Kern meines Promotionsprojekts an der Bartlett School of Architecture in London, das von Jonathan Hill, Murray Fraser und François Guesnet betreut wurde.
Interdisziplinäre Studien und künstlerische Forschung haben meine Karriere stark beeinflusst, da ich an der Schnittstelle zwischen dem künstlerischen Bereich, dem akademischen Kontext und Museen arbeite. Als ich beispielsweise das Nomadic Shtetl Archive baute – ein mobiles, spiegelverkleidetes Fahrzeug, das ich in ehemals jüdischen Städten in Südostpolen einsetzte –, unterstützte dieses Kunstwerk meine Bemühungen, selbst hochsensible Themen wie die Rückgabe jüdischen Eigentums oder lokale Pogrome öffentlich zu behandeln. Auf der Grundlage archivalischer und architektonischer Recherchen konnte ich künstlerische Projekte schaffen, die wiederum zu Foren für die Auseinandersetzung mit lokalen Öffentlichkeiten wurden.
DS: Sie werden von Februar bis Juli 2025 Fellow am Wissenschaftskolleg sein. Was haben Sie während Ihres Aufenthalts vor?
NR: Ich habe viele Pläne. In den letzten vier Jahren habe ich während meiner Arbeit an den Architekturen des Überlebens mehr als 100 Aussagen von Holocaust-Überlebenden über Verstecke gesammelt. Die meisten dieser Orte existieren nicht mehr. Um ihr Andenken zu bewahren, möchte ich sie zeichnen, Modelle bauen und vielleicht ein Buch über sie schreiben. Ich bin auch daran interessiert, meine Forschungen auf die Gegenwart auszudehnen. Die Menschen nutzen weiterhin Verstecke und Schutzräume, zum Beispiel in der Ukraine.