Per Øhrgaard, Dr. phil.
Professor für Deutsche und Europäische Studien
Copenhagen Business School, Frederiksberg
Geboren 1944 in Kopenhagen
Studium der Germanistik und Literaturwissenschaft an der Universität Kopenhagen, der Freien Universität Berlin und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
Arbeitsvorhaben
Der Europadiskurs deutscher Intellektueller nach 1945
Habermas: Die "Verwestlichung" der Bundesrepublik sei eine Leistung, auf die seine Generation stolz sein könne. Dabei geht es nicht nur um Amerika, sondern zunächst um Europa. Es gibt bereits eine Fülle von Studien zur Kulturpolitik der Besatzungsmächte, zu den Zeitschriften der Nachkriegsjahre etc. Wichtige Subthemen meines Vorhabens:1. Der Begriff Europa, politisch und kulturell
2. Europa als Zuflucht (und als Ausrede?)
3. Europa als Gegenbild zu Amerika
4. Eigene Perspektive: deutscher und dänischer Europadiskurs im Vergleich
Ad. 1. Begriff Europa: Schon früher waren Gedanken entwickelt worden, die für die Nachkriegszeit fruchtbar wurden; auch gab es persönliche Kontinuitäten. Europa war ein vertrauter, aber von den Nazis missbrauchter Begriff - hatten diese doch den 2. Weltkrieg als einen "Verteidigungskampf Europas" propagiert. All dies spielt nach 1945 eine Rolle, wobei auch das oft unerkannte Nachleben nationalistischer Vorstellungen zu untersuchen wäre.
Ad. 2. Europa als Zuflucht: Wer in Europa aufging, konnte Deutschland hinter sich lassen. Dem Streben nach einer europäischen Identität kam eine Ersatzrolle zu.
Ad. 3. Europa vs. Amerika: ein Aspekt, der zeitweilig Linke und Rechte vereinigen konnte. Die Frage lautet: Wie?
Ad. 4. Dänische Perspektive: Die Deutschen sprechen oft vom Ableben des Nationalismus nach 1945. Woanders stand aber 1945 der Nationalismus in Blüte, war er doch in der Okkupation der Kitt, der in der Vorkriegszeit oft verfeindete gesellschaftliche Gruppen halbwegs zusammenhielt. In Skandinavien war Europa zunächst kein großes Thema; eher setzte man auf eine nordische Zusammenarbeit in der Hoffnung, sich aus dem sich abzeichnenden Kalten Krieg heraushalten zu können.
Lektüreempfehlung
Øhrgaard, Per. Günter Grass. Ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt. 2. Aufl., München: dtv, 2007.
-. "Ich bin nicht zu Herrn Willy Brandt gefahren.': Zum politischen Engagement der Schriftsteller in der Bundesrepublik am Beginn der 60er Jahre." In Dynamische Zeiten: Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, herausgegeben von Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers, 719-733. Hamburg: Christians, 2000. (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte, Darstellungen Bd. 37.)
-. "German Writers' Attitude Towards Europe in the First Postwar Years." In Return to Normalcy or a New Beginning: Concepts and Expectations for a Postwar Europe Around 1945, herausgegeben von Joachim Lund und Per Øhrgaard, 113-127. Odense/Copenhagen: University Press of Southern Denmark/Copenhagen Business School Press, 2008.
Kolloquium, 26.05.2009
Europa in (einigen) deutschen Köpfen 1945 ff.
Nicht wenige Deutsche machten sich in den ersten Nachkriegsjahren Gedanken über Europa: Europa "an sich", Europa und Deutschland, Deutschland und Europa. Einige knüpften an frühere Überlegungen und Projekte an, andere versuchten, den Kontinent neu zu definieren. Mein Interesse richtet sich weniger auf die politischen und wirtschaftlichen Gestaltungspläne als auf die intellektuelle Diskussion: Wo lag Europa bzw. was umfasste der Begriff? Was war Europa bzw. was war nach zwei Weltkriegen übriggeblieben?
Europa war kein unbelasteter Begriff: Das Dritte Reich hatte vor allem in seinen letzten Jahren eine starke Europa-Propaganda betrieben; also galt es, ein Gegenbild zu entwerfen: Von einer deutschen Hegemonie konnte nach 1945 selbstvertändlich keine Rede mehr sein, und dennoch schien ein Europa ohne Deutschland auch nicht denkbar. Was also konnte Deutschland sein? Ein Mittler zwischen West und Ost, mit westlicher Demokratie und sozialistischer Wirtschaftsordnung, wie viele sich in den ersten Nachkriegsjahren vorstellten? Oder ein "gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa", wie es seit 1949 in der Präambel des Grundgesetzes heißt? Da war Europa aber schon gleichbedeutend mit Westeuropa, was wiederum in der Frontstellung gegen den sowjetischen Kommunismus eher Kontinuität als Neuanfang bedeutete.
Erst recht war natürlich Deutschland kein unbelasteter Begriff! Vieles an der Europa-Debatte muss folglich auch als ein Versuch gesehen werden, "von der deutschen Frage Urlaub zu nehmen" (Enzensberger, später). Das Aufgehen in Europa versprach Zukunft und Vergessen. Als Teil des "christlichen Abendlandes" durfte Deutschland sogar auf Absolution hoffen.
Alle diese Stichworte decken jeweils nur einen Teil der Europa-Diskussion ab. Diese war sehr weit gefächert; nicht nur die Fülle des Materials, sondern auch der Umfang der schon geleisteten Forschung machen eine Auswahl notwendig. Mich interessieren vor allem zwei Themenkreise: Das Verhältnis zwischen einem erklärten gesamteuropäischen Engagement und einer Rhetorik, die - manchmal hinter dem Rücken des Autors - die Spaltung bereits erkennen lässt, und: Die Dialektik von "europäischem Deutschland" und "deutschem Europa". Ich biete Beispiele, aber keine Gesamtschau; meine Arbeit ist keineswegs abgeschlossen - und ich bin ja auch noch eine Weile hier.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Øhrgaard, Per (Berlin, 2015)
Øhrgaard, Per (2015)
Geistvolle Macht - machtvoller Geist : zum Briefwechsel zwischen Willy Brandt und Günter Grass
Øhrgaard, Per (Göttingen, 2011)
"So ist jeder Übersetzer ein Prophet in seinem Volke" : vom Geschäft des Übersetzens Valerio ; 12
Øhrgaard, Per (Frankfurt, 2009)
Am Tisch mit Per Øhrgaard : "Europa-Intellektueller" hr Doppel-Kopf
Øhrgaard, Per ([København], 2009)
Tyskland : Europas hjerte ; et essay
Øhrgaard, Per ([Copenhagen], 2008)
Return to normalcy or a new beginning : concepts and expectations for a postwar Europe around 1945
Øhrgaard, Per (Paris, 2007)
Günter Grass : l'homme et l'oeuvre Fortsættelse følger <franz.>
Øhrgaard, Per ([København], 2007)
Fortsættelse følger ... : et essay om Günter Grass
Øhrgaard, Per (München, 2007)
Günter Grass : ein deutscher Schriftsteller wird besichtigt Fortsættelse følger ... et essay om Günter Grass <dt.>
Øhrgaard, Per (2006)
Schiller als Achtundsechziger? : Herbert Marcuse und die ästhetische Erziehung