Rüdiger Campe, Dr. phil.
Professor der Germanistik
Yale University
Geboren 1953 in Hagen i. W., Deutschland
Studium der Germanistik, Altphilologie und Philosophie in Bochum, Freiburg/Breisgau, Paris
Arbeitsvorhaben
Lichtenbergs "Sudelbücher" am Ende der Epoche der Evidenz
Der Göttinger Physiker, Philosoph und Literat Lichtenberg ist wohl der letzte - deutsche - Repräsentant einer großen Tradition, die exakte Wissenschaft und Literatur verknüpfte. Schreiben und Rechnen, philosophische Reflexion und Kalkül gingen programmatisch Verbindungen ein von Pascal und Hobbes über Leibniz und Haller, zu d'Alembert, Diderot bis Lichtenberg. Diesem alpha-numerischen Schreibraum und seinen Voraussetzungen ist das Projekt zunächst gewidmet. Lichtenbergs wichtigste Hinterlassenschaft in diesem Zusammenhang ist nun kein abgeschlossener Text, sondern das Corpus der "Sudelbücher". Sie stehen auf der Grenze zwischen Exzerpier- und Notationspraktiken der früheren Neuzeit und dem romantischen Aphorismus.Die Untersuchung dieses besonderen Werks - das nie als Werk geplant war - möchte ich verknüpfen mit einer These zur Wissenschaft und ihrer Darstellung im 17. und 18. Jahrhundert. Seit Descartes und bis in die frühen Schriften Kants ist Evidenz das zentrale Wort zur Kennzeichnung der epistemologischen Lage in Europa gewesen. Die antik-scholastische Ontologie hatte sich aufgelöst: Substanz und Kontingenz, scientia und historiae teilten nicht mehr das Wissen und seine Praktiken unter sich auf. In dieser Lage steht die Frage nach der einen Gewissheit und den vielfachen Verfahren ihrer Sicherung an. Auf der anderen Seite ist für die Frage nach der Erkenntnis und ihren Pragmatiken noch keine systematische Lösung aufgestellt, wie es Kant und die französischen "Ideologues" tun werden. Evidenz bezeichnet die Dringlichkeit und die Offenheit der Frage, was Gewissheit und Intuition sind und wie sich die Verfahren ihrer Herstellung und Messung zu ihnen verhalten.
Lichtenbergs "Sudelbücher" bilden einen einmaligen Schauplatz, von dem aus man zu den Voraussetzungen und Verzweigungen dieser großen Umorientierung in Wissen und Schreiben ausgreifen kann. Es geht um die Lektüre eines einmaligen literarischen Werkes - und darin um die Frage nach der Evidenz, die bis heute nicht abgetan ist.
Lektüreempfehlung
Campe, Rüdiger. Spiel der Wahrscheinlichkeit: Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen: Wallstein, 2002.
Campe, Rüdiger. "'Improbable Probability': On Evidence in the Eighteenth Century." Germanic Review (2001): 149-162.
Campe, Rüdiger. Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen: Niemeyer, 1990.
Kolloquium, 01.04.2008
Waste book, Sudelbuch. Georg Christoph Lichtenberg und die Frage der Evidenz.
In der Systematik und Geschichte literarischer Formen haben die Notizhefte des Mathematikers, Physikers und Publizisten Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799) - die Sudelbücher - seit ihrer ersten Edition im Jahre 1800 eine besondere Rolle gespielt. Man hat in ihnen die Erfindung einer neuen Gattung, des romantischen Aphorismus, gesehen. Damit waren sie in eine ästhetische Konzeption eingebettet, in der ein gedankliches und formales Ganzes im Fragment gespiegelt erscheint. So wichtig diese Auffasung für die literarische Rezeption der Sudelbücher war, hat sie doch mit Lichtenbergs Notizen wenig zu tun. Die Sudelbücher sind vielmehr Teil einer frühneuzeitlichen Kultur des Aufschreibens, Exzerpierens und Notierens.
Von dieser These ausgehend sollen die Sudelbücher als Verfahren des Schreibens im Kontext der epistemologischen Situation des 18. Jahrhunderts untersucht werden. Der wissenschaftsgeschichtliche Kontext wird dabei nicht durch ein Paradigma oder einen Diskurs definiert, sondern eine Frage. Es ist die für die Zeit nach Descartes bestimmende Frage, wie Evidenz, als subjektive Gewissheit verstanden, sich verhält zu den Techniken ihrer Herstellung. Die Sudelbücher und ihr Schreibverfahren analysieren heißt danach: Evidenz als Verfahren zu untersuchen. Oder, um ein Wort Lichtenbergs zu benutzen: als eine der kleinen blinden Fertigkeiten, durch die wir Wissen erwerben. Von hier aus lässt sich die Modernität der Sudelbücher jenseits des romantischen Aphorismus erfassen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Campe, Rüdiger (2018)
Flucht und Fürsprache in Aischylos'Orestie
Campe, Rüdiger (Berlin, 2014)
Baumgarten-Studien : zur Genealogie der Ästhetik
Campe, Rüdiger (Zürich, 2012)
Kritzeleien im Sudelbuch : zu Lichtenbergs Schreibverfahren
Campe, Rüdiger (Heidelberg, 2011)
Campe, Rüdiger (Zürich, 2010)
Vorgreifen und zurückgreifen : zur Emergenz des Sudelbuchs in Georg Christoph Lichtenbergs "Heft E"
Campe, Rüdiger (2008)
An outline for a critical history of Fürsprache : synegoria and advocacy
Campe, Rüdiger (2004)
Lichtenbergs Gehirnlandschaften : die Unlesbarkeit der Welt und der Witz der Wissenschaft
Campe, Rüdiger (Göttingen, 2002)
Spiel der Wahrscheinlichkeit : Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist Wissenschaftsgeschichte
Campe, Rüdiger ([Berlin], 1990)
Affekt und Ausdruck : zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert Studien zur deutschen Literatur ; 107