Martin Mulsow, Dr. phil.
Professor für Wissenskulturen der europäischen Neuzeit
Universität Erfurt
Geboren 1959 in Buchholz/Nordheide
Studium der Philosophie, Germanistik und Geschichte in Tübingen, Berlin und München
Arbeitsvorhaben
Islamisches Christentum: Geschichte einer Utopie
Das Buchprojekt soll die Annäherung von antitrinitarischem Christentum einerseits und Islam andererseits in all seinen frühneuzeitlichen Facetten und Kontexten beschreiben - von theologischen Brisanzen bis zu politischen Komplikationen. Es geht aus von einem abenteuerlichen Fall solcher Annäherung im London des Jahres 1682 und folgt dann den Spuren der Dokumente zurück in die Vergangenheit. Der Kontext 1682: beginnende kritische Bibelwissenschaft, Unitarismus, Deismus (Stubbe, Toland), frühe Islamwissenschaft. Die Spuren führen ins Jahr 1611, in das Milieu der Moriscos in Spanien und Marokko. Der Kontext hier: Fälschungen (Bleibücher, Barnabasevangelium, antichristliche Texte von vertriebenen Moriscos, diplomatische Beziehungen nach Holland). Weiter zurück führt die Spur (über den möglichen Autor des Barnabasevangeliums) ins Istanbul der Jahre 1570-1600. Der Kontext hier: Moriscos, "trinitarische" Sufis, antitrinitarische Exulanten (Adam Neuser). Adam Neusers Geschichte wird mit neu gefundenen Dokumenten aufgerollt. Von dort aus geht es zurück zum frühen Antitrinitarismus (Michel Servet) und seinen Islamkontakten (um 1540), ins arabische Mittelalter, bis hin zur Pauluspolemik im Islam und bei Judenchristen.Lektüreempfehlung
Mulsow, Martin. Die unanständige Gelehrtenrepublik: Wissen, Libertinage und Kommunikation in der Frühen Neuzeit. Stuttgart: Metzler, 2007.
- Moderne aus dem Untergrund: Radikale Frühaufklärung in Deutschland 1680-1720. Hamburg: Meiner, 2002.
- "Socinianism, Islam and the Radical Uses of Arabic Scholarship." Al-Quantara. Revista de estudios árabes 31 (2010): 549-586.
Kolloquium, 22.01.2013
Islamisches Christentum: Geschichte einer Verstrickung
Sind Christen und Moslems immer verfeindet gewesen? Oder gab es auch Annäherungen, Allianzen, vielleicht eine aus Missverständnissen oder aus Taktiken erwachsene Verbrüderung? Und wenn es diese gab, wie hat dann der Rest der Kultur reagiert? Was tut man, wenn der "Clash of Civilizations" Schlupflöcher lässt? Der Vortrag stellt mehrere Fälle vor, in denen es solche Verbrüderungen gegeben hat. In denen seltsame, hybride Mixturen aus Islam und Christentum entwickelt worden sind, etwas, das um 1670 von Henry Stubbe - durchaus positiv, ja geradezu utopisch - als "Mahommetan Christianity" bezeichnet worden ist, als islamisches Christentum. Ich nenne mein Buch im Untertitel "eine Geschichte der Verstrickung", also eine entangled history, denn hier geht es so direkt und krude wie selten um ein wirkliches entanglement zwischen Religionen. Es lohnt sich, die Gründe zu erforschen, wie so etwas passieren konnte, welche Skandale diese Fälle ausgelöst haben, und vor allem: was die Motive und Überzeugungen hinter diesen Fällen gewesen sind.
Das Buch, an dem ich arbeite, macht den Versuch, diese Geschichte rückwärts zu erzählen, nämlich wie eine Detektivgeschichte von einem spektakulären Fall in London aus dem Jahr 1682 ausgehend. Es will die Hintergründe aufhellen, die begriffen werden müssen, wenn man das Ereignis verstehen will. Das führt mich dann gleichsam automatisch zurück zu holländischen Diplomaten und zu den spanischen Moriscos, also zwangsgetauften islamischen Spaniern, die um 1610 von der iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Und von dort aus in das Istanbul der Jahre um 1570, als Adam Neuser dort lebte, ein deutscher Theologe, der zum Islam konvertiert war. Und weiter in das arabische Mittelalter, in die Zeit der islamischen Polemiken gegen das Christentum. Es ist eine Geschichte von Religionsabenteurern, Grenzgängern, Migranten und - Doppelspionen.
Ob es eine Moral dieser Geschichte geben wird, ist für mich noch offen. Auf jeden Fall aber zeigt diese "entangled history", wie sich Gewalt und Toleranz, gewiefte Fälschung und bewusste Annäherung in stetem Wechsel ablösen. Fälschungen waren mit Idealen von einer wahren Religion verknüpft, ebenso wie später die Ideale der Deisten und Radikalaufklärer von einem "islamischen Christentum" mit einem Aufsitzen auf den Fälschungen. Die Anfänge der Aufklärung sind verstrickt in die Selbsttäuschungen der Aufklärer.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Mulsow, Martin (Berlin, 2022)
Überreichweiten : Perspektiven einer globalen Ideengeschichte
Mulsow, Martin (Wiesbaden, 2014)
Philalethes in Deutschland : alchemische Experimente am Gothaer Hof 1679-1683
Mulsow, Martin (Berlin, 2014)
Radikalaufklärung Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft ; 2053
Mulsow, Martin (Stuttgart, 2014)
Texte zur Theorie der Ideengeschichte Reclams Universal-Bibliothek ; 19144
Mulsow, Martin (Göttingen, 2014)
Mulsow, Martin (2014)
Fluchträume und Konversionsräume zwischen Heidelberg und Istanbul : der Fall Adam Neuser
Mulsow, Martin (2014)
"Vom Verfasser des Hierokles" : Christian Ludwig Paalzow als Autor von Vollmers Verlag
Mulsow, Martin (2014)
Ausweitung der Kampfzone : die Globalisierung der Aufklärung und ihre Grenzen
Mulsow, Martin (Köln, 2014)
Kriminelle - Freidenker - Alchemisten : Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit
Mulsow, Martin (München, 2013)
Politische Bukolik : Hermann von der Hardts Geheimbotschaften