Ausgabe 11 / Januar 2016
Die Evidenz der Urteilskraft
von Hannah Bethke
Eine Begegnung mit Gertrude Lübbe-Wolff
Klarheit. Das strahlt sie aus. Kein Schmuck, keine Schnörkel, nichts Unechtes. Stattdessen Konzentration auf das Wesentliche. Luft und Erde. Struktur und Offenheit. Sachlichkeit. Für Eitelkeiten bleibt da kein Platz – obwohl es dafür Anlass genug gäbe. Als „Grenzgängerin“ beschrieb sie einmal Bundespräsident Joachim Gauck, als „Person großer Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit“ der Verfassungsrechtler Dieter Grimm. Gertrude Lübbe-Wolff, die in der Wissenschaft vom Recht ebenso beheimatet ist wie in der Rechtspraxis, hat einen Lebenslauf, der beeindruckender kaum sein kann.
Sie ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld und Mutter von vier Kindern, zwölf Jahre war sie Richterin am Bundesverfassungsgericht, zeitweise ging sie in die Verwaltung und war Leiterin des Umweltamts der Stadt Bielefeld. Gertrude Lübbe-Wolff, die bereits im Alter von sechzehn Jahren ihr Studium der Rechtswissenschaft aufnahm, ist Trägerin des Leibniz-Preises der Deutschen
Forschungsgemeinschaft und des Hegel-Preises der Stadt Stuttgart. 2015 wurde ihr der Ehrendoktor durch das Europäische Hochschulinstitut in Florenz verliehen.
1953 geboren, ist Lübbe-Wolff die älteste Tochter von Hermann Lübbe. Die Philosophie des Vaters dürfte sie von Kindesbeinen an geprägt haben – wobei diese Formulierung nicht übertrieben ist, denn schon mit dreizehn Jahren besuchte Lübbe-Wolff mit ihren Eltern ihren ersten Kongress über Hegel. Hegel blieb fortan ihr Referenzpunkt, ihr philosophischer Lehrmeister, dessen Erkenntnisse sie stets mit einer politischen Klugheitslehre zu verbinden versteht. Nirgendwo wird das deutlicher als in ihrer immer wiederkehrenden Mahnung, „dass stabile Moral auf Stützung durch äußere Rahmenbedingungen angewiesen ist“. Geleitet wird ihre Erkenntnis durch praktische Erfahrung: Dass Institutionen verhaltensprägend sind, sagt Lübbe-Wolff im Gespräch, habe sie im Umweltamt viel deutlicher gesehen als in der Universität. In dieser gegenseitigen Durchdringung von Theorie und Praxis möchte man fast schon eine lebensweltliche Dialektik erkennen, wenn es so etwas geben würde. Kein Zweifel: Hegel scheint überall durch.
Es gibt aber noch einen weiteren Denker, der sich in subtiler Weise mit dem Werk von Lübbe-Wolff zu verbinden scheint: Max Weber. Das gilt weniger für Thema und Inhalt seiner Aussagen als für die Art seiner Analyse. Es ist die Haltung gegenüber dem Forschungsgegenstand, das Sortieren, das Kategoriale, das diese unausgesprochene Assoziation erlaubt. Urteilskraft. Dienst an der Sache. Protestantismus. Drei Kategorien, die für das Verständnis Max Webers unumgänglich sind. Zugleich drei Kategorien, die auch im Wirken Lübbe-Wolffs eine starke Präsenz zeigen.
In ihrem neuen Forschungsprojekt, mit dem sie ans Wissenschaftskolleg gekommen ist, beschäftigt sie sich mit Verfahren der Entscheidungsfindung höchster Gerichte. Das Urteil der Richter will abgewogen sein, und um das zu ermöglichen, bedarf es spezifischer institutioneller Rahmenbedingungen. Im Bundesverfassungsgericht gibt es dafür aufwendige Beratungsphasen, deren Ziel eine unter allen Richtern einvernehmliche Lösung ist.
Wo andere vielleicht bloße Verfahrensregeln eines höchsten Gerichts sehen, erkennt Lübbe-Wolff eine wertvolle Kultur: eine Beratungskultur. Anfangs sei sie skeptisch gewesen, erklärt sie: Diese „ausgeprägte Konsensorientierung des Gerichts“ erschien ihr als „rechtsfindungsfremde Kompromisshaftigkeit“, die dem Versuch gleichkomme, „Entscheidungen als unfehlbar zu inszenieren“. Diese Einschätzung aber bestätigte sich im Verlauf ihrer Tätigkeit als Richterin nicht. Kompromisshafte Entscheidungen haben ein hohes integratives Potenzial; diese elementare Erkenntnis veränderte die Sichtweise von Lübbe-Wolff. Eine Beratungskultur, wie sie im Bundesverfassungsgericht vorzufinden ist, gewährleiste die Unparteilichkeit und Abgewogenheit des Gerichts und trage bestmöglich zur „Erdung aller Beteiligten“ und zur „Auflösung von Ideologemen“ bei.
Das Instrument der Verfassungsbeschwerde, erläutert sie im Gespräch, habe die bundesrepublikanische Gesellschaft tief geprägt. Dass zum Beispiel die Polizisten manierlich mit Flüchtlingen umgingen, hat für sie genau mit diesem Umstand zu tun: Die Polizisten wissen, dass sie sich an die grundgesetzlichen Bestimmungen halten müssen, dieses Selbstverständnis ist tief in der Gesellschaft verankert. Auf diese Weise wirke das Bundesverfassungsgericht als „Propagator des Grundrechtsbewusstseins“ und befriede die Gesellschaft. Es handelt sich hier also um die unter Rechtsphilosophen vielzitierte „Integration durch Verfassung“. Das zeigt auch ihr Vergleich mit höchsten Gerichten anderer Länder wie etwa dem Supreme Court der USA: Tendenziell verhindere die dort vorherrschende „Beratungsresistenz“ eine integrative Wirkung des Gerichts und befördere „die Spaltung des Spruchkörpers in Fraktionen“.
Welche weiteren Länder und Gerichte sollen zum Vergleich herangezogen werden? Das wird sich im Laufe des Projekts noch zeigen. Klar ist schon jetzt: Es sind wieder einmal praktische Erfahrungen, die das theoretische Erkenntnisinteresse von Lübbe-Wolff bestimmen. Und auch hier ist sie viel zu genau und selbstbestimmt, als sich von Vorgaben gerade angesagter Wissenschaftsmoden beeindrucken zu lassen. Mit Fragen nach einer spezifischen „Methode“ würde man bei ihr also nicht weit kommen. Es gehe nicht um die Ermittlung von Gesetzmäßigkeiten, führt sie aus, dafür sei das Untersuchungsfeld viel zu komplex. In den Interviews, die sie mit Richtern höchster nationaler und internationaler Gerichte führt, arbeitet sie zwar mit Fragebögen, in denen sie für sich selbst abzufragende Fakten und Erfahrungen aufgelistet hat, aber nicht in der Erwartung, damit ein „einzig richtiges“, auf alle Gerichte anwendbares Verfahren ermitteln zu können. Wie kann man sich dem Problem also dann nähern? Als sei das eine Selbstverständlichkeit, sagt Lübbe-Wolff: „Mit Urteilskraft!“
Und auch das erinnert an Max Weber: Die „Schulung der Urteilskraft“ ist der Leitgedanke, den der Freiburger Politikwissenschaftler Wilhelm Hennis einst Webers Werk zuschrieb – ebenso scheint sie ein zentrales Movens für Lübbe-Wolff zu sein. Vielleicht ist das eine weitere Parallele zu ihrem Vater, denn die Konzentration auf die Urteilskraft entspringt einem Wissenschaftsverständnis, das für Hermann Lübbe – seinerseits beeinflusst von der Schule um den Philosophen Joachim Ritter – schon maßgebend gewesen ist: Philosophie als praktische Wissenschaft. „Urteilskraft braucht der Handelnde“, schreibt Hennis, und genau das ist ja der springende Punkt in der Beratungskultur höchster Gerichte. „Es geht nicht um Sieg und Niederlage einzelner Richter“, stellt Gertrude Lübbe-Wolff klar, sondern es geht um die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen es am wahrscheinlichsten ist, dass Gerichte rechtskonforme Entscheidungen treffen und ihre Entscheidungsspielräume sinnvoll nutzen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass sie sich nicht polarisieren. Die Analyse der institutionellen Bedingungen, unter denen das am ehesten vermieden werden kann, gehört zu den Zielen des Projekts.
Damit kehrt das Leitmotiv der Institutionen zurück – sei es im Umweltschutz, in der Finanzkrise oder in den Diskussionen über das Freihandelsabkommen TTIP: Nach Lübbe-Wolff sind stets die Institutionen ausschlaggebend für das moralische Verhalten der Beteiligten und die jeweils geltende Gesprächskultur, die Deliberation. Mit Blick auf die Praxis des Rechts gilt: Je deliberativer eine Gesellschaft, desto deliberativer das höchste Gericht.
Hat das etwas mit der Idee der deliberativen Demokratietheorie zu tun, also mit dem Ideal einer Demokratie, in der unter Einbeziehung der Bürger über alle politischen Themen öffentlich diskutiert und beratschlagt wird? Durchaus: Das Bundesverfassungsgericht habe es hinsichtlich der Diskussionskultur sehr weit gebracht. Durch die Intensität des Gesprächs würden Positionen der Beteiligten ernst genommen, sie lernten voneinander, es gebe wenig ideologische Konfrontation, und am Ende falle trotzdem immer eine Entscheidung. Wer das Deliberieren nicht um seiner selbst willen betreibt, sondern nach Modellen wirklich gelungener Deliberation sucht, weiß also jetzt, wo er fündig wird: im Bundesverfassungsgericht.
Und noch etwas ist von Lübbe-Wolff zu lernen: Wie ausgeprägt die Beratungskultur einer Gesellschaft ist, hängt auch mit der jeweiligen konfessionellen Tradition eines Landes zusammen. So ist etwa die Vorstellung von der Rechtsprechung als Verkünderin einer Wahrheit im Protestantismus weniger präsent als im Katholizismus, was zu unterschiedlichen Praktiken der Deliberation führen kann. Nicht minder wichtig ist das Menschenbild, das dem Nachdenken über eine funktionierende Beratungskultur zugrunde gelegt wird. Lübbe-Wolff erinnert im Gespräch an Machiavellis Lehre, nach der die Gesetzgebung von der Schlechtigkeit des Menschen ausgehen müsse. So weit wie Machiavelli will sie nicht gehen, aber, erklärt sie, „man muss mit der Fehlbarkeit des Menschen rechnen und dafür institutionelle Vorkehrungen treffen“, und das bedeutet für sie auch: Die Richter sind davon nicht ausgenommen, auch sie sind fehlbar und können durch dysfunktionale Eigeninteressen geleitet sein, daher bedarf es auch für sie starker Institutionen, um gute Moral zu gewährleisten. Man würde Lübbe-Wolff nicht gerecht werden, wenn man ihr diese Anschauungen als Pessimismus auslegt. Das ist kein Pessimismus. Das ist gesunde Skepsis, erfahrungsgesättigt und durchdacht, „keine Moralisiererei und Gesinnungshuberei“, wie sie einmal zur Verteidigung Hegels selbst vorbrachte, sondern Ausdruck politischer Klugheit.
Die Feststellung ihres Vaters, dass Arbeit eine „Erfahrung glücksträchtiger Sinnevidenzen“ sein kann, leuchtet in Gegenwart von Lübbe-Wolff sofort ein. Diesen Freiraum des Denkens und Seins, der solch eine Erfahrung überhaupt erst möglich macht, wollte sie auch ihren eigenen vier Kindern geben. Ihr sei es immer wichtig gewesen, dass ihre Kinder sich selbstständig entwickeln können, sagt sie im Gespräch, und weiß vielleicht gar nicht, wie angenehm ein solcher Satz in Zeiten omnipräsenter „Hubschrauber-Eltern“ klingt.
Doch Gertrude Lübbe-Wolff hält sich nicht mit Nebenschauplätzen auf, die vom eigentlichen Sachverhalt ablenken. Man kann sich auch kaum vorstellen, dass sie etwas für aufgeplustertes „Wissenschaftsmanagement“ oder für Karriereratgeber übrig hat, die in jeder Lebenslage strategisches Denken empfehlen und intrinsische Motivation durch Kalkül ersetzen. „Ich habe immer das gemacht, was mich interessiert hat“, sagt sie und geht unbeirrt ihren Weg.
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Fotos: © Maurice Weiss