Ausgabe 17 / Mai 2022
Brief aus Berlin
Zwei Bezirke, eine Stadt, entfernte Welten
März 2022
Es ist 4.30 Uhr morgens. Ich nehme mein Gepäck, verlasse mein Zimmer und gehe die drei Stockwerke der Weißen Villa in der Wallotstraße hinunter. Ich trete ins Freie und bleibe kurz bei der Holzschaukel stehen, die im Garten aufgestellt ist. Obwohl ich weiß, dass mich jetzt niemand sieht, zögere ich, mich daraufzusetzen. „Wenigstens einmal solltest du diese Schaukel ausprobieren“, denke ich. Ich mache einen Schritt zur Schaukel hin, da höre ich eine Eule vom Halensee her rufen. Ich ändere meinen Plan und eile in Richtung des Geräusches. Vielleicht gelingt es mir ja endlich einmal, die Eule zu sehen. Bei meinen bisherigen nächtlichen Runden war das nicht der Fall. Als ich fast am See bin, verstummt das Rufen, stattdessen kreuzt ein Fuchs meinen Weg. Er hält an und schaut mich unverwandt an. Ich bleibe auch stehen, um ihn nicht zu verschrecken, und wir blicken uns gegenseitig an. Er ist groß und gut genährt. Ich muss an den dürren, hinkenden Fuchs denken, den ich in der Nähe meiner Wohnung in Neukölln gelegentlich sehe. Ich lächele. Es ist ja nur logisch, dass es den Füchsen in Grunewald besser geht als ihren Artgenossen in Neukölln. Dem Fuchs ist langweilig, er zieht weiter und ich versuche vergeblich, ihm zu folgen.
Ich setze mich auf eine Holzbank am Seeufer. Es ist nicht zu kalt. Ich kann hier noch fünf Minuten sitzen bleiben, bevor ich zum S-Bahnhof Halensee laufe, um dort die Ringbahn zu nehmen und wie üblich um Berlin herum von Grunewald weit im Südwesten zur Hermannstraße im Südosten zu fahren. Plötzlich höre ich die Eule in unmittelbarer Nähe. Statt dem Geräusch zu folgen, bleibe ich diesmal einfach, wo ich bin, und verhalte mich still. Vielleicht fasst sie ja Vertrauen und fliegt zu mir herüber. Ich schließe die Augen und atme ganz langsam. Ein Betäubungsgefühl geht durch meinen Körper, ich gebe mich einem leichten Schlummer voller zusammenhangloser Bilder und seltsamer Stimmen hin. Da ertönt mein Wecker, erschreckt öffne ich die Augen. Ich liege in einem schmalen Bett und starre an eine hohe Decke. Es ist 4.30 Uhr, der 19. März. Ich habe nur eine halbe Stunde geschlafen. Gleich kommt der Fahrer und bringt mich zum Flughafen von Beirut. Der Vollmond scheint durch das Fenster in meinem Haus neben dem alten Leuchtturm.
Ich stehe auf und trete auf den Balkon. Der Mond berührt fast das Meer und schickt ein fahles Licht auf die Szenerie. Was für ein Abschied von Beirut! Erst jetzt tut es mir leid, abreisen zu müssen. Noch gestern hatte ich mich gefreut, bald wieder in Berlin zu sein. Elf Tage in Beirut, das im Elend versinkt, hatten mich deprimiert. Und jetzt plötzlich ist mir, als sei ich gerade erst angekommen, und ich will noch nicht weg. Aber der Fahrer ist schon da, fünf Minuten vor dem Termin. Ich bitte ihn, die Küstenstraße zum Flughafen zu nehmen, und lasse ihn an der hohen Stelle über dem Strand von Ramlet al-Baidha anhalten. Ich steige aus und betrachte den Mond, der eine völlig dunkle Stadt beleuchtet. Nach ein paar Minuten ruft der Fahrer scherzend: „Fehlt nur noch ’ne Tasse Kaffee!“ Ich steige wieder ein und erkläre ihm, dass ich keinen Kaffee trinke. Er will unbedingt reden und fragt mich, wohin ich fliege. Ich zögere kurz und antworte: „Zurück nach Neukölln.“ Wo denn das sei, fragt er neugierig. „In Deutschland“, sage ich, aber er ist noch nicht zufrieden. „Was gibt es denn da?“, will er wissen. „Ein Zuhause“, sage ich.
Neukölln – Winter 2016
Mir selber eine Geschichte erstreiten …
was ich weiß (…) verwandeln ins Aushalten eines jähen Anblicks,
eines kurzen Aufschreis, eines stechenden Geruchs
- Damiel in Wim Wenders’ Der Himmel über Berlin, 1988 -
Erschöpft und durcheinander kam ich in Berlin an und ergab mich einem Schicksal, zu dem ich selbst nur wenig beigetragen hatte. In der Tasche hatte ich einen sorgfältig zusammengefalteten Zettel mit der Adresse Weichselstraße 38. Eine Freundin empfing mich am Ausgang des Flughafens Tegel. Ich war dankbar, dass sie gekommen war, und sagte mir, ich sollte mich wenigstens zu einem Lächeln zwingen. Auf dem Weg nach Neukölln bemühte sich meine Freundin, mir nicht noch einmal die Frage zu stellen, auf die ich keine Antwort hatte: „Warum haben sie dich aus Beirut rausgeschmissen?“ Als wir bei der Wohnung ankamen, in der ich die nächsten zwei Jahre leben sollte, fragte mich meine Begleiterin nachdrücklich, ob ich etwas bräuchte, bevor sie mich allein ließ. Ich dankte und sagte, ich sei erschöpft und wolle nur schlafen.
Aber schon wenige Minuten, nachdem sie gegangen war, ging ich auf die Straße. Ich wollte die Gegend erkunden und lief ziellos über die Sonnenallee, die voll von arabischen Geschäften und Lebensmittelläden war, und gelangte in die nicht weniger lebendige Karl-Marx-Straße. Ich ließ meinen Blick schweifen und war beruhigt, dass ich syrisches, libanesisches und türkisches Essen hier nicht würde entbehren müssen. Ich lief zurück zur Wohnung und etwas weiter die Straße entlang, bis ich an die Lohmühlenbrücke kam, wo drei Bezirke aneinandergrenzen: Neukölln, Kreuzberg und Treptow. Ein Kanal öffnet sich hier nach Norden. Es wurde schon fast dunkel, und unter der Brücke schwamm eine Formation von Schwänen. Ich ging hin, um sie aus der Nähe zu betrachten. Auf der Brücke saßen junge Frauen und Männer und sprachen und rauchten und tranken. Ich blickte auf das Wasser westlich der Brücke und spürte eine seltsame Vertrautheit, so als wäre ich schon einmal hier gewesen. Aber etwas fehlte. Ich schaute nach Norden, da war doch vorher eine Mauer? Jetzt wusste ich es wieder! Eine Szene aus Der Himmel über Berlin von Wim Wenders. Ich hatte den Film erst vor ein paar Tagen zum dritten Mal gesehen, um mich auf mein Berliner Exil vorzubereiten.
Die zwei Engel Damiel (Bruno Ganz) und Cassiel (Otto Sander) stehen im Film genau hier, wo ich jetzt bin. In der Szene fragt Cassiel seinen Freund, ob er noch immer von einem Engel zu einem Menschen werden wolle. Damiel antwortet: „Ja. Mir selber eine Geschichte erstreiten … Was ich weiß von meinem zeitlosen Herabschauen, verwandeln ins Aushalten eines jähen Anblicks, eines kurzen Aufschreis, eines stechenden Geruchs.“ Dann überwinden die beiden Engel die Mauer, die Berlin teilt, und verschwinden hinter ihr. Heute ist hier keine Mauer mehr, aber die Worte von Bruno Ganz gehen mir durch den Kopf. Ich überlege, aber mir fällt hier keine Geschichte für mich ein. Ich weiß nur, dass ich an dieser Stelle, wo der Engel sich bei Wim Wenders in einen Menschen verwandelte, zu einem Flüchtling wurde, zu einem Exilanten, einem Fremden! Es wurde dunkel und ich starrte noch immer in den Kanal, dann beschloss ich, in meiner ersten Nacht in Berlin weiter ziellos durch diesen Stadtteil zu laufen. Und seit jenem Abend, seit mittlerweile sechs Jahren, sind Neuköllns Straßen, Grünanlagen und Friedhöfe Schauplatz meiner nächtlichen Streifzüge. Seither kenne ich hier alle Winkel, alle Betrunkenen, Obdachlosen und Süchtigen, und langsam, aber sicher verwandelt sich das Viertel in ein Haus, das ich mir selbst geschaffen habe, statt eines, in dem ich gegen meinen Willen gelandet bin.
Grunewald – September 2021
Letzten September begann meine Fellowship am Wissenschaftskolleg im wohlhabenden Westberliner Bezirk Grunewald. An diesem renommierten Institut begegne ich Kollegen aus allen Teilen der Welt, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vieler verschiedener Disziplinen: Historikern, Biologinnen, Epidemiologen, Philosophinnen, Soziologen, Künstlern und Musikerinnen. Ich erfahre viel über sie und ihre Forschungsgebiete, in Vorträgen, bei Tischgesprächen und bei abendlichen Zusammenkünften. Ich bekomme ein elegantes kleines Büro im obersten Stock der sogenannten Weißen Villa, die gegenüber dem Hauptgebäude des Kollegs liegt. Aber anders als meine Mitfellows werde ich nicht in Grunewald wohnen, sondern komme meist erst abends in mein Zimmer, sodass mich kaum jemand kommen oder gehen sieht. Ohne dass ich es so beschlossen habe, bleibt mein Verhältnis zu Grunewald auf das eines Besuchers beschränkt, der sich nicht gerne blicken lässt. Es gefällt mir dort zwar, aber ich bin nicht gerne zu lange dort.
Vielleicht habe ich Angst, mich an all den Wohlstand und die Ruhe zu gewöhnen. Seit ich 2016 nach Berlin kam, bin ich dreimal umgezogen, und immer wollte ich in Neukölln bleiben. Bei meiner letzten Wohnungssuche vermied ich sogar die neueren Gebiete von Neukölln, wo die Hipstercafés, Bioläden und Designstudios liegen. Ich war froh, am Ende der Hermannstraße, kurz bevor Britz anfängt, etwas zu finden. Es ist nicht weit vom Bahnhof Neukölln im Osten und zum alten Flughafen Tempelhof nach Westen. Eine deutschstämmige Mittel- und Unterschicht lebt hier mit Migranten, vor allem Türken, Libanesen und Palästinensern, zusammen. Die Gegend ist auch für Clankriminalität bekannt, aber die sieht man hier nicht wirklich.
Was man allerdings sieht, sind Anzeichen von Armut, zumindest im Vergleich zu anderen Stadtteilen: die vielen Obdachlosen, Alkohol- oder Heroinabhängigen, die Dealer. Sie koexistieren mit Bar- und Restaurantbesuchern, denn alle Lokale haben hier auch unter der Woche bis spät in die Nacht offen. Es ist laut, es ist dreckig, es ist ganz anders als die Ruhe und die auffallende Sauberkeit in Grunewald. Viele Freunde fragen mich, warum ich unbedingt in Neukölln bleiben will. Aber für mich ist das ganz einfach. Ich möchte da leben, wo ich an die Unerbittlichkeit und die Schönheit des Lebens erinnert werde, an die Zerbrechlichkeit der Menschen, an ihr Elend und ihre Güte, an das Fehlen oder auch die Unmöglichkeit einer Gerechtigkeit. So hält mich Neukölln, und sei es nur in meiner Vorstellung, in Verbindung mit einer Welt, die ich hinter mir lassen musste, eine Welt voller Entbehrungen in entschwindenden Städten. Neukölln ist natürlich trotzdem lange nicht wie eine Vorstadt von Damaskus oder jeder andere Ort in Syrien. Dort gibt es ein schreckliches Maß an Armut und Arbeitslosigkeit, gepaart mit Repression und Angst. Meine nächtlichen Streifzüge durch Neukölln und meine Begegnungen mit Obdachlosen und Süchtigen halten mich so in einer Art Gleichgewicht und bringen mich zurück in die Verlassenheit einer Welt, die noch immer trotz allem hier und da Schönes zu bieten hat. Wenn ich dagegen nachts durch Grunewald streife, mit seinen ruhigen Straßen und Palais und Villen und aufgeräumten Gärten, so erweckt das in mir einen Kummer ganz anderer Art. Die völlige Stille, die menschenleeren Straßen und die Lichter in den Fenstern von ummauerten Häusern lösen in mir eine Traurigkeit aus, deren Ursprung mir nicht ganz klar ist. Es ist ein Gefühl zwischen Furcht und Genuss. Jedes Mal kehre ich verunsichert nach Neukölln zurück.
Am Bahnhof Hermannstraße komme ich nur selten weit, ohne einen der mir bekannten Obdachlosen zu treffen, mit denen mich eine Art Abmachung verbindet. Ich gebe ihnen kein Geld, weil ich weiß, dass sie davon nur Alkohol oder Heroin kaufen würden, aber wenn sie hungrig sind oder eine Tasse Tee brauchen, können sie auf mich zählen. Einer von denen, die ich gerne treffe, ist Abbas. Er ist ein junger Mann aus dem südlichen Libanon. Ich kann nicht sagen, worunter er medizinisch gesehen leidet, jedenfalls hört er permanent Stimmen in seinem Kopf und redet mit sich selbst. Immer wenn er mich sieht, kommt er lächelnd auf mich zu, selbst wenn er nichts zu essen braucht, und jedes Mal erzählt er mir seine Geschichte, so als ob wir uns zum ersten Mal begegneten. Abbas vergisst, dass er mir alles schon erzählt hat, aber sein Eifer lässt mich ihm jedes Mal aufs Neue zuhören. Ich beobachte seine schönen Gesichtszüge, während er mir Einzelheiten erzählt, die ich schon auswendig kenne, aber ich unterbreche ihn nicht. Wenn er fertig ist, lasse ich ihn stehen und gehe. Abbas ist so etwas wie ein Abbild der Syrer. Auch wir Syrer dachten, wenn wir sprächen, würde sich jemand um uns kümmern. Syrer erzählten immer und immer wieder von ihrem Leid, jedes Mal wiederholten sie die Geschichte aus Eifer, Leidenschaft und Not, und warnten davor, was noch alles passieren würde. Aber ihnen hörte niemand zu.
Im Gegensatz zu Abbas spreche ich seit einigen Jahren immer weniger über Syrien. Auch darüber zu schreiben – das Schreiben allgemein – fällt mir immer schwerer, obwohl ich früher leidenschaftlich gerne geschrieben, gebloggt und erzählt habe. Wenn ich heute an Syrien denke, schweige ich. Und wenn ich doch versuche, darüber zu sprechen, flüchte ich mich nach kurzer Zeit in Schweigen. Abbas bemerkt mein langes Schweigen, während ich neben ihm stehe, und vergewissert sich, dass ich ihm immer noch zuhöre. Am leidenschaftlichsten berichtet er mir von seinen letzten Tagen in Beirut, von seiner Rückkehr vom Tod. Er war im Meer schwimmen, schlug mit seinem Kopf an einen Stein und wurde ohnmächtig. „Es ging langsam zu Ende mit mir, ich war im Wasser, ich sah ein starkes Licht und ertrank langsam darin. Ich war glücklich und wollte nicht zurückkommen ... Ich wünschte, sie hätten mich nicht herausgezogen, ich wünschte, ich wäre in Beirut gestorben.“
Beirut – März 2022
Sooft Zacharias zu ihr in den Tempel trat, fand er bei ihr zu essen. „Maria, woher hast du das?“, fragte er. Sie antwortete: „Dies ist von Gott. Gott versorgt, wen er will, ohne dies anzurechnen.“
- Koran, Sure 3, 37 -
Ich blicke auf die Wand eines heruntergekommenen, feuchten Zimmers im Shatila-Camp in Beirut. Umm Ahmad stellt eine Obstschale neben die Süßigkeiten, und ihr Mann Abu Ahmad drängt mich, doch bitte mehr zu essen, und sagt, dass er mich nicht noch einmal empfangen werde, wenn ich vorher bereits zu Abend gegessen habe. Ich nicke und sehe auf die vielen auf einem Plastiktisch aufgereihten Teller. Abu Ahmads Familie musste aus den Außenbezirken des syrischen Aleppo hierher fliehen. Ich kenne sie von einem Projekt in Shatila, einem der größten und miserabelsten palästinensischen Flüchtlingslager im Libanon. Auch Nachbarn setzen sich zu uns, obwohl nur ein paar Kerzen brennen, während es draußen schrecklich regnet. „Niemand fühlt mit ihnen wie wir“, seufzt Umm Ahmad, und sie meint die ukrainischen Menschen, die infolge der russischen Invasion aus ihrem Land fliehen. Der Krieg in der Ukraine ist in diesem engen Raum im Lager Shatila, in einer weiteren Nacht ohne Strom inmitten eines Unwetters über Beirut, präsent. Alle stimmen Umm Ahmads Worten zu und schauen mich in der Erwartung an, dass ich ihnen mehr über den Krieg in Europa berichte, schließlich lebe ich dort. Ich fühle mich zunehmend unwohl und antworte, so kurz es geht. Dann rede ich von einer weiteren Verabredung, zu der ich heute noch müsse, und verlasse das Haus, muss Abu Ahmad und Umm Ahmad aber noch versprechen, sie wieder zu besuchen, bevor ich Beirut verlasse. Ich greife auf die magische Formel „Inschallah – so Gott will“ zurück und trete hinaus auf die Gasse, die im Regen versinkt.
Seit ich vor über sechs Jahren in Beirut war, hat sich im Lager nichts verändert. Die Zeit bleibt hier nicht stehen, sondern läuft rückwärts, sie zermalmt die Bewohner und wirft sie in eine Schlucht der Not und des Vergessens. Ich lasse das Lager hinter mir und mache mich auf den Weg in Richtung El Jdideh, wo ich eine Weile gewohnt habe, als ich Damaskus verlassen hatte. Meine Füße führen mich auf Wege, die ich viele Male gegangen bin, aber jetzt sind sie verwahrlost. Die Dunkelheit verschlingt die Stadt, Strom gibt es nur eine Stunde am Tag. Den Rest der Zeit kann man Strom nur aus Generatoren beziehen. Wer arm ist, hat also möglicherweise nicht mehr als zwei oder drei Stunden am Tag Elektrizität. Bei meiner nächtlichen Tour durch Beirut muss ich ständig auf den Boden schauen, um nicht in Löcher zu fallen. Elf Tage habe ich, um meine Mutter und meinen Bruder nach langer Zeit wiederzusehen. Alle anderen aus der Familie konnten nicht kommen. Elf Tage, um zu verstehen, was in den letzten Jahren mit Beirut passiert ist. Ich gehe an Häusern vorbei, in denen ich einmal gewohnt habe, durch Straßen, aus denen viele Bewohner wegziehen mussten und in denen Geschäfte, Restaurants und Bars schließen mussten, die ich gerne eines Tages wieder besucht hätte, um alte Gespräche wieder aufzunehmen und neue zu beginnen. Nie zuvor habe ich erlebt, wie eine Stadt sich langsam auflöst. Ich hatte Damaskus verlassen, bevor der Krieg es verändert hatte, und alles, was ich seitdem über die Stadt weiß, ist das, was ich auf Bildern und in Videos sehe und was meine Eltern, die noch dort leben, mir erzählen. In Beirut spüre ich, was es bedeutet, wenn das Leben in einer Stadt aufhört, wenn die Hoffnung aus den Augen der Menschen weicht.
Der Regen hat aufgehört. Von Tariq el-Jdideh wandere ich weiter über die Kola-Brücke und gehe in das Jinah-Viertel nach Ramlet Al-Baydha, Richtung Kap am Meer entlang. Die Straßen sind nachts menschenleer. Ich halte an dem Haus, in dem ich in Beirut die längste Zeit gelebt hatte, es war die Wohnung im obersten, neunten Stock eines alten Gebäudes, mit Blick auf das Ende der Hamra-Straße vom östlichen Balkon aus, vom westlichen konnte man das Meer sehen. Ich stehe neben einem alten Zedrachbaum, schaue auf das Licht, das vom Westbalkon der Wohnung kommt, und denke darüber nach, ob ich klingeln und sagen soll: „Ich habe hier vor sechs Jahren gewohnt, kann ich mir mal die Wohnung ansehen?“ Ich verwerfe die Idee, starre wieder auf das Licht, das aus dem Fenster kommt, und stelle mir vor, was aus mir geworden wäre, wäre ich hiergeblieben. Bilder und Geschichten aus einem Leben, das ich hier nicht hatte, von einer an den äußeren Umständen zerbrochenen Liebe und von beendeten Freundschaften drängen in meinen Kopf. Mein heutiges Leben zwischen Neukölln und Grunewald kommt mir vor wie das von jemand anderem, den ich kaum kenne. Eine SMS von meinem Bruder reißt mich aus meinen zerstreuten Gedanken: „Wo bleibst du so lange?“ Ich gehe ins Hotel.
Es ist die vorletzte Nacht meines kurzen Besuchs in Beirut, und meine Mutter, mein Bruder und ich bleiben in unserem Hotelzimmer lange wach. In den wenigen Tagen hier haben wir ohne Absprache ein Spiel gespielt, bei dem es darum geht, möglichst wenig Gefühle zu zeigen. Wir vermieden Gespräche, die Erinnerungen mit sich brächten, denen wir nicht gewachsen wären. Wir verbrachten Stunden im Hotelzimmer und verfolgten die Schreckensnachrichten aus der Ukraine. Drei Syrer, die durch einen erbitterten Krieg in ihrem Land getrennt wurden, erleben ein Déjà-vu. Um die Angst vor den Abschiedsmomenten am nächsten Tag zu bannen, flüchten wir uns auch jetzt wieder ins Fernsehen und die Nachrichten über die Ukraine. Kurz vor Sonnenaufgang schlafen mein Bruder und meine Mutter im Sitzen ein. Ich sehe meine Mutter an, wie sie auf der Couch schläft. Ihre weißen Haare sind mehr geworden, und sie sieht erschöpfter aus als damals, als ich weggegangen bin. Wie ein Stich durchfährt mich die Frage: „Wie sind diese letzten zehn Jahre vergangen? Wer hat sie uns gestohlen?“ Ich berühre sanft den Kopf meiner schlafenden Mutter und versuche ihn zurechtzurücken, damit ihr Nacken sie nicht schmerzt. Ich möchte ihr ins Ohr flüstern, dass alles besser werden wird und wir uns noch oft treffen und näher beieinander sein werden. Stattdessen halte ich inne und beobachte ihr regelmäßiges Atmen, bis ich die Tür leise öffne und mich die Dunkelheit der Gassen Beiruts wieder verschluckt.
Schlaflosigkeit – April 2022
Du wirst keine neuen Länder entdecken, keine anderen Meere.
Die Stadt wird dir folgen. Du wirst durch dieselben Straßen
Streifen, in denselben Vierteln alt werden.
Dein Haar wird weiß in denselben Häusern.
Wo immer du hinfährst, hier wird deine Reise enden.
Es gibt für dich kein Schiff und keine Straße –
Gib die Hoffnung auf. Hast du dein Leben auf diesem kleinen
Fleck vergeudet, so hast du es auf der ganzen Erde vertan.
- Konstantinos Kavafis, „Die Stadt“. Übersetzung Robert Elsie, 2001 -
Seit ich aus Beirut zurück bin, fühle ich mich seltsam leicht. So leicht, dass es mir dabei hilft, meine Wut und Empörung über die Zerstörungen in der Ukraine und die Bilder von dort Flüchtenden einzuhegen. Die ersten Anzeichen des Frühlings in Berlin tun ihr Übriges, um die Schaukel vor der Weißen Villa herum öffnen die ersten Blumen ihre Knospen. Ich fühle mich ruhig, wenn ich in Grunewald bin, und Freundlichkeit umgibt mich, wenn ich inmitten der Fellows im Wissenschaftskolleg ankomme. Ich entdecke sogar neue Wege im nahe gelegenen Wald. Das alles aber kommt nicht gegen meine immer schlimmer werdende Schlaflosigkeit an. Seit ich 2016 nach Berlin kam, leide ich unter schlechtem Schlaf, und immer, wenn ich denke, die Schlafstörungen ließen mich in Ruhe, kommen sie wieder wie ein Fluch. Mit der Zeit habe ich gelernt, dass mein Widerstand dagegen alles nur schlimmer macht. Aber da ich nun einmal mit ihr klarkommen muss, verbringe ich die Zeit mit meiner Schlaflosigkeit lieber in Neukölln, wo wir schon viele Nächte miteinander zugebracht haben. Eine Stunde vor der letzten S-Bahn verlasse ich mein Zimmer in Grunewald. Ich laufe noch ein wenig durch die stillen Straßen, bis ich am Bahnhof Halensee die S-Bahn nach Neukölln nehme. Zwischen Grunewald und Neukölln liegen 15 Kilometer, und zwischen Grunewald und Damaskus liegen 3266 Kilometer, genau wie zwischen Grunewald und Beirut. Es macht mir Spaß, mir vorzustellen, die Bahn würde über alle Grenzen hinweg weiterfahren bis Damaskus oder Beirut. Ich könnte meine zwischen beiden Städten verstreuten Bücher, Fotos und Zettel einsammeln. Ich schaue durch das Fenster auf Stadtviertel, in denen ich einmal gewohnt habe, und sehe Gesichter, die ich gekannt habe. Dunkle, verlassene Wohnviertel, belebte Kieze, leere Gesichter, fahle Gesichter, lächelnde Gesichter, sie winken mir vorwurfsvoll oder freudig zu, während ich an der Scheibe klebe und mit weit offenen Augen alles in mich aufnehme. Dabei stehe ich noch immer am Bahnhof Halensee und sehe die letzte S-Bahn einfahren. Ich steige ein.
Wie üblich sind um diese Zeit die Waggons fast leer. Ich beobachte die Gesichter der letzten Fahrgäste und denke mir Geschichten über sie aus. Junge Frauen und Männer, die von einer Party kommen oder zu einer gehen, erschöpfte Arbeiter nach einem langen Tag, Säufer und Obdachlose. Die meisten fahren allein und schweigen. Manchmal bin ich versucht, mich in die Mitte des Wagens zu stellen und alle Anwesenden laut zu einem Getränk oder einem Abendessen in meine Wohnung einzuladen. Wir könnten uns kennenlernen und lachen, es geht doch nicht an, dass alle bedrückt und sorgenvoll schlafen gehen. Natürlich habe ich das nie getan. Wenn der Zug in Tempelhof ankommt, habe ich das Gefühl, schon fast zu Hause zu sein. Danach fährt er eine lange Strecke durch vollkommene Dunkelheit am alten Flughafen entlang, der jetzt ein riesiger Park ist. Das sind meine Lieblingsminuten während der Fahrt. Ich blicke durchs Fenster auf die weite, schattenhafte Fläche, bis Lichter den Bahnhof Hermannstraße ankündigen, wo ich aussteige. Ich suche nach vertrauten Gesichtern. Um diese Zeit scheuchen die Bahnmitarbeiter die Obdachlosen aus der Halle und schließen ab. In der Ferne sehe ich Abbas. Ich rufe ihn heran und frage, ob er mit mir etwas essen möchte. Er ist einverstanden. Wir nehmen den Nordausgang und gehen zu einer Bäckerei, die die ganze Nacht geöffnet hat. Ich lade Abbas ein, er solle bestellen, was er möchte, dazu ein Glas Tee. Abbas trinkt gerne Milch mit etwas Tee, und ich beobachte, wie er sechs oder sieben Stück Zucker in den Becher tut. Ich warne ihn, der Pappbecher würde überlaufen, wenn er noch weitermache. Fröhlich rührt er seinen Tee um und wir gehen. Ich sage ihm, dass wir das Gekaufte in der Nähe essen werden. Abbas wäre lieber in der Bäckerei sitzen geblieben, aber er folgt mir. Wir gehen Richtung Leinestraße und biegen in einen dunklen Park ein, der zwischen Hermannstraße und dem alten Flughafen liegt. An die Grünanlage grenzt ein kleiner Friedhof, und wenn ich Glück habe, sind auch Eulen da. Ich höre schon eine rufen und bitte Abbas, stehenzubleiben und zu horchen. Ich kann ihn aber nur ein paar Sekunden vom Reden abbringen, und so laufen wir weiter, bis der Park an einer Querstraße am nachts geschlossenen Tempelhofer Feld endet. Wir setzen uns auf eine Bank auf einem etwas erhöhten Punkt und blicken auf das Flugfeld, an dessen Ende Lichter zu sehen sind. Immer wenn ich hier sitze, stelle ich mir vor, ich säße an einem Meer, und die Lichter da hinten kämen von einem Strand oder einer Insel. „Sieht dies hier nicht aus wie das Meer in Beirut?“, frage ich Abbas. „Du bist ja verrückt“, lacht er. „Warum bist du hierhergekommen, Abbas?“, frage ich. Ohne dass ich weiter nachbohren müsste, erzählt er mir wieder, was ich schon auswendig kenne. Es ist kalt, aber mein Tee dampft in meiner Hand und mir ist, als hörte ich in der Ferne eine Nachtigall. Bilde ich mir das ein? Sie müssten ja bald wieder in Berlin sein. Einige dicke Wolken schmücken den Himmel und schieben sich immer wieder über den Halbmond, ohne die Sterne zu verdecken. Ich blicke auf die Lichter in der Ferne, während Abbas mir ohne innezuhalten berichtet, wie er in einem warmen Meer nur Momente vom ersehnten Tod entfernt war und mir von einem Land erzählt, das ihn mitleidlos ausgespuckt hat, obwohl er es geliebt hat, und von einem anderen, das nie seins werden wird.
Von Günther Orth aus dem Arabischen übersetzt.
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Fotos: © Maurice Weiss