Ausgabe 15 / April 2020
Den Ursachen weiblicher Infertilität auf der Spur
von Nicola von Lutterotti
Die amerikanische Endokrinologin Lynae Brayboy hält weibliche Infertilität für ein Symptom tiefer liegender gesundheitlicher Probleme. Ihre Mitochondrien-Forschung könnte zu wichtigen Erkenntnissen hinsichtlich kardiovaskulärer Erkrankungen bei Frauen führen
Frauen sind untererforschte Wesen. In vielen großen Studien, in denen zum Beispiel neue Therapien zur Vorbeugung und Behandlung so häufiger Krankheiten wie Herzinfarkt und Schlaganfall getestet wurden, ist das weibliche Geschlecht unterrepräsentiert. Die Überzeugung, dass es sich dabei um typische Männerleiden handelt, lässt sich nur schwer aus der Welt schaffen. Dabei werden Frauen genauso oft von solchen kardiovaskulären Leiden heimgesucht wie Männer, allerdings in höherem Alter. Im Mittel erkranken sie hieran 10 bis 15 Jahre später als das männliche Geschlecht. Vor den Wechseljahren, die im Alter von durchschnittlich fünfzig Jahren eintreten, sind Frauen mehr oder weniger nachhaltig vor Gefäßerkrankungen und ihren Folgen geschützt.
Wie aber kommt dieser Krankheitsschutz genau zustande und weshalb ist er bei manchen Frauen sehr viel weniger ausgeprägt als bei anderen? Erstaunlicherweise lassen sich diese Fragen bis heute nicht beantworten. Sicher scheint nur, dass dabei bestimmte, die Fertilität beeinflussende Faktoren hinsichtlich der Gesamtgesundheit von Bedeutung sind. Die dabei ablaufenden Prozesse sind jedoch sehr viel komplexer als anfänglich vermutet. Nur wenig Beachtung findet darüber hinaus die Beobachtung, dass eine verminderte Eierstockreserve, welche als ein maßgeblicher Faktor weiblicher Infertilität gilt, wahrscheinlich noch eine viel größere Bedeutung hat. Die Eierstockreserve, die sogenannte ovarielle Reserve, ist ein Maß für die weibliche Fruchtbarkeit. Darunter versteht man die Zahl an lebensfähigen Eizellen (Oozyten), die sich zu einem gegebenen Zeitpunkt in den Eierstöcken (Ovarien) befinden. „Dass die Eierstöcke früher altern als andere Organe der Frau, ist physiologisch normal“, stellt Lynae Brayboy klar. „Leidet eine Frau jedoch unter einer verringerten ovariellen Reserve, so besteht ein erhöhtes Risiko für Herzinfarkte, Schlaganfälle, Osteoporose und vermutlich auch Demenz.“ Brayboy hat fünf Monate als Fellow des College for Life Sciences am Wissenschaftskolleg zu Berlin verbracht, wo sie zu In-vivo-Testmethoden an Mitochondrien und deren möglicher Anwendung auf die Untersuchung zu weiblicher Infertilität geforscht hat. „Wie sich zudem gezeigt hat, weisen Frauen, deren Eierstöcke entfernt wurden, eine geringere Lebenserwartung auf als Altersgenossinnen, die sich keinem solchen Eingriff unterzogen haben. Zwischen der Fruchtbarkeit und dem Gesundheitszustand einer Frau scheint somit ein enger Zusammenhang zu bestehen“, so Brayboy. „Patientinnen mit eingeschränkter Fertilität sollten wir daher genau im Blick behalten. Denn nach allem, was wir heute wissen, ist eine verminderte Fruchtbarkeit ein Symptom für ein sehr viel tiefer liegendes Gesundheitsproblem.“ Um welche Art von Gesundheitsproblem es sich dabei genau handelt und wie es sich angehen lässt – dem will die Wissenschaftlerin auf den Grund gehen.
Aufgewachsen in St. Petersburg im amerikanischen Bundesstaat Florida, hat Lynae Brayboy zunächst die Florida A&M University besucht, dann an der Temple University Medizin studiert und einen klinischen Forschungsaufenthalt am Abington Memorial Hospital abgeschlossen. Ihr besonderes Interesse gilt dabei der Fortpflanzungsmedizin. Schon zu Beginn ihrer Ausbildungszeit sei ihr bewusst geworden, dass die Gesundheit von Frauen sehr viel weniger gut untersucht ist als jene von Männern. Vor allem im Bereich der Fortpflanzungsmedizin gebe es noch große Wissenslücken, so Brayboy. Ihr Augenmerk richtet die Forscherin auf Frauen mit verminderter ovarieller Reserve. Hiervon spricht man, wenn die Eierstöcke nur wenige oder auch qualitativ minderwertige Oozyten enthalten. „Rund ein Drittel aller Frauen, die an unserer Klinik eine In-vitro-Fertilisation vornehmen lassen, haben eine verminderte ovarielle Reserve. In der Allgemeinbevölkerung beträgt der Anteil an betroffenen Frauen rund 11 Prozent, jedenfalls in Amerika“, schätzt sie. „Mitunter fällt die Reaktion auf eine Stimulation der Eierstöcke so gering aus, dass selbst die aggressivste In-vitro-Behandlung nicht anschlägt. Einige dieser Patientinnen entscheiden sich dann für eine Eizellspende – ein Verfahren, das in Deutschland verboten ist.“ Wie Brayboy dabei hervorhebt, münden Schwangerschaften mit gespendeten Eizellen auffallend oft in Komplikationen, etwa einer Präeklampsie. Für die Mutter und ihr Kind ausgesprochen bedrohlich, geht diese früher auch Schwangerschaftsvergiftung genannte Erkrankung mit einer Reihe von Störungen einher. Hierzu zählen hoher Blutdruck, Nierenschäden und Wasseransammlungen im Gewebe. „Viele Wissenschaftler gehen davon aus, dass solche Schwangerschaftskomplikationen auf die gespendete Eizelle zurückzuführen sind, also eine Art Unverträglichkeitsreaktion darstellen. Meiner Meinung nach kommt es zum Bluthochdruck in der Schwangerschaft, weil die verminderte ovarielle Reserve Symptom einer Herz-Kreislauf-Erkrankung ist, die schon vor der Schwangerschaft vorlag“, schildert die Ärztin ihre eigene Hypothese, die sie allerdings erst noch testen muss.
Dass die Ursachen einer verminderten Eierstockreserve erst wenig untersucht sind, hat laut Brayboy mehrere Gründe. „In den 1970er- und 1980er-Jahren hat sich eine vorzeitige Alterung der Eierstöcke seltener bemerkbar gemacht als heute. Denn damals waren Frauen bei der Geburt ihres ersten Kindes im Allgemeinen jünger, als dies inzwischen der Fall ist.“ Mittlerweile sind viele bereits über dreißig oder auch schon vierzig, wenn sie erstmals Mutter werden. In diesem Alter ist die Eierstockreserve aber schon deutlich geringer als zwischen zwanzig und dreißig. Kommt ein beschleunigter Alterungsprozess der Ovarien hinzu, kann die betroffene Frau schon vergleichsweise früh – also etwa bereits mit Ende zwanzig oder Anfang dreißig – Schwierigkeiten haben, schwanger zu werden. Von den schätzungsweise 1-2 Millionen Eizellen, mit denen ein Mädchen zur Welt kommt, sind zum Zeitpunkt der Pubertät nur noch etwa 50.000 bis 300.000 übrig. Bis zur Menopause setzt sich dieser Niedergang dann weiter fort. Die Anzahl und Qualität der Eizellen werden somit maßgeblich vom Alter bestimmt, allerdings nicht nur. Wichtige Einflussgrößen sind darüber hinaus der genetische Hintergrund und äußere Faktoren. „Rauchen, manche Umweltgifte, aber auch eine Chemotherapie können den natürlichen Alterungsprozess der Eierstöcke beschleunigen“, weiß die Medizinerin. Viele ihrer Patientinnen, die aufgrund einer verminderten ovariellen Reserve nicht auf natürlichem Weg schwanger werden können, seien allerdings nie schädlichen Stoffen ausgesetzt gewesen. In solchen Fällen müssten die Fertilitätsprobleme andere Ursachen haben. Wie die Ärztin zugleich kritisiert, werden die Betroffenen bislang alle auf die gleiche Weise behandelt. „Frauen, die wegen einer In-vitro-Fertilisation zu uns in die Klinik kommen, erhalten alle die gleichen Medikamente. Das finde ich ziemlich frustrierend. Denn eine mangelnde Fertilität kann unterschiedliche Ursachen haben. Es gibt noch einiges zu tun, bis wir die individuellen Ursachen dieser Fälle von Infertilität besser verstehen.“
Auf der Suche nach den krankhaften Prozessen, die den Untergang der Eizellen beschleunigen und die ovarielle Reserve damit vorzeitig erschöpfen, konnte die amerikanische Forscherin bereits wertvolle Erkenntnisse erzielen. Wichtige Impulse hätten auch ihre Patientinnen gegeben, sagt Brayboy und liefert hierfür ein Beispiel: „Vor einiger Zeit wollte eine krebskranke Frau von mir wissen, ob Eizellen in der Lage seien, sich vor in der Chemotherapie eingesetzten Medikamenten zu schützen. Diese Frage hat mich sehr beschäftigt, denn sie ist extrem relevant. Viele meiner Patientinnen leiden nämlich an Krebs und müssen sich daher einer Chemotherapie unterziehen. Nur eine Minderheit von ihnen kann es sich allerdings leisten, eigene Eizellen vor der Krebsbehandlung einfrieren zu lassen. Es erschien mir daher wichtig, nach möglichen Schutzmechanismen der Oozyten zu suchen, um den Betroffenen eine Antwort geben zu können.“
Ins Visier nahm die Wissenschaftlerin dabei ein Transportprotein namens MDR-1, das den Körper von Giftstoffen und Abfallprodukten befreit. Solche Säuberungsaktionen unternimmt MDR-1 – das Kürzel steht für Multi-Drug-Resistance – unter anderem im Magen-Darm-Trakt, in Niere und Leber und in den Gefäßzellen der Blut-Hirn-Schranke. Wie ihre Untersuchungen ergaben, spielt das Entgiftungsprotein auch in der Oozyte eine wichtige Rolle, denn es befreit die weibliche Keimzelle unter anderem von Chemotherapeutika. „MDR-1 hat lange Zeit eine sehr schlechte Presse gehabt“, räumt Brayboy ein, „denn sowohl Krebszellen als auch Bakterien besitzen die Fähigkeit, große Mengen des Transportproteins herzustellen und sich damit gegen Chemotherapeutika und Antibiotika zu wehren. Deshalb verlieren diese häufig ihre Wirkung.“ Umgekehrt sei es aber auch ungünstig, wenn das Transportprotein fehle oder aufgrund eines Defekts nicht funktioniere. „Mäuse mit genetisch bedingtem Mangel an MDR-1 sind nicht in der Lage, Gifte und Stoffwechselabfälle hinreichend zu entsorgen. Diese Verbindungen können im Körper dann ihr Unwesen treiben. Zu den Organen, denen sie besonders zusetzen, zählt unter anderem der Verdauungstrakt. So entwickeln sich bei den betroffenen Mäusen Darmentzündungen, die jenen des menschlichen Morbus Crohn ähneln“, erklärt Brayboy die Auswirkungen der erwähnten Mutationen.
Vor Kurzem gelang Brayboy noch eine weitere wichtige Entdeckung. Wie sie und ihre Kolleginnen bei Mäusen nachweisen konnten, verfügen die Eizellen über einen erheblichen Vorrat an MDR-1, und das gleich an mehreren Stellen. Demnach befindet sich das Transportprotein nicht nur in den Außenhüllen, sondern auch in den Membranen der Mitochondrien – der zellulären Energiekraftwerke – der Oozyten. Kann das Entgiftungsprotein seine Aufgaben aber nicht wahrnehmen oder fehlt es ganz, reichern sich in den Oozyten oder Eiern große Mengen an Sauerstoffradikalen an. Eine Überladung mit diesen chemisch hochaggressiven Stoffen ist für die zellulären Energielieferanten eine erhebliche Belastung, sie schadet zugleich aber auch den Eizellen, in denen sich die gestressten Mitochondrien befinden. Das geht aus den tierexperimentellen Untersuchungen der amerikanischen Forscherin hervor. Brayboy hält es dabei für denkbar, dass die verminderte Eierstockreserve ihrer Patientinnen ähnliche Wurzeln hat, also ebenfalls mit einer – genetisch bedingten oder später erworbenen – Betriebsstörung von MDR-1 in Zusammenhang steht. „Mit dieser Frage will ich mich im Detail befassen. Dazu möchte ich aber erst verstehen, wie sich Funktionsmängel der Mitochondrien auf die Reifung der Eizellen und Embryonen auswirken.“ Sie halte es für sehr wahrscheinlich, so Brayboy, dass solche Defekte die frühe embryonale Entwicklung beeinträchtigen. In den ersten Tagen hänge das neu entstehende Leben nämlich vollständig am Energietropf der Mitochondrien. „Nach der Befruchtung durch das Spermium dauert es etwa fünf Tage, bis die befruchtete Eizelle durch den Eileiter gewandert ist und sich in der Gebärmutter eingenistet hat. Während dieser Zeit verfügt sie noch über keine Blutversorgung, sie bezieht ihre Energie vielmehr ausschließlich von den Mitochondrien. Sind die zellulären Kraftwerke nicht in der Lage, den Energiebedarf des heranwachsenden Embryos zu decken, gerät dieser frühe Entwicklungsprozess vermutlich ins Stocken. Davon gehen wir jedenfalls aus.“ Sie wollen daher herausfinden, so die Forscherin weiter, ob ein vorzeitiger Rückgang der Eierstockreserve auf genetisch bedingte Mängel des Transportproteins MDR-1 zurückgehe.
Mutationen in dem Gen, das die Bauanleitung für das Transportprotein MDR-1 enthält, sind extrem häufig. Die überwiegende Mehrheit davon hat laut den bisherigen Erkenntnissen allerdings keine gesundheitlichen Konsequenzen, zumindest keine offenkundigen. Eine der unzähligen genetischen Varianten steht allerdings im Verdacht, die Funktion von MDR-1 geringfügig zu vermindern und so die Entstehung von Brustkrebs zu fördern. Ob und wie sehr solche Störungen die weibliche Fruchtbarkeit schmälern, will Brayboy im Detail erforschen – am liebsten würde sie sich ausschließlich solchen wissenschaftlichen Fragestellungen widmen. Frauen sind und bleiben offenbar untererforschte Wesen. Auch heute noch.
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Fotos: © Maurice Weiss