Marta Petrusewicz, Ph.D.
Professorin der Geschichte
City University of New York
Born in 1948 in Warsaw, Poland
Studied Economic History at the University of Warsaw and at the University of Bologna
Arbeitsvorhaben
Ex-zentrisches Europa: alternative Modelle von Fortschritt [Idee und Praxis] an den Peripherien im 19. Jahrhundert: Irland, Norwegen, Polen und die beiden Sizilien
After the Congress of Vienna, significant segments of agrarian elites in the peripheral areas of Europe seriously addressed the challenge of "modernization". While firmly believing in the imperative of "modernity", they proceeded about the task in ways both indigenous and consciously opposed to the "Manchester-like" civilizational model, seeking instead an alternative modelof "harmonious progress". Their writings, debates, projects and practices amounted, I claim, to a tangible and widespread phenomenon during the decades 1820-1870, to what appeared then as a viable, land-based alternative to industrial capitalism.
This project is also an attempt at a comparative history based on a geometrie variable, that is with no strategic priority assigned to one explicit or implicit model. The four historical cases under examination, at the four extremes of Europe - Ireland, Norway, Poland and the Two Sicilies - are seen as parallel in their historical journeys, connected through mutual awareness and communication, but they remain distinct in their local cultures. The comparative method proposed here will use concepts elaborated within one culture to unlock different meanings in another, in a circular, non-binary way. Thus, one culture's emic
becomes another's etic.
Recommended Reading
Petrusewicz, Marta. Latifundium: Moral Economy and Material Life in a 19th-Century Periphery. Ann Arbor: University of Michigan Press, 1996.
-. Come il Meridione divenne una Questione. Rappresentazioni del Sud prima e dopo il Quarantotto. Soveria Manelli: Rubettino, 1998.
-. "The Modernization of the European Periphery, or Ireland, Poland and the Two Sicilies, 1820-1870: Parallel and Connected, Distinct and Comparable." In Europe in Cross-National Perspective, edited by Deborah Cohen and Maura O'Connor. London and New York: Routledge, 2004.
Kolloquium, 20.02.2007
'Die natürliche Ordnung der Dinge': Harmonische Modernisierung oder die letzte Schlacht der ländlichen Eliten um die Vorherrschaft
Modernisierung ist sowohl ein verzwickter Begriff als auch ein äußerst hegemoniales Konzept. Nachdem der Begriff "Moderne" im Europa des 17. Jahrhunderts entstanden war, wurde er zum Maßstab für die Vergangenheit und die Gegenwart. Auch wurde die Moderne zum Ziel, das durch den Prozess der "Modernisierung" erreicht werden sollte - durch eine Reihe von Veränderungen, die einer deutlich evolutionären und auf Zuwachs ausgelegten Kurve folgten (Zunahme der Vernunft, Bevölkerungswachstum, zunehmende Urbanisierung und Produktion etc.). Andererseits wurde die Modernisierung in Modernisierungs- oder Entwicklungstheorien formalisiert, die sich zunehmend als normativ und mechanisch zeigten: sie gingen davon aus, dass sich ein einziges Modell der Modernisierung (üblicherweise England) auf alle anderen Gesellschaften übertragen ließe und dass jede Gesellschaft die gleichen Phasen der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Veränderungen vom Traditionellen zum Modernen durchlaufen müsse. Daher wurde ein historisch spezifischer Transformationsprozess zum Maßstab für alle Gesellschaften in der Vergangenheit wie Gegenwart. Zudem beanspruchte eine so verstandene "Modernisierung" alleinige Gültigkeit und tilgte alle älteren Auffassungen dieses Konzepts.
Die Modernisierungstheorien wurden von vielen Seiten heftig kritisiert (Abhängigkeit, Weltsystem, subaltern studies etc.), und zu Ende der 80iger Jahre erklärte man sie und mit ihnen den Begriff der Modernisierung als ziemlich wertlos. In jüngster Zeit ist die Modernisierung im sehr viel flexibleren "Flickenteppichkonzept" der "multiplen Moderne" zurückgekehrt - die Veränderungen mögen parallel, aber müssen nicht konvergent sein; Unterschiede sind von Bedeutung und werden positiv bewertet.
Ich vertrete die These, dass das Europa des 19. Jahrhunderts (vom Ende der Napoleonischen Kriege bis in die 1870iger Jahre) sowohl als Vision als auch durch eine Reihe von Praktiken ein spezielles Modernisierungsprojekt verfolgte. Dieses Projekt entstand in und für die ländlichen Gegenden Europas, d. h. für den allergrößten Teil des Kontinents. Es strebte nach "Fortschritt" und "Modernisierung", verstand diese aber ganz anders als das "Manchesterparadigma" der Modernisierung. Ich verwende den Ausdruck "harmonische Modernisierung", um diese alternative Vision und Praktiken zu bezeichnen, denn die Modernisierer sahen ihre Handlungsweisen als etwas, das (in Anlehnung an Adam Smith) der "natürlichen Ordnung der Dinge" entsprach.
Ich verfolge das Projekt "harmonische Modernisierung" hier anhand von vier Fallstudien: Irland (Westen), Norwegen (Norden), Polen (Osten) und das Königreich beider Sizilien (Süden). Jedes dieser Länder bzw. Gebiete repräsentiert "periphere Bedingungen": a) im topographischen Sinn, weil sie die abgelegensten, aber dennoch vollkommen integrierten Regionen innerhalb der genau definierten Grenzen Europas konstituieren; b) im strukturellen Sinn, weil dies Orte landwirtschaftlicher Produktion sind und dort auch Rohstoffe für den Export in das kapitalintensiven Kernland gewonnen werden; c) im politischen Sinn peripher - ohne 'indigenen' Staat oder einem schwachen Staat, der nur im eingeschränkten Maß autonom ist.
Die harmonische Modernisierung wurde vor allem von den ländlichen Eliten in Europa befürwortet, die nach dem Wiener Kongress teilweise wieder in ihre alten Rechte eingesetzt wurden und die Sicherheit ihres Landbesitzes durch die Monarchie gewährleistet sahen. Die Wiederherstellung der Monarchie schuf Raum für Reformen, und auch für fremde Herrscher waren die ländlichen Eliten die einzig möglichen 'indigenen' Partner, da sie die kulturelle Hegemonie in ihren Gesellschaften hatten (bei einem schwachen Stadtbürgertum und Industrien, die meistens in ausländischer Hand waren).
Nach 25 Jahren unter napoleonischer Herrschaft waren diese ländlichen Eliten bereit, gesellschaftliche und politische Verantwortung zu übernehmen und ihre herausgehobene Position mit Arbeit und Leistung zu legitimieren. Indem sie Privilegien in Leistungen umwandelten und mit Arbeit und Pflicht das verdienen wollten, was sie geerbt hatten, unternahmen diese Modernisierer den letzten kollektiven Versuch, die Herrschaft des Landadels in Europa aufrecht zu erhalten. Sie handelten also gewissermaßen im Interesse ihrer ganzen Klasse.
In ihrem Projekt wurde die "Manchesterkultur" mit ihrer Konzentration in den Städten, der Polarisierung der Klassen und der Fabrikproduktion für den Export als historisch "verkehrt" und wirtschaftlich unsolide zurück gewiesen; überdies wurde sie als etwas betrachtet, das das gesellschaftliche Gefüge zerstört. Stattdessen machten sie sich für eine langsame und allmähliche Modernisierung stark, die von einer wohl organisierten Landwirtschaft ausgehen sollte und zu einer angemessenen Entwicklung der lokalen Manufakturen und stetig wachsendem Handel führen sollte. In einer verbesserten Version sollte die "harmonische Modernisierung" die bestehenden sozialen und familiären Hierarchien bewahren und die Harmonie (wieder)herstellen: die gesellschaftliche Harmonie zwischen den Klassen, zwischen Wirtschaft und Natur, zwischen Veränderung und Kontinuität der lokalen Geschichte und die Harmonie zwischen Kunst und Industrie. Das Projekt der harmonischen Modernisierung ging weit über den Antiindustrialismus der frühen Sozialisten oder der Tories (Carlyle) hinaus, denn es sollte nicht nur ein Mittel für den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fortschritt sein, sondern darüber hinaus und mehr als alles andere zur moralischen und nationalen Erlösung führen.
Die Modernisierer bedienten sich vieler Vehikel, um ihre Vision zu verbreiten - wirtschaftliche und landwirtschaftliche Vereine, Landwirtschaftsschulen und -akademien, Periodika, Messen und Wettbewerbe etc. Ich möchte hier nur eine und die ungewöhnlichste Verbreitungsmöglichkeit beleuchten, die ich als "normative Literatur" (Romane) bezeichne.
Harmonische Modernisierer hielten ihr "Projekt" nicht nur für realisierbar, sondern auch für vernünftiger und stabiler als das "englische Modell", und sie verfolgten ihr Vorhaben (obwohl von der Revolutionswelle 1848 in Mitleidenschaft gezogen) bis in die 1860iger Jahre, als der industrielle Kapitalismus (Schumpeter) die Herrschaft in Europa übernahm und die agrarische Welt, so wie die Modernisierer sie erträumten, unterging. Dies impliziert jedoch, dass die gängige Chronologie des Industriezeitalters einer gründlichen Revision unterzogen werden muss.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Petrusewicz, Marta (2009)
La modernizzazione che venne dal Sud
Petrusewicz, Marta (Bologna, 2009)
I Sud : conoscere, capire, cambiare Percorsi
Petrusewicz, Marta (2008)
Petrusewicz, Marta (2007)
Petrusewicz, Marta (Warszawa, 2000)
Irlandzki sen : życie Konstancji Markiewiczowej - komediantki IRA (1868 - 1927) Un sogno irlandese
Petrusewicz, Marta (Soveria Mannelli (Catanzaro), 1998)
Come il Meridione divenne una Questione : Rappresentazioni del Sud prima e dopo il Quarantotto Saggi
Petrusewicz, Marta (Roma, 1998)
Un sogno irlandese : la storia di Constance Markiewicz, comandante dell'Ira (1868-1927) Società narrata
Petrusewicz, Marta (Ann Arbor, 1996)
Latifundium : moral economy and material life in a European periphery Latifondo <engl.>
Petrusewicz, Marta (Venezia, 1989)
Latifondo : economia morale e vita materiale in una periferia dell'Ottocento Saggi