Gianna Pomata, Dr.
Professor of the History of Medicine
Johns Hopkins University, Baltimore
Born in 1950 in Carbonia, Italy
Studied Social and Political Sciences at the University of Florence
Arbeitsvorhaben
The Case Narrative in Pre-Modern Medicine: a History Across Cultures
The case history, that is, a report of the course of a disease in an individual patient, is a form of medical writing that we find in many cultures and times. It is one of the most widespread kinds of text associated with the practice of medicine: A moving record of suffering, the case is also a dispassionate effort to look lucidly into the human face of disease and describe its ravages on a person's body and mind. Because of its focus on the individual patient, the case narrative speaks of concepts and practices of healing that relate to notions of individuality and personhood. It documents the intersection of the biomedical and the biographical dimensions of health care - the point where generalized knowledge of disease comes to terms with the individualized approach often required for treatment. It records the tension we find in many medical cultures, ancient and modern, between categorizing and individualizing notions of disease - disease as ontological entity and disease as individual illness.As a form of medical writing, the case narrative is a genre of astonishing longevity, spanning the centuries from antiquity to modernity. In those medical cultures that are based on a long and continuous tradition of specialized writing, such as the European and the Chinese, case narratives are among the oldest extant medical records. My book will be the first comprehensive history of the case history in pre-modern medical cultures. While I focus especially on the European medical tradition, I bring a cross-cultural and comparative approach to this topic. I study the development of the medical case history in a long-term perspective by tracing its antecedents in ancient Greek, medieval European, and medieval Arabic medicine. In a cross-cultural perspective, I compare the early modern European case collections with the case collections that developed in early modern Chinese medicine. I argue that the cross-cultural history of the medical case can tell us much about the epistemic significance of case-based knowledge not only in medicine, but also in other areas, such as the law and ethics, where the search for general rules coexists with the cognitive need to focus on individual circumstances.
Recommended Reading
Pomata, Gianna. "The Medical Case Narrative: Distant Reading of an Epistemic Genre." Literature and Medicine 32, 1 (2014): 1-23.
Pomata, Gianna and Nancy G. Siraisi. Historia: Empiricism and Erudition in Early Modern Europe. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2005.
Pomata, Gianna. Contracting a Cure: Patients, Healers, and the Law in Early Modern Bologna. Baltimore et al.: Johns Hopkins University Press, 1998.
Kolloquium, 25.04.2017
Der medizinische Fall im Europa und China der Vormoderne: Zur vergleichenden Geschichte eines epistemischen Genres
Was ist ein medizinischer Fall? Und was genau versteht man überhaupt unter einem Fall? Meine Antwort lautet: Ein Fall ist ein "epistemisches Genre", das heißt, eine jener grundlegenden Textformen, die aus wissenschaftlichen Praktiken entstehen und durch eine speziell wissenschaftliche Leistung gekennzeichnet sind - im Unterschied zu einer literarischen Leistung. Man denke z. B. an die Enzyklopädie, den Kommentar, die Abhandlung, das Kräuterbuch, das pharmazeutische Rezept etc. All dies sind Textsorten, die es in vielen Kulturen und Zeiten gibt. Wenn wir uns also auf epistemische Genres konzentrieren, erscheint dies für eine vergleichende und kulturübergreifende Geschichte der Praktiken zur Erzeugung von Wissen besonders nützlich.
Kurz gesagt: Der medizinische Fall ist ein Bericht über den Verlauf einer Krankheit bei einem einzelnen Patienten. Dieser Textsorte begegnen wir in verschiedenen medizinischen Kulturen und in verschiedenen geschichtlichen Perioden. Wir haben es hier mit einem erstaunlich dauerhaften Genre zu tun, das die Jahrhunderte von der Antike bis zur Moderne überspannt. In den medizinischen Kulturen, die - wie die europäische und chinesische - auf einer langen und kontinuierlichen Tradition spezialisierter medizinischer Texte beruhen, zählen Fallgeschichten zu den ältesten medizinischen Aufzeichnungen. Sowohl in Europa als auch in China entstand der medizinische Fall in der Antike, geriet aber danach viele Jahrhunderte in Vergessenheit. Erst im 16. Jahrhundert entwickelte er sich in China wie in Europa als autonome Textform und etablierte sich als Genre mit einer ununterbrochenen Tradition, die bis heute andauert.
Ich vergleiche die frühneuzeitlichen europäischen Fallsammlungen (man nannte sie auch "Observationes medicae") mit den "Fallberichten" ("Yi’an"), wie sie in der medizinischen Kultur Chinas während der frühen Neuzeit entstanden. Ich möchte die Ähnlichkeiten der Genres in den beiden Kontexten und ebenso die wesentlichen Unterschiede betrachten. Das erstaunlichste Ergebnis meiner Forschung sind die bemerkenswerten Ähnlichkeiten zwischen den "Observationes medicae" und den "Yi’an": Tatsächlich, und das ist vielleicht die eigentliche Überraschung, überwiegen die Ähnlichkeiten im Vergleich zu den Unterschieden bei Weitem. Wie erklären sich diese Ähnlichkeiten? Gehen sie auf einen Gedankenaustausch und Kontakte zwischen Europa und China in der Vormoderne zurück? Oder entstand, entwickelte und entfaltete sich die Fallgeschichte in beiden Kulturen unabhängig voneinander - als eine einheimische kulturelle Gattung? Und des Weiteren für Europa und China: Welche Art des medizinischen Denkens, welche intellektuellen und sozialen Praktiken bildeten den Hintergrund für die Entstehung von Fallgeschichten als einem eigenständigen epistemischen Genre?
Der Versuch, diese Fragen zu beantworten, wird uns einen Einblick in die Fragestellung geben, die ich am Anfang umrissen habe, so hoffe ich. Was ist ein Fall? Was heißt es, "in Fällen zu denken"? Worin liegt die epistemische und soziale Bedeutung von fallorientiertem Wissen? Diese Fragen sind nicht nur für die Medizin, sondern all jene Disziplinen - etwa für die Rechtwissenschaft oder die Bioethik - relevant, in denen die Suche nach allgemeinen Regeln gleichzeitig neben der Notwendigkeit steht, individuelle Umstände zu berücksichtigen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Pomata, Gianna (2017)
Pomata, Gianna (Baltimore, Md., 2014)
The medical case narrative : distant reading of an epistemic genre
Pomata, Gianna (2013)
The recipe and the case : epistemic genres and the dynamics of cognitive practices
Pomata, Gianna (2010)
Sharing cases : the observationes in early modern medicine
Pomata, Gianna (Baltimore, Md. [u.a.], 1998)
Contracting a cure : patients, healers, and the law in early modern Bologna Promessa di guarigione <engl.>