„Definitionen sind keine letzten Wahrheiten“
Barbara Stollberg-Rilinger im Podcast „In aller Ruhe“ der Süddeutschen Zeitung im Gespräch mit Carolin Emcke. Der Podcast wurde im Frühjahr 2024 aufgezeichnet; die vorliegende Transkription ist gekürzt.
Carolin Emcke: Herzlich willkommen! Mein Name ist Carolin Emcke. Schön, dass ich Sie zu einer neuen Folge von „In aller Ruhe“, meinem Podcast für die Süddeutsche Zeitung, begrüßen darf. Diesmal ist Barbara Stollberg-Rilinger zu Gast. Mit ihr spreche ich über Wissenschaft und Forschung in Zeiten der Krise, über den Mikrokosmos des Wissenschaftskollegs, in dem Forscherinnen und Forscher aus der ganzen Welt zusammenkommen und eben auch die Krisen, die Gewalt, die Geschichte ihrer jeweiligen Herkunftsregionen mitbringen. Aber auch über die Bedeutung von Wahrheit und Wissenschaft in Zeiten von post-truth und über die Wissenschaftsfreiheit im Angesicht des Kriegs im Nahen Osten. Wie haben Sie in den letzten Jahren die verschiedenen Krisen unserer Zeit im Mikrokosmos des Wissenschaftskollegs erlebt?
Barbara Stollberg-Rilinger: Die Krisen der Welt bilden sich natürlich automatisch im Kolleg ab, weil wir Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus so vielen Ländern haben. Zum Beispiel laden wir jedes Jahr israelische Fellows ein, einfach weil in Israel sehr gute Wissenschaft gemacht wird. Wir laden aber auch Wissenschaftler aus China ein. Wir haben natürlich verstärkt Ukrainerinnen und Ukrainer aufgenommen und haben dafür auch ein spezielles Programm aufgelegt. Die Krisen kommen also gewissermaßen automatisch ins Wissenschaftskolleg, weil hochreflektierte, politisch interessierte, aber auch unmittelbar betroffene Menschen zu uns kommen. Einige von ihnen leiden unter politischer Verfolgung oder Ausgrenzung. Das gilt ja sogar für Wissenschaftler aus den USA, die uns immer wieder über besorgniserregende politische Zustände berichten und sich darüber austauschen wollen.
CE: Zum aktuellen Jahrgang 2023/2024 gehört auch eine russische Schriftstellerin, die im Februar 2022 ins Exil gegangen ist. Gleichzeitig sagen Sie, dass es am Kolleg auch vermehrt ukrainische Wissenschaftlerinnen gibt. Wie bildet sich das beim Mittagessen oder im Kolloquium ab? Ist das so, dass Sie einfach Gäste beherbergen, die unterschiedliche Verfolgungsgeschichten erlebt haben und die dann einfach nebeneinander forschen und wohnen? Oder werden solche Erfahrungen wirklich ins Gespräch gebracht?
BStR: Das ist fast unvermeidlich. Denn zum einen forschen einige der Fellows auch zu hochpolitischen Themen. So arbeitet zum Beispiel ein chinesischer Fellow, der nicht mehr in China lebt, zur Erinnerung an das Tian’anmen-Massaker. Und vor zwei Jahren hatten wir einen russischen Fellow, der auch nicht mehr in Russland lebte, der über die Putin’sche Kulturpolitik forschte. Zum anderen ist es aber auch so, dass Politik Tag für Tag an den Tischen im Restaurant thematisiert wird.
CE: Es ist also nicht so, dass die einen an einem und die anderen an einem anderen Tisch sitzen? Die Konfliktlinien im Wissenschaftskolleg verlaufen ja möglicherweise nicht nur zwischen Nationalitäten oder politischen Lagern, sondern auch zwischen Disziplinen.
BStR: Ja, die Wissenschaftskulturen haben oft mehr Verständigungsprobleme untereinander als Leute, die aus verschiedenen Weltgegenden kommen. Aber alles mischt sich mit der Zeit. Zum Beispiel hatten wir mehrere Ukrainerinnen hier und gleichzeitig zwei russische Fellows, die aber nicht mehr in Russland arbeiteten. Wir waren etwas skeptisch, ob die sich miteinander unterhalten würden. Dann kam noch ein russischer Exilant, der Schriftsteller Maxim Osipov, hinzu, der kurzfristig das Land verlassen hatte und zwar, weil er einen offenen Brief gegen den Krieg unterzeichnet hatte. Am Anfang gab es durchaus leichte Irritationen. Die Ukrainerinnen wollten kein Russisch hören und schon gar nicht russisch sprechen, was sie ja alle können. Aber das hat sich nach meiner Beobachtung irgendwann völlig gelegt, auch weil der russische Schriftsteller auf die Ukrainerinnen zugegangen ist und sehr viel Verständnis gezeigt hat. Ähnlich auch im letzten Jahr. Da hatten wir eine russische Exilschriftstellerin, Maria Stepanova, und eine unserer ukrainischen Gäste, Marianna Kiyanovska, eine Dichterin, war zufällig ihre Übersetzerin. Die waren also in gewisser Weise das ideale Fellow-Duo.
CE: Es hat sich ja bei Literatur- und Musikfestivals nicht nur in Deutschland, aber auch in den USA und in Frankreich, immer wieder die Frage gestellt, was man ukrainischen Künstlern zumuten kann. Gab es darüber bei Ihnen Diskussionen? Wie und von wem man sich abgrenzen soll? Was ist hier legitim?
BStR: Ja, solche Diskussionen gab es natürlich. Wir wollten natürlich auch den Ukrainerinnen, die gerade geflüchtet und häufig traumatisiert waren, nicht zumuten, eine Toleranz aufzubringen, die wir als Deutsche und Nichtbetroffene allzu leicht fordern. Wir wollten ihnen keine Erwartungen aufnötigen. Aber es hat sich herausgestellt, dass sich im Kolleg, wo ja anders als bei einem Festival das Gros der Begegnungen nicht auf einer Bühne stattfindet, Distanz und Abgrenzung mit der Zeit auflösen konnten. In der Öffentlichkeit ist das natürlich ganz anders. Ich erinnere mich an eine sehr einschlägige Erfahrung. Kurz nach dem Beginn der russischen Invasion gab es auf Einladung des Bundespräsidenten ein Solidaritätskonzert der Berliner Philharmoniker im Schloss Bellevue. Die Philharmoniker waren die Gastgeber und es wurden geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer eingeladen, unter anderem auch aus unserer Gruppe. Ich habe auch unseren russischen Putingegner mitgenommen, über den wir schon sprachen. Es war dann sehr traurig zu sehen, dass dieses Solidaritätskonzert vom damaligen ukrainischen Botschafter als Ohrfeige ins Gesicht der Ukrainer betrachtet wurde, weil da unter anderem ein oder zwei russische Solisten mitmusizierten. Anwesend war auch der ukrainische Komponist Valentin Silvestrov, der sich ebenfalls gerade bei uns aufhielt und der sogar eine Art inoffizielle ukrainische Nationalhymne komponiert hatte. Wegen ihm waren wir überhaupt eingeladen. Aber der hatte überhaupt kein Problem mit den russischen Solisten. Ich fand es traurig, dass der Botschafter eine solche Geste der Solidarität zurückwies. Aber ich habe leicht reden. Natürlich würden wir keine Unterstützer von Putin einladen. Aber russische Dissidenten einzuladen, ist auf jeden Fall unsere Politik. Am Ende steht es den Menschen aus dem angegriffenen Land natürlich frei, mit wem sie sich an einen Tisch setzen wollen.
CE: Gilt das auch für Einladungen aus China? Aus Iran? Aus Israel?
BStR: Der Nahostkonflikt lässt sich derzeit natürlich nirgends ausschließen. Er beherrscht die Debatte, überall, an jedem Tisch. Zufällig ist es in diesem Jahr (2023/2024) so, dass wir zwei israelische Fellows haben und auch jüdische Fellows aus verschiedenen anderen Ländern, aber weder einen palästinensischen noch einen arabischen Fellow. Wir haben eine iranische Filmemacherin, die aber als Verfolgte des Regimes von den israelischen Fellows mit offenen Armen und großer Solidarität empfangen worden ist. Als ich damals selber Fellow war, war ein Paar eingeladen: Er war ein palästinensischer Menschenrechtsanwalt; sie jüdische Amerikanerin. Damals gab es überhaupt keine Probleme. Wie das heute aussähe, kann ich natürlich nicht beurteilen. Im Jahr 2024/2025 werden israelische, jüdische und palästinensische Fellows da sein. Alle wurden schon lange im Voraus eingeladen, vor dem 7. Oktober 2023. Da werden wir sehen, wie es sich entwickelt.
CE: Wie wird der Nahostkonflikt zum Thema? Wie ist die Diskussionskultur? Wie verteilt sich die Anteilnahme?
BStR: Derzeit haben wir, wie gesagt, zwei israelische Fellows, die auch beide zufälligerweise sehr einschlägige Themen bearbeiten: die israelische Anthropologin Michal Kravel-Tovi, die über jüdische Identität in Amerika arbeitet, und Omri Boehm, derzeit auf allen Podien, Preis der Leipziger Buchmesse für europäische Verständigung, der über Universalismus und über israelische Staatlichkeit arbeitet. Michal, die persönlich vom 7. Oktober betroffen war, wollte darüber zunächst nicht öffentlich sprechen, weil es zu nah war. Aber nach ein paar Wochen haben wir dann mit den beiden eine öffentliche Paneldiskussion veranstaltet und versucht, das Thema auf einer eher deskriptiven Ebene zu behandeln. Die große Frage, wie der Nahostkonflikt gelöst werden kann, blieb dabei ausgespart. Aber es wurde beschrieben, was der 7. Oktober mit den Menschen in Israel macht, mit ihrem Verhältnis zu Staat und Regierung. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass man Konflikte diskursiv angehen kann und muss. Insofern ist das Wissenschaftskolleg natürlich eine privilegierte Einrichtung, denn wir haben hier lauter Leute, die grundsätzlich davon überzeugt sind, dass man über Probleme rational sprechen kann und dass man Gründe und Argumente anführt. Wir sind also nicht, wie das leider zunehmend in der Öffentlichkeit der Fall ist, in einer Lage, wo man damit rechnen muss, dass auf einmal Leute brüllen oder sich womöglich tätlich angreifen oder Positionen vertreten, die man nicht als Meinungsäußerung betrachten kann, sondern nur noch als Hatespeech. Außerhalb des Kollegs passiert das unseren Fellows aber durchaus: Ein amerikanisch-jüdischer Kollege lief am Schabbat mit seiner Familie von der Synagoge zurück nach Hause. In der Koenigsallee wurde er von ein paar pubertierenden Rüpeln umkreist, die den Hitlergruß machten.
CE: Pubertierende Rüpel? Das ist aber einigermaßen harmlos beschrieben. Man könnte auch von einem widerwärtigen antisemitischen Übergriff sprechen.
BStR: Absolut. Dass das 13- oder 14-Jährige waren, ist natürlich überhaupt keine Entschuldigung. Wir haben den Vorfall auch zur Anzeige gebracht und sind mit dem Wissenschaftler zur Polizei gegangen, damit er seine Aussage machen kann. Er hat sich zu meiner großen Freude außerordentlich positiv über den deutschen Hauptkommissar geäußert, der den Fall sehr ernst genommen hat.
CE: Machen Fellows, die bei Ihnen aus unterschiedlichsten Weltregionen zu Gast sind, in der Öffentlichkeit häufiger rassistische Erfahrungen? Wie spiegeln die Fellows die deutsche Gesellschaft?
BStR: Also das ist der einzige Fall, von dem ich persönlich weiß. Ich denke, dass die Fellows eine eingeschränkte Wahrnehmung von Deutschland haben, weil sie hier in einem relativ geschützten Raum leben, in einer gutbürgerlichen Gegend, wo solche Vorfälle, wie ich sie eben beschrieben habe, sehr selten sind. Ich denke, die meisten Fellows gehen mit einem eher positiven Bild von Berlin und Deutschland nach Hause. Es gibt auch fast jedes Jahr Fellows, die Nachkommen von Vertriebenen oder von Holocaustopfern sind, die hier nach ihren Wurzeln suchen. Manche nehmen sogar die deutsche Staatsbürgerschaft an. Wir können hier mit den Recherchen und den Verfahren helfen.
CE: Nun erleben wir in den letzten Jahren natürlich in vielen Ländern der Welt, dass es eine sehr starke Anfechtung dessen gibt, was die Aufklärung an Methodik entwickelt hat, was Standards von Wissenschaftlichkeit sind, was Kriterien für Wahrheit sind. Können Sie sagen, wie Sie diese Entwicklungen der letzten Jahre beobachtet haben?
BStR: Das ist ein weites Feld und man kann nicht anders, als das ausgesprochen bedrohlich zu finden. Natürlich gibt es sehr unterschiedliche Bedrohungen der Wissenschaftsfreiheit, von außen und von innen. Und sie sind in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ausgeprägt. Um das ein bisschen zu ordnen, könnte man mit den Ländern anfangen, in denen es keine Wissenschaftsfreiheit gibt. Dazu gehört mittlerweile leider auch ein EU-Mitglied wie Ungarn. Gewiss, man lässt dort der Wissenschaft noch ein paar Freiräume. Aber in dem Moment, wo geringe Freiräume nur noch gnädigerweise eingeräumt werden, gibt es in meinen Augen keine Wissenschaftsfreiheit mehr. Daneben gibt es Länder, in denen die Wissenschaftsfreiheit nur partiell eingeschränkt ist. Zum Beispiel bei uns und deutlich stärker in den USA. Die Bedrohung kommt von zwei Seiten. Zum einen von oben, von staatlicher Seite, indem bestimmte Fächer oder Forschungen nicht mehr finanziell unterstützt werden. Zum anderen von innen, weil Gruppen in wissenschaftlichen Einrichtungen Druck ausüben.
CE: Könnten Sie hier Beispiele nennen?
BStR: In den USA sind in einigen republikanisch beherrschten Staaten Gender Studies von Hochschulen verdrängt worden. Bücher zur Critical Race Theory wurden aus öffentlichen Bibliotheken entfernt. Es ist auch fatal, dass man mancherorts verlangt, dass Kreationismus gleichberechtigt neben Evolutionstheorie an den Universitäten oder in Schulen gelehrt werden soll. Dann gibt es eine in meinen Augen auch besorgniserregende Entwicklung, die ich als identitär bezeichnen würde. Nämlich die Vorstellung, dass die Sprecherposition, die man einnimmt, entscheidend ist für die Gültigkeit dessen, was man sagt. Also in karikaturistischer Verkürzung: über Farbige dürfen nur noch Farbige forschen.
CE: Vielleicht können wir mal ohne Karikatur sprechen. Mein Eindruck ist, dass in dieser Diskussion die Wissenschafts- und Meinungsfreiheit gegen die Anerkennung von Strukturen der Missachtung, die Anerkennung von rassistischen Strukturen oder die Anerkennung von historischem Unrecht ins Feld geführt werden.
BStR: Ja, das stimmt.
CE: Wie würden sie es ohne Karikatur beschreiben?
BStR: Ich kann ein Beispiel nennen. Wenn man zum Beispiel sagt: Aristoteles war ein Frauenverächter und ein Befürworter der Sklaverei, deswegen wollen wir uns mit Aristoteles nicht weiter beschäftigen. Das halte ich für vollkommen absurd, weil man ja aus der Geschichte nicht nur noch das zur Kenntnis nehmen kann, was den Maßstäben unserer heutigen moralischen Vorstellungen entspricht.
CE: Selbstverständlich muss man sich mit Aristoteles befassen! Und zwar nicht, obgleich er Positionen vertreten hat, die wir heute ethisch für nicht akzeptabel halten, sondern gerade weil er das getan hat. Die eine Frage lautet: Legen wir den heutigen politischen oder ethischen Standard an beim Blick auf historische Texte oder Figuren? Und die andere Frage ist: Sind auch Positionen oder Argumente oder Texte, die antisemitisch, rassistisch, queerfeindlich sind, trotzdem interessant? Sind sie notwendig zum genaueren Verständnis dessen, was Rassismus ist, oder zum genaueren Verständnis, was Misogynie ist?
BStR: Man darf Themen nicht grundsätzlich tabuisieren, obwohl man gleichzeitig natürlich die Grundregel immer beachten muss, dass man einander mit Respekt behandeln und bestimmte, eindeutig artikulierte Sensibilitäten berücksichtigen muss. Es ist für mich vollkommen klar, dass man heute bestimmte Wörter nicht in den Mund nehmen sollte, wenn man weiß, dass die Betroffenen sie als verletzend empfinden. Das versteht sich von selbst. Das heißt aber nicht, dass man die Verwendung dieser Wörter in der Geschichte ausradieren kann.
(...)
CE: Ich gebe allerdings zu, dass es ein Niveau an Blödheit, an Bösartigkeit oder manipulativer Rhetorik gibt, auf das ich keine Lust habe mich einzulassen. Diese Art von Gespräch bringt dann auch keinerlei Erkenntniswert und es droht eine Form von Normalisierung. Es gibt Grenzen dessen, was ich für diskutabel halte.
BStR: Da sind wir uns völlig einig. Deswegen bin ich zum Beispiel auch nicht in den sozialen Medien, weil ich das einfach gar nicht ertrage. Aber wir sprechen ja über Wissenschaftsfreiheit, über den geschützten Raum der Wissenschaft und über die Bereitschaft, in diesem Raum über jedes Thema, und sei es noch so unangenehm, zu sprechen. Sonst könnte man ja auch keine Bücher mehr über Adolf Hitler schreiben. Aber im Raum der Wissenschaft bedeutet das dann ja immer auch Argumentieren nach bestimmten Standards, anhand empirischer Belege etc. Ich möchte noch ein anderes Thema nennen, das oft zu Konflikten führt: Rund um den Begriff „Gender“ beobachte ich zwischen den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften ein riesiges Verständnisproblem, das auch politisch bewirtschaftet wird. Das Wissenschaftskolleg ist ein hervorragender Ort, um diese Missverständnisse überhaupt erst mal zu identifizieren und zu fragen: Hat die andere Wissenschaftskultur nicht vielleicht doch hier und da einen Punkt? Wir haben dafür das sogenannte Three Cultures Forum eingerichtet, wo sich Vertreter der drei großen Wissenschaftskulturen austauschen können. Bei den Begriffen „sex“ und „gender“ ist es natürlich besonders virulent. Wo sind die Grenzen der biologischen Determiniertheit und wo fängt die kulturelle Konstruktion an? Und da ist es wirklich interessant zu sehen, welche Argumente die Biologen oder die Kulturanthropologen ins Feld führen. Das war auch beim Begriff „race“ fruchtbar. Mittlerweile hat es sich herumgesprochen, dass die Biologen überhaupt nichts von der Kategorie Rasse halten. Für die ist es klar, dass Rassen konstruiert werden, dass ihnen kein biologischer Sachverhalt zugrunde liegt, wie man vielleicht als Laie denken würde. Solche Missverständnisse kann man im vernünftigen Gespräch aufklären, Neugier auf die andere Seite entwickeln, und sich dann langsam zu dem Punkt vorarbeiten, an dem möglicherweise wirklich unterschiedliche Interessen oder unterschiedliche politische Haltungen vorliegen.
CE: Ich finde es sehr schön, dass Sie langsam gesagt haben, weil ich das für eine der wesentlichen Bedingungen für eine vernünftige Gesprächskultur halte. Verstehen ist eben auch Arbeit. Das dauert. Urteile fällt man am besten nicht ad hoc. Aber lassen Sie mich noch eine verwandte Frage stellen: Wie viele Sprachregelungen, aber vielleicht auch wie viele gesetzliche Vorgaben braucht es, um Hatespeech, antisemitische, rassistische, queerfeindliche Ressentiments einzuhegen? Und umgekehrt: Wie viel Diskurs braucht es, wie viel Auseinandersetzung?
BStR: Es ist eine Gratwanderung. Einerseits ist es natürlich absolut wichtig, massiv gegen all die erwähnten gruppenspezifisch menschenfeindlichen Äußerungen vorzugehen. Aber mit Mitteln, die auch wirklich helfen, also mit den Mitteln der Aufklärung, mit den Mitteln der Bildung. Verbote können allzu leicht missbraucht werden, man kann damit politisch sehr viel Unfug machen. Es besteht immer die Gefahr, dass man, wenn man Meinungsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit verteidigt, immer nur die eigene meint und nicht die der Gegenseite. Und das ist falsch. Konkret sehe ich ein Problem darin, dass man jetzt in der guten und wichtigen Absicht, etwas gegen die massive Zunahme von Antisemitismus zu tun, durch Verbote Tür und Tor öffnet für Leute, die sich das zunutze machen können und die ganz andere Absichten haben, als den Antisemitismus zu bekämpfen.
CE: Sie meinen die AfD?
BStR: Genau. Bei der AfD gibt es manifeste Antisemiten. Und die aktuelle politische Tendenz, die Grenze zwischen „Israelkritik“ und Antisemitismus zu verwischen, kommt der AfD überaus gelegen. Schon jetzt führt diese Tendenz zu absurden Effekten, wenn etwa jüdische Kulturschaffende von Einschränkungen oder dem Entzug von Förderung betroffen sind.
CE: Was heißt in diesem Kontext Israelkritik? Meint es, dass das gesamte Land Israel kritisiert oder seine Existenz infrage gestellt wird? Oder geht es um konkrete politische Maßnahmen der Regierung, etwa bei der Kriegsführung in Gaza? In diesem Kontext muss man die spezifische Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Association erwähnen. Ich würde gerne nachfragen, ob denn deren Problem in einer zu weiten Definition liegt, weil dadurch Kritik am Regierungshandeln in Israel für antisemitisch erklärt werden kann. Oder ist das Problem grundsätzlicher? Ist es nicht überhaupt problematisch, dass die deutsche Regierung eine substanzielle Definition von Antisemitismus vorgeben und dann sagen kann: Wer sich nicht dieser Definition anschließt, der kann keine Fördergelder bekommen; Gäste, die sich dieser Definition nicht unterordnen, können nicht eingeladen werden? Ist nicht an sich die Übergriffigkeit des Staates zu kritisieren, der in ein Forschungsfeld sozusagen hineinregieren will?
BStR: Bei allem Verständnis für den Kampf gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – es ist vollkommen abwegig, dass Politik der Wissenschaft Definitionen vorgibt und Bekenntnisse verlangt. Ich glaube, in Berlin, wo ja derzeit eine Klausel zur Regulierung für den Kulturbetrieb diskutiert wird, stand dahinter das Bedürfnis der Senatsbürokratie, sich nach dem Skandal um die Documenta abzusichern. Man wollte sagen können: Die Leute, die wir da fördern, haben doch angekreuzt, dass sie keine Menschenfeinde sind! Das ist aber nicht akzeptabel, und zwar grundsätzlich nicht. Hier wäre es völlig unproduktiv, eine Definition, wie viel Mühe man sich mit der auch immer gemacht haben mag, als eine Maßgabe vorzugeben, auf die man dann Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler festlegen kann. Definitionen sind in wissenschaftlichen Zusammenhängen immer Arbeitsinstrumente, keine letzten Wahrheiten. Sie müssen jederzeit anfechtbar und korrigierbar sein, wie alle wissenschaftlichen Aussagen, die ja gerade dadurch wissenschaftlich werden. Sonst haben wir es mit quasireligiösen Dogmen zu tun.
CE: Jetzt haben wir mehrere Situationen erlebt, bei denen Wissenschaftlerinnen, Schriftstellerinnen, Künstlerinnen – zuletzt auf der Berlinale, vorher Masha Gessen beim Hannah-Arendt-Preis – abgesagt wurde. Und wenn wir jetzt das jüngste Beispiel der Berlinale nehmen, sind eben die Filmschaffenden nach Israel zurückgekehrt und dann dort massiv bedroht worden, weil sie hier in der Öffentlichkeit als mutmaßlich antisemitisch bezeichnet worden sind. Wenn wir diese verschiedenen Fälle, die sicherlich alle sehr unterschiedlich gelagert sind, betrachten, dann ist es ist nötig und es lohnt sich, die sehr genau, eben langsam, im Einzelnen sich anzuschauen. Aber es gibt im Ausland jetzt vermehrt die Sorge, ob es überhaupt noch ratsam ist, für einen Vortrag oder ein Festival nach Deutschland zu kommen. Die Chance, dass man hierzulande öffentlich diskreditiert, ausgestellt oder gebrandmarkt wird, ist recht hoch. Hören Sie das im Kolleg auch schon? Wie gehen Sie damit um?
BStR: Also bis jetzt glücklicherweise noch nicht. Ich meine, wir haben ja die völlig groteske Situation, dass Leute zum einen befürchten müssen, in Deutschland antisemitisch angegriffen zu werden, und andererseits sich zugleich Sorgen machen müssen, selber als Antisemiten diskreditiert zu werden. Das ist natürlich eine absurde Situation, die unter anderem aus der deutschen Geschichte erklärbar, aber trotzdem nicht hinnehmbar ist. Das ist nicht der richtige Weg, weil wir damit in erster Linie eigentlich unsere eigene Schuld bewältigen wollen und das in einer Weise machen, die ich für eine moralische Anmaßung halte. Letztlich nimmt man in Deutschland eine Haltung moralischer Überlegenheit ein, die man dann ausgerechnet jüdischen Kolleginnen und Kollegen vorhält. Von denen verlangt man dann, deutschen Vorstellungen zu entsprechen. Natürlich trifft das nicht nur jüdische Kolleginnen und Kollegen, sondern erst recht muslimische oder palästinensische.
CE: Die Vorstellung, dass man die deutsche Geschichte bewältigen könne, ist schon der Grundirrtum, und auch die Vorstellung, dass sich die deutsche Schuld in irgendeiner Weise abarbeiten ließe. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas wie ein Haltbarkeitsdatum der Erinnerung gibt. Sie ist für jede Generation erneut verpflichtend. Vor diesem Hintergrund müssen wir die Auseinandersetzungen über den Nahostkonflikt aushalten. Ich glaube, es gibt dafür keine Abkürzungen. Die Vorstellung, dass bestimmte Positionen nicht in der Öffentlichkeit hörbar sein dürfen, scheint mir das Problem zu sein. Ich möchte, dass wir diskutieren können, und zwar mit internationalen Normen, mit Begriffen, die uns gegeben sind, und dass wir aussagekräftige Vergleiche anstellen. Das bringt uns weiter in der Auseinandersetzung oder es bringt uns ab von ihr, aber nicht das Vergleichen an sich oder das Anwenden oder Ausprobieren eines einzelnen Begriffs. Was riskieren Sie eigentlich, wenn Sie jemanden einladen, von dem oder von der Sie wissen, dass er oder sie eine Position vertreten wird, die mit viel Kritik rechnen muss? Schauen Sie sich an, ob eine eingeladene Person sich gerade in den sozialen Medien zum Nahen Osten geäußert hat? Prüfen Sie Verbindungen zur BDS-Bewegung? Wie bereiten Sie sich auf den Vorwurf vor, sich überhaupt eine solche Position ins Haus geladen zu haben? Was raten Sie anderen Kulturinstitutionen?
BStR: Das ist eine sehr schwierige Frage, die man nicht abstrakt und allgemein beantworten kann. Es ist wirklich eine Einzelfallabwägung. Also wir sind Gott sei Dank bisher noch nicht in dieser Lage gewesen. Das heißt aber natürlich nicht, dass uns das nicht passieren kann. Grundsätzlich muss gelten, dass das Wissenschaftskolleg ein geschützter Raum ist und bleibt. Wir sind ja nicht wie eine Universität ganz und gar öffentlich, sodass Studierende und Öffentlichkeit zu allem zugelassen wären, sondern wir können ja unsere Öffentlichkeit gut dosieren und kontrollieren. Dieser offene Raum, dieser Safe Space muss bewahrt werden, und es müssen da auch Positionen vertreten werden können, die wir nicht teilen. Ob wir denen dann eine öffentliche Bühne bieten oder nicht, ist wieder eine ganz andere Frage. Da würde ich sehr vorsichtig sein. Man muss ja selbst mit dem einen oder anderen AfD-Mitglied reden können, aber man würde den oder die nicht auf eine öffentliche Bühne im Wissenschaftskolleg setzen.
CE: Also gibt es eben doch schon Grenzen des Sagbaren. Es gibt antidogmatische Standards. Das beginnt mit dem Standard der Kritikfähigkeit. Habe ich es hier mit einer Position oder einer Person zu tun, mit der mit kritischen Einwänden noch ein Diskurs zu führen ist? Oder bin ich mit ressentimentgeladener dogmatischer Denkverhinderung konfrontiert?
BStR: Die Wissenschaftsfreiheit ist nicht grenzenlos. Das ist überhaupt keine Frage. Und die Wissenschaftsfreiheit ist – wie alle anderen Freiheiten – nicht isoliert oder absolut, sondern sie ist immer begrenzt durch andere Freiheiten. Es gibt dieses wissenschaftliche Selbstverständnis, dass man als Wissenschaftlerin Aussagen nicht einfach so bestreiten kann, man muss seine Einwände begründen können. Das ist der Kern des wissenschaftlichen Ethos. Am Ende ist natürlich jede Norm dadurch gekennzeichnet, dass sie auch übertreten werden kann. Aber zumindest als Norm muss sie von einer Mehrheit geteilt werden. Wir leben allerdings in einer Zeit, in der eben bestimmte Grundnormen nicht mehr geteilt werden. Dazu gehört auch die Norm, dass man eine Lüge eine Lüge nennt und sich bemüht, zwischen Lüge und Wahrheit zu unterscheiden. Wenn diese Vorstellung nicht mehr geteilt wird und es gleichgültig ist, ob man lügt, obwohl es offensichtlich ist, dass man lügt, dann gibt es eben keine gemeinsame Grundlage mehr. Im Wissenschaftskolleg ist das noch nicht vorgekommen; in dieser Hinsicht sind wir nicht sehr divers.
CE: Das war mir jetzt noch einmal wichtig festzuhalten. Ganz herzlichen Dank, Barbara Stollberg-Rilinger, und vielen Dank an das gesamte Team der Süddeutschen Zeitung.
Den ungekürzten Podcast „Definitionen sind keine letzten Wahrheiten“ der Süddeutschen Zeitung können Sie hier nachhören.