Ausgabe 15 / Juni 2020
Untergründig lebt das Gegen-Gedächtnis
von Sonja Asal
Zhiyi Yang ist Professorin der Sinologie an der Goethe-Universität Frankfurt. Ihre Forschung zu Wang Jingwei – Dichter des angehenden 20. Jahrhunderts, aber auch Parteigründer, Kollaborateur der Japaner und heimlicher Held von Chinas heutigen Dissidenten – ist ein Projekt von interdisziplinärer Tragweite
Vergangenes Jahr veröffentlichte die chinesische Volksarmee auf ihrer Weibo-Seite, dem chinesischen Twitter-Äquivalent, in allerbester propagandistischer Absicht zwei Gedichte, die die Opferbereitschaft der republikanischen Revolutionäre verherrlichen sollten. Doch schnell stellte sich heraus: Beim Autor handelte es sich um Wang Jingwei, eine der ambivalentesten Figuren in der chinesischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Entstanden waren sie 1910, als Wang nach dem missglückten Attentat auf den Prinzregenten die Vollstreckung seines Todesurteils erwartete. Wang war zunächst Weggefährte Sun Yat-sens und leitete die von ihm mitgegründete Revolutionspartei (Vorgängerpartei der Kuomintang), zerstritt sich über dessen Nachfolge mit Chiang Kai-shek und wurde schließlich Anfang der Vierzigerjahre Chef der von der japanischen Besatzungsmacht eingesetzten Kollaborationsregierung. Im heutigen China gilt Wang offiziell als Verräter, seine Gedichte sind aus Lesebüchern und der akademischen Forschung verbannt. Schleunigst löschte man, sobald der Schnitzer offenkundig wurde, die Verse von der Internetseite. Bemerkenswert war die Rechtfertigung, mit der sich die Armee für den Fauxpas entschuldigte: Da sei offenbar ein Redakteur mit unzureichender kultureller Bildung am Werk gewesen.
Zhiyi Yang, die ihr Jahr am Wissenschaftskolleg damit verbringt, ein Buch über genau jenen verfemten Dichter-Politiker Wang Jingwei fertigzustellen, erzählt die Geschichte mit sichtlichem Vergnügen. Denn dass das Gedicht in der Erinnerung weiterlebt, dass es offenbar unabhängig von einem offiziell verbürgten Kanon sein eigenes Leben führt, das schreibt sie vor allem seiner literarischen Qualität zu. Wang Jingwei war eben auch ein vollendeter Dichter, und damit stand er in einer jahrhundertealten Tradition der bürokratischen Elite, deren hohe Bildung Voraussetzung für den Zugang zu Ämtern war und die daher auch die Trägerschicht der literarischen Kultur bildete. Dass diese Form der kulturellen Elitenbildung nicht einmal vor einem Mao Zedong Halt machen sollte, kann man hierzulande alle paar Jahre in der Zeitung lesen – zuverlässig dann, wenn ein gefallener Diktator durch seine dichterischen Ambitionen ins Licht der Öffentlichkeit rückt und historische Vorbilder gefragt sind. Denn Mao schrieb, im vollständigen Gegensatz zu seiner eigenen Kulturpolitik, nicht nur Gedichte, sondern wählte dafür sogar die klassische Form. Ließe sich Wang in dieser Hinsicht also etwa mit Mao vergleichen? Yang winkt ab. Nein, Maos Dichtung stehe in einer ganz anderen Tradition, in ihr sei ein heldenhafter oder sogar imperialer Ton vernehmbar. In Wangs Gedichten dagegen setze sich ein Individuum ins Verhältnis zur Geschichte und zur modernen Welt, und die besten von ihnen, findet Yang, seien nichts weniger als moderne Klassiker. Da aus seiner Dichtung die Stimme des Patrioten spricht, stellten sich auch Fragen nach der Grenzziehung zwischen Kriegskollaboration, Gefälligkeiten und Widerstand.
Um das zu erklären, muss sie weit ausholen; das Gespräch mit ihr wird zur ausschweifenden Tour durch tausend Jahre chinesischer Literatur und Geschichte, es streift neueste Kulturtheorie ebenso wie aktuelle Politik. Zum Glück für die Gesprächspartnerin gibt Yang auf alle staunenden Nachfragen geduldig Auskunft. Schließlich gibt es, findet sie, nichts Inspirierenderes, als eine Kultur aus der Perspektive einer anderen zu betrachten.
Sie selbst hat sich die Außenperspektive auf die chinesische Literatur im Laufe ihrer akademischen Karriere auf drei Kontinenten zu eigen gemacht. Modern zu lesen, das ist ihr Credo, ist gar nicht mehr anders als kulturüberschreitend möglich. Den ersten großen Schritt unternahm sie selbst, als sie, in China geboren und mit einem Studienabschluss der Pekinger Universität in der Tasche, zur Promotion nach Princeton ging. Die Doktorarbeit galt einem Thema, das klassischer kaum sein könnte: Su Shi, dem exemplarischen Dichter der Song-Dynastie aus dem späten elften Jahrhundert. Sus Gedichte begleiteten sie seit ihrer Kindheit, sie hörte sie von ihrem Vater, einem Lehrer, der sie dem kleinen Mädchen auf dem Arm vorsprach, und las sie später wieder und wieder, in der Schule und im Studium. Su hatte sie bildlich in ihrem Reisegepäck in die Vereinigten Staaten dabei und ging in ihrem ersten Buch der Unmittelbarkeit, für die seine Dichtung berühmt ist, mit den Mitteln der nachromantischen Ästhetik auf den Grund. Ihr Ziel war nichts weniger, als die philosophische Relevanz seiner Dichtung für die Moderne wieder zu entdecken.
Die Reise vom Pazifik an den Atlantik, von Ost nach West hat vor allem zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Reihe junger und seinerzeit vor allem männlicher Vorgänger. Einer davon war Hu Shi, der an der Columbia University in New York bei John Dewey in Philosophie promoviert wurde. Hu hatte großen Einfluss in der Neuen Kulturbewegung, die nicht nur die traditionellen chinesischen Werte im Licht der westlichen Moderne hinterfragte, sondern sich auch für die Vereinfachung der chinesischen Schriftsprache einsetzte und die chinesische Dichtung modernisierte, indem sie die volkssprachliche Literatur näher an die gesprochene Sprache rückte.
Yangs multiperspektivische Vorstellung von kulturellem Austausch gewinnt erst richtig an Profilschärfe, wenn man sie gegen die eines Hu Shi hält. Hu wertete wie viele seiner Zeitgenossen die chinesische Kultur im Lichte der vorgeblichen westlichen Errungenschaften ab, während für Yang die Bereicherung gerade in der wechselseitigen Perspektivierung besteht. Zwischen beiden liegt die ganze Ernüchterungsgeschichte eines Jahrhunderts – kulturell, ideologisch, politisch. Auf die gegenwärtige Situation in China angesprochen, schätzt Yang den Kommunismus nicht mehr als das treibende Moment ein, sondern sie hält die aktuelle Regierungsform für einen Autoritarismus in eher klassischer Gestalt. Doch beobachtet sie gleichzeitig, dass die beabsichtigte technokratische Steuerung der Gesellschaft, die vor allem auf wirtschaftliche Entwicklung aus ist, mit einer Wiederbelebung traditioneller Werte und Praktiken einhergeht.
Geschichte bewegt sich bekanntermaßen nicht geradeaus, sondern in einem ständigen Hin und Her. So erfuhr schon zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts die Modernisierung der Literatursprache ihre Gegenbewegung, als die Dichter, die sich zur sogenannten Südlichen Gesellschaft oder Nanshe zusammenschlossen, der letzten großen Dichtervereinigung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, der auch Wang angehörte, literarisch im Ausgang von der klassischen Form experimentierten – und die paradoxe Erfahrung machen mussten, dass sie als Konservative etikettiert wurden, auch wenn sie reformorientiert waren. Es war eine Zeit der starken Ideologisierung der literarischen Sprache: Die Volkssprache galt als progressiv, die klassische als konservativ.
Und hier in etwa beginnt die abenteuerliche Geschichte, wie die Lyrik Wang Jingweis doch noch auf untergründigen Pfaden in die Gegenwart gelangte. Kultur und Bildung basieren in China immer noch in einem unvergleichlichen Maß auf Auswendiglernen und mündlicher Tradierung. Wenn Yang klassische Verse rezitiert, dann hört man, auch ohne ein einziges Wort Chinesisch zu verstehen, wie sehr der eingängige Rhythmus offenbar das Memorieren erleichtert. Auch die Gedichte Wang Jingweis, die ein unkundiger Redakteur ins Netz stellte, gehören zu einem Bestand mündlicher Überlieferung, leicht auswendig zu erinnern und oft evoziert, die sich zurückbezieht auf die Zeit, als er als Aushängeschild der nationalistischen Revolution von 1911 gefeiert wurde. Die Kombination der modernen Gehalte mit der klassischen Form, ist sich Yang sicher, macht sie ganz besonders dafür geeignet, sozusagen unter der Zensur hindurchzugleiten. Schon dass Mao die klassische Form verwendete, so ihre überraschende Analyse, war umso effektvoller, wenn es um die Verbreitung durch die neuen Massenmedien ging.
Der Schritt von der mittelalterlichen zur modernen Dichtung, mit der sie sich aktuell vor allem beschäftigt, war also viel kleiner, als er zunächst aussieht. Sie spricht von „modernem Klassizismus“, wenn sie das Nachleben der klassischen Formen in eine Formel packen will. So kanonisch ein Begriff wie Klassizismus daherkommen mag, so wenig ist die klassisch-moderne Dichtung zu ihrem Bedauern allerdings erforscht, und umso mehr gilt dies, wenn es um das Werk eines Kollaborateurs geht. Nach Yangs Beobachtung deutet sich allenfalls ein vorsichtiges Interesse in der chinesischen und der englischsprachigen Forschung an.
Wie nähert man sich nun einer Figur wie Wang? Yang geht es in keiner Weise darum, ihn zu rehabilitieren, auch wenn es ihr wichtig ist zu betonen, dass er nicht die Art von Verräter ist, als der er in China gerne hingestellt wird. Dafür ist sein Nachleben eine zu komplexe Geschichte, die zwischen Dichtung, Historie und Erinnerung spielt. Ausgangspunkt ist die Literatur, sind Wangs Gedichte, die er möglicherweise sogar, so mutmaßt Yang, als sein eigentliches Vermächtnis auffasste – zumindest hat er selbst bestimmt, dass nach seinem Tod nicht seine Reden und Essays, für die er ebenfalls bekannt war, sondern allein seine Dichtung veröffentlicht werden sollten. Es ist für Wangs Verständnis also essenziell, seine Lyrik in die Diskussion um seine Person mit einzubeziehen, denn Yangs Einschätzung nach war sie keine private Angelegenheit, sondern ein wesentlicher Bestandteil der Kommunikation. Erst die Dichtung schafft, so formuliert sie es literaturtheoretisch, den welthaltigen Raum zwischen Autor und Leser.
Während man noch darüber staunt, wie leichthändig die Spezialistin für klassische chinesische Lyrik Namen wie Paul Ricœur oder Julia Kristeva einflicht, deren Werk die unfassbar belesene Literaturwissenschaftlerin ganz selbstverständlich in ihre Überlegungen einbezieht, ist sie schon bei der Geschichtswissenschaft angelangt. Sehr bedauerlich findet sie, dass die Historiker die Dichtung so sehr vernachlässigen. Also hat sie sich, die selbst 2012 von Princeton nach Frankfurt umgesiedelt ist, wo sie seither Sinologie lehrt, in Archive in aller Welt aufgemacht. Durchaus mit unterschiedlichem Erfolg: In Festlandchina ist der Zugang zu Unterlagen aus der Zeit der Kollaboration starken politischen Konjunkturen unterworfen. Fündig wurde sie aber nicht nur in Taiwan, sondern auch in den USA, in Japan, in Deutschland und in Frankreich. Wang hatte intensive Verbindungen in den Westen, lebte von 1912 bis 1919 mit kurzen Unterbrechungen in Frankreich und hatte darüber hinaus zahlreiche Kontakte nach Deutschland – Zusammenhänge, die dank der Arbeiten von Yang nun erstmals erhellt werden können.
Wozu allerdings die Geschichtsforschung keinen Zugang hat oder ihn zumindest nur bekäme, wenn sie die entsprechenden Dokumente berücksichtigte, sind die moralischen Ambivalenzen, die Konflikte, die nicht nur den proteushaften Wang, sondern seine gesamte Epoche durchzogen. Seine Gedichte transportieren daher auch ein kulturelles Gedächtnis, das sich fundamental von dem geschönten Bild unterscheidet, das die offizielle Propaganda zu verbreiten sucht. Weder, meint Yang, gibt es zwischen den ehemaligen Kriegsgegnern in Ostasien eine gemeinsame Geschichte des Zweiten Weltkriegs, sondern nur jeweils separate nationale Narrative, noch gibt es ein Verständnis für Themen wie Schuld oder moralische Verantwortung. In der Selbstbefragung, die Wangs späte Gedichte auch sind, sieht sie einen Raum, der hierzu einen Zugang eröffnen kann. Das meint sie, wenn sie davon spricht, dass Literatur neben persönlichen auch die kollektiven Erinnerungen einer Zeit transportiert.
Ob Yang glaubt, mit ihrer Arbeit zu einer erneuten Beschäftigung mit Wang in Festlandchina beitragen zu können, vielleicht sogar zu einem Wandel seines Bildes? Darüber gibt sie sich keinen Illusionen hin. In Festlandchina sei es äußerst schwierig, Arbeiten über die kulturelle Produktion während der japanischen Besatzungszeit zu veröffentlichen. China blende diesen Teil seiner eigenen Nationalgeschichte in der offiziellen Geschichtsschreibung beharrlich aus. Wenn dem Buch eine chinesischsprachige Veröffentlichung beschieden sein wird, dann voraussichtlich in Taiwan.
Aber vielleicht, so schränkt Yang ein, ist eine wissenschaftliche Publikation auch nicht das Medium, um Einfluss auf die Erinnerungskultur eines Landes zu nehmen. Und Wangs Lyrik kommt zu ihrer großen Freude auch ganz gut ohne eine solche Unterstützung aus. Das untergründige Weiterleben seiner Gedichte ist für sie das beste Beispiel für ein sich etablierendes Gegen-Gedächtnis. Für ihre Arbeit durchkämmte sie Internetforen und Blogs, Lehrbücher genauso wie Filme, und entdeckte mehr, als sie je erwartet hätte. Wangs Gedichte sind allerorten präsent, auch wenn man sie nicht immer auf Anhieb sieht. In Ang Lees weltweit erfolgreichem Film Gefahr und Begierde aus dem Jahr 2007, zum Beispiel. Oder eben auf der Weibo-Seite der Volksbefreiungsarmee.
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Fotos: © Maurice Weiss