Ausgabe 17 / Juni 2022
Die Linse schaut unerbittlich weiter
Peter Geimer
Der Fotograf Guy Tillim erläutert, warum er für ein gutes Bild eine Position größtmöglicher Neutralität braucht
Peter Geimer: Was mich an der Fotografie immer interessiert hat, ist ihre anfängliche Unentschiedenheit. Den Pionieren des neuen Mediums im 19. Jahrhundert war selbst noch nicht klar, was genau sie da eigentlich erfunden hatten: ein neues Instrument der Naturwissenschaft? Eine Sparte der bildenden Kunst? Eine neue Bildindustrie? In den folgenden Jahrzehnten haben sich dann verschiedene Funktionen und Sparten ausdifferenziert – Kunstfotografie, Dokumentarfotografie, wissenschaftliche Fotografie usw. Dieses Raster bestimmt auch heute noch unseren Umgang mit Fotografien, ihren institutionellen Status, aber auch ihren ökonomischen Wert oder Unwert. Andererseits hat es immer wieder Fotografien gegeben, die sich der kategorischen Aufteilung in dokumentarische oder ästhetische Aufnahmen nicht fügen. Vor diesem Hintergrund erscheinen mir deine Arbeiten besonders interessant.
Du hast für Reuters, für Afrapix, ein südafrikanisches Fotokollektiv, und Agence France-Presse gearbeitet, aber seit mehr als zwanzig Jahren ist dein fotografisches Werk auch in Kunstmuseen und Galerien zu sehen. Ich gehe davon aus, dass die dort gezeigten Arbeiten für dich rückblickend keinen radikalen Bruch mit deiner früheren fotojournalistischen Arbeit darstellen, sondern eher eine Variation bestimmter Praktiken und Interessen sind?
Guy Tillim: Diese Unentschlossenheit, von der du sprichst, ergab sich meiner Meinung nach aus dem ziemlich primitiven fotografischen Vokabular. Ich will damit sagen, dass der Wahrheitsgehalt des fotografischen Abbilds eigentlich eine sehr ungewisse Angelegenheit ist. Man nimmt sehr übereilt eine vermeintliche Absicht des Fotografen und die von ihm intendierte Bedeutung an, die aber oft im Dunkeln bleibt. Daher ist die Unterscheidung in verschiedene Teilgebiete wie Kunstfotografie, Dokumentarfotografie und Ähnliches eigentlich ein Versuch, die Absicht des Fotografen zu verstehen. Die Grenzen zwischen diesen Kategorien verschwimmen. Es gibt die Auffassung, dass die Interessen und Anliegen eines Fotografen unterschiedlich sind, je nachdem, ob seine Arbeit von der Presse oder von einer Kunstgalerie in die Welt getragen wird. Du vermutest, dass das bei mir nicht wirklich der Fall gewesen ist, und ich denke, das stimmt. Für mich lag der Unterschied in der Intention.
Ich habe den Eindruck, dass es bei der Vermittlung einer Erfahrung von Welt oder einer Sache und ihrem Verhältnis zur Welt zunehmend um den Kontext geht, oder, anders gesagt, darum, wie man eine Sache oder eine Handlung nicht auf Kosten des Ganzen isoliert. Dies hat sich in meiner eigenen Arbeit als eine Suche nach der Abwesenheit von Urteilen oder der Aufhebung von Vorurteilen niedergeschlagen. Zu fotografieren ist sicherlich eine Tätigkeit an der Vorfront des Versuchs, etwas unmittelbar zu beschreiben, und so versucht die Kunstwelt, die explosionsartige Zunahme des visuellen Vokabulars und der Lesekompetenz zu verstehen. Wir sind jetzt alle Fotografen.
Nach diesem Bruch mit dem Fotojournalismus schienen meine Bilder im Allgemeinen ein Leben in Büchern zu haben, die im Anschluss an eine Ausstellung in einer Galerie oder in einem Museum erschienen. Aber nicht immer, eine Arbeit, die ich über eine Wahl in der Demokratischen Republik Kongo gemacht habe, erschien zum Beispiel in einer Zeitung aus Kinshasa und wurde auf der documenta 12 gezeigt.
PG: Bitte lass’ uns noch einen Augenblick bei diesem Aspekt bleiben. Was du als „Abwesenheit von Urteilen“ und „Aufhebung von Vorurteilen“ beschreibst, hat vermutlich damit zu tun, dass sich deine Arbeit seit Langem schon von den Bedingungen der fotojournalistischen Praxis mit ihren professionellen Regeln und Normen gelöst hat. Zwar spielt die Wahl des Motivs – etwa das gegenwärtige Leben in afrikanischen Metropolen wie Johannesburg, Dakar, Nairobi oder Maputo – nach wie vor eine entscheidende Rolle in deinen Fotografien, aber wenn du beispielsweise in Museum of the Revolution von 2017 deine Fotos in Form von Triptychen zeigst, kommt eine hohe Aufmerksamkeit für das spezifische Potenzial der Bilder hinzu.
GT: Lange Zeit war ich damit beschäftigt, europäischen und amerikanischen Fotojournalisten nachzueifern, die ich bewunderte. Ich bewundere sie immer noch, aber ich habe mich bemüht, meinen eigenen Weg zu finden. Diese Nachahmung beinhaltete fast immer den Versuch, eine Art Vermessung der Dramatik oder Spannung aufzubauen, indem ich Figuren oder Elemente halb in den Bildausschnitt hinein- und halb herauszog. Meine Annahme war, dass dieses Vorgehen Dringlichkeit und das Eintauchen in eine Szene vermittelt, ein Engagement für eine Sache, das auf einen poetischen, unabhängigen Geist hindeutet, der versucht, einer chaotischen Welt Sinn zu geben. Ich habe diese Einflüsse mit mir herumgetragen, merkte dann aber, dass ich immer wieder nach demselben Drama suchte. Es erschien mir zunehmend absurd, ja obszön, all diese verschiedenen Situationen an dieselbe geborgte Ästhetik anpassen zu wollen. Aus dieser Erkenntnis heraus entstand in mir der Wunsch, sich auf das einzulassen, was meiner Meinung nach die größten Potenziale der Fotografie und sogar der Gemeinschaft sein könnten, etwas, das man als Bedürfnis nach Neutralität bezeichnen könnte. Vielleicht ist die „Aufhebung jeglicher Voreingenommenheit“ noch eine bessere Beschreibung. Als junger Fotojournalist in den 1980er-Jahren beim Anti-Apartheid-Kollektiv Afrapix in Südafrika betrachtete ich meine Arbeit als subversiv. Aber vielleicht war sie das gar nicht so sehr. Um Roland Barthes in Die helle Kammer zu zitieren: „Letztlich ist die Fotografie nicht subversiv, wenn sie erschreckt, abstößt oder gar stigmatisiert, sondern wenn sie nachdenklich ist, wenn sie denkt.“ Ich habe also versucht, in meiner Arbeit nachdenklich zu sein.
Dies führte zu einer Reihe von Fotografien afrikanischer Städte, die in einem Buch mit dem Titel Avenue Patrice Lumumba zusammengestellt sind, und dann zu einem Projekt über Landschaften in Französisch-Polynesien und São Paulo. In dem Werk Museum of the Revolution, das in afrikanischen Straßen aufgenommen wurde, habe ich wirklich versucht, dieser Idee der Neutralität eine Form zu geben: die Banalität der Details einer gewöhnlichen Straße, die einen in der Schwebe lassen, kein Element ist wichtiger als das andere, das Fehlen einer auferlegten Dramatik usw.
PG: Roland Barthes, den du erwähnst, hat in einem anderen Text, „Schockphotos“, eine bestimmte Art fotojournalistischer Dramatisierung politischer Ereignisse kritisiert. Er schreibt, diese Bilder seien „überkonstruiert“, in seinem Willen, ein „gutes“ Bild zu machen, habe der Fotograf die Botschaft des Bildes schon vorweggenommen und lasse dem Betrachter keinerlei Freiheit, hier noch etwas Unerwartetes zu entdecken. Diesen Fotos, sagt Barthes, „fehlt sowohl der Skandal des Wörtlichen als auch die Wahrheit der Kunst“. Auf einen Großteil der Bilder, die jährlich als Pressefoto des Jahres prämiert und ausgestellt werden, trifft diese Kritik meiner Meinung nach zu: Man begreift zu schnell, auf welche visuelle Pointe, auf welche visuelle Rhetorik oder ästhetische Konvention das Bild ausgerichtet war. Es gibt also keinen Grund genauer hinzuschauen, weil das Bild gewissermaßen zu „gut gemacht“ und zu schnell verständlich ist. Was du als „Fehlen einer auferlegten Dramatik“ beschreibst, scheint mir auch ein Versuch zu sein, den dargestellten Motiven, z. B. einer Straße im heutigen Johannesburg oder Nairobi, gerecht zu werden, indem man ihre Wirklichkeit nicht zu schnell einer vorformulierten Fotoästhetik unterstellt.
GT: Beim Fotografieren habe ich immer versucht, einen Ort oder ein Gefühl des Schwebens zu finden, an dem sich die Last der Vergangenheit für einen Moment leicht und unbelastend anfühlt. Diese Momente werden länger und zusammenhängender, je älter ich werde, sodass das Fotografieren zumindest in dieser Hinsicht einfacher geworden ist. Was diese Vernarrtheit ausgelöst hat, ist schwer zu sagen. Ich denke, es hat viel mit meiner Arbeit als Fotojournalist in Südafrika zu tun, wo ich mir zunehmend einer groben Darstellung der Ereignisse bewusst wurde, die zum Ende der Apartheid führten. Ich fühlte mich mitschuldig an den sehr oft grob vereinfachenden Sorgen und Belangen der Menschen, für die die Bilder häufig gemacht wurden. Die schnell erfasste visuelle Pointe, wie du es ausdrückst, war das Klischee von Gut und Böse in Südafrika, und ich wollte Abstand zwischen diesem Impuls in mir und meinen Fotografien schaffen.
Anfangs fand ich Zuflucht in einer Art von lyrischem Stil, der sich meiner Meinung nach in einer Reihe von Arbeiten mit dem Titel Departure (Aufbruch) zeigt. Es sind hauptsächlich Fotografien, die entstanden, als ich aus dem Nachrichtengeschäft ausstieg und mit mittelmäßigem Erfolg versuchte, meine Arbeiten an europäische Magazine zu verkaufen. Sie waren jedoch im Wesentlichen eine Chronik meiner idiosynkratischen Wanderungen über den afrikanischen Kontinent.
In Johannesburg habe ich 2004 wieder Fuß gefasst. Das Ende der Apartheid 1992 bedeutete natürlich, dass die Gesetze zur Einschränkung der Bewegungsfreiheit aufgehoben wurden und Menschen, die zuvor keinen Zugang zu den wirtschaftlichen Zentren hatten, in die Stadt strömten. Dies führte zu einem white flight und einem Kampf um erschwinglichen Wohnraum, der mit den wirtschaftlichen und politischen Kosten der Bereitstellung von Dienstleistungen verrechnet wurde. Kurz gesagt wurde das New York Afrikas zu einer entschieden afrikanischen Stadt, und ich war entschlossen, diesen Übergang zu dokumentieren. In diesem Moment wurde mir klar, wie unrealistisch es war zu glauben, dass ich die unendlichen Impulse einer Stadt in ein journalistisches Porträt verwandeln könnte, dessen einzelne Teile ein verständliches Ganzes ergeben würden, wie ein zusammengesetztes Puzzle. Zum ersten Mal versuchte ich daher, an einem Ort zu sein, ohne ihm eine Dramatik oder eine Erzählung aufzudrängen, und dann und wann gelang es mir, diesen Zustand in ein Bild einfließen zu lassen.
Dieselbe Idee wandte ich einige Jahre später auf die Arbeiten an, die als Avenue Patrice Lumumba veröffentlicht wurden – Fotografien, die in afrikanischen Hauptstädten entstanden. Es gab komplexe politische Gründe für den Zustand der verfallenden Gebäude und ich war besorgt, dass eine bestimmte Art der Darstellung von Verfall eine vereinfachende visuelle Metapher für den afrikanischen politischen Zustand einer bestimmten Ära wäre. Das wollte ich vermeiden, denn die Gebäude zogen mich auf andere Art an: Ich verband mit ihnen eine Hoffnung und Erwartung in der Kolonialzeit – wie unangebracht auch immer sie gewesen sein mag –, außerdem den Sturz der kolonialen Regime, zusammen mit dem Pathos der gescheiterten Erwartungen, die damit einhergingen. Auf der Suche nach dem Schwebezustand stellte ich mir eine aufregende Zukunft vor, jung zu sein an einem Ort, der zu etwas Neuem wurde.
PG: Bleiben wir vielleicht noch einen Augenblick bei deinem Fotobuch Avenue Patrice Lumumba. Lumumba war einer der ersten frei gewählten Präsidenten des modernen Afrika. In einem Akt außergewöhnlicher Courage hat er 1960 die offiziellen Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit des Kongo in Léopoldville genutzt, um den belgischen König mit den verheerenden Konsequenzen seiner Kolonialpolitik zu konfrontieren. An Lumumbas Präsidentschaft waren große Hoffnungen – etwa der afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen – gebunden. Auch wenn diese Hoffnungen durch die Ermordung Lumumbas und die Regentschaft Mobutus zurückgedrängt wurden, ist Lumumba als politische Gestalt nicht einfach verschwunden. Die Fotos sind lange nach den erwähnten Ereignissen entstanden, aber die Vergangenheit des Landes ist in ihnen doch eigentümlich präsent. Bertolt Brechts berühmte Sentenz, wonach eine Fotografie der Krupp-Werke oder der AEG beinahe nichts über diese Institute aussagt, da sie deren Realität nicht abzubilden vermag, hat mich niemals wirklich überzeugt. Die Geschichte zeigt sich auch an den Außenseiten der Dinge: einem aufgegebenen Grand Hotel in Beira/Mosambik, auf dessen Terrasse die neuen Bewohner Wäsche zum Trocknen aufhängen, im Blick auf den Hafen von Quelimane mit der Aufschrift „Digital Super Power Dish“ auf einer Satellitenschüssel im Vordergrund, im ausgeblichenen Kalenderblatt an der Schranktür eines Verwaltungsbüros. Die Stärke und Schönheit deiner Bilder aus Avenue Patrice Lumumba besteht für mich darin, dass sie die Städte Afrikas als Orte in der Geschichte zeigen. Beim Betrachten der Bilder hat man den Eindruck, dass alle Elemente dieser urbanen Landschaft, die Architektur, die Alltagsdinge, die Vegetation, die Menschen, die sich zwischen all dem bewegen, ihre jeweils ganz eigene Dauer und Lebenszeit haben und in ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten nebeneinander existieren. Gemessen an den rhetorischen Pressebildern, von denen ich sprach, empfinde ich es als befreiend, dass diese Fotos sehr genau beschreiben, aber keine Meinung oder Botschaft aufdrängen.
GT: Die Fotoreportagen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren aus Afrika kamen, waren auf die Katastrophen der postkolonialen Ära fixiert, und ich bildete da keine Ausnahme. Doch die Landschaft und die Architektur der Städte zogen mich zunehmend in ihren Bann, und irgendwann verlor ich das Interesse an den Ereignissen und konzentrierte mich stattdessen auf die Umgebung. Ich wünschte, ich hätte das schon früher getan und einfach auf die Details der gewöhnlichen Dinge und Strukturen geachtet, die offen vor mir lagen. Sie nahmen für mich eine faszinierende Form und Patina an, da sich frühzeitig eine unbestreitbar afrikanische Identität in diesen Revolutionen gegen postkoloniale Regimes formte, wobei in vielen Fällen eine sozialistische Politik verfolgt wurde und ein globalistischer, kapitalistischer Staat entstand. Du hast es sehr gut ausgedrückt: Geschichte zeigt sich an der Außenseite der Dinge. Die Spuren davon waren so offensichtlich.
Ich empfand es auch als befreiend, mich einem Umfeld, das von Gewissheiten postkolonialer Erzählungen überladen ist, mit einer Neutralität zu nähern, von der ich hoffte, dass sie eine gewisse Zweideutigkeit vermitteln würde. Eine Zweideutigkeit, die im Revolutionsmuseum in Maputo gut veranschaulicht wird: Dort gibt es ein von nordkoreanischen Künstlern geschaffenes Panoramagemälde, das die Befreiung der Hauptstadt von der portugiesischen Kolonialherrschaft darstellt. Es zeigt die Rhetorik einer Revolution, auch wenn der Führer und seine Anhänger durch die von den Kolonialmächten mit großem Aufwand angelegten Straßen und Alleen paradieren. Lumumba hat sein eigenes Todesurteil unterschrieben, als er sich den Kolonialmächten so mutig entgegenstellte, und wir werden nie erfahren, wie sein Traum ausgesehen hätte. Vielleicht war damals niemand bereit dafür, vielleicht geht er jetzt in Erfüllung.
PG: Es erscheint mir wichtig, dass du noch einmal auf die politische Dimension deiner Bildgegenstände zu sprechen kommst. Es wäre ja ein Missverständnis, wenn man das von dir mehrfach erwähnte Interesse an der Neutralität als Indifferenz, Passivität oder naiven Glauben an die Unparteilichkeit und Objektivität des Fotos verstehen würde. Tatsächlich ist diese Art von Neutralität ja eine Form, die sich gerade nicht von selbst ergibt, sondern die gefunden und erarbeitet werden muss. Insofern sehe ich deine Fotos als eine ästhetische Alternative zur Sprache der professionellen Kommentare und Manifeste, die immer genau weiß, was gerade geschieht und was als nächstes zu tun ist.
Den Fotos in Museum of the Revolution ist ein Zitat von Achille Mbembe vorangestellt: „Postcolonial Africa is an interlocking of forms, signs and languages. These forms, signs and languages are the expression of a world striving to shape its own existence.“ Diese Verflechtung und diese Suche nach einer neuen Gestalt erkennt man auch in deinen Fotos. In Museum of the Revolution gibt es ein Detail, das den transitorischen Charakter des Landes sehr schön ins Bild setzt: Du zeigst die Personen fast immer als Passanten, ganz wörtlich: im Augenblick des Ausschreitens. Die Gehenden durchqueren ein urbanes Palimpsest aus neuen und alten, abgelegten und überlebenden Formen und Zeichen: Das „Museum der Revolution“ ist kein Grab, sondern ein Ort, an dem man unterwegs ist.
Vor diesem Hintergrund verdienen deine Landschaftsfotografien noch einmal besondere Aufmerksamkeit. Im Unterschied zu den Straßenbildern sind die darauf gezeigten Orte mitunter menschenleer – die tropische Vegetation auf Tahiti, Vögel über der Meeresküste von Tikehau in Französisch-Polynesien. Schon der Titel, den du diesen Bildern gegeben hast – Second Nature – deutet darauf hin, dass es hier nicht um eine ursprüngliche und unberührte Natur gehen kann, sondern einmal mehr um kulturell geformte und historische Landschaften – sichtbar etwa in der Präsenz eines unter Bäumen abgestellten Autowracks, das in seiner Nutzlosigkeit vielleicht selbst allmählich in die Gestalt der Landschaft hineinwächst. Es gibt keinerlei Exotismus auf diesen Bildern, trotzdem scheinen Natur und Landschaft auf diesen Bildern etwas Eigenständiges, von ihren Bewohnern Unterschiedenes zu besitzen. Sehe ich das richtig?
GT: Ich glaube, du siehst das völlig richtig. Ich ging nach Französisch-Polynesien, um die Landschaft zu fotografieren. Ich hatte einige von James Cooks Tagebüchern gelesen und mir die Gemälde seiner Künstlercrew angesehen, insbesondere von William Hodges auf der zweiten Reise. Die Maler waren sehr erfahren und achteten auf topografische und atmosphärische Effekte, aber es fiel ihnen oft schwer, dem Drang zu widerstehen, ihre Werke mythologisch auszuschmücken und sie in idealisierte Landschaften zu versetzen. Ihr Schaffen hatte damals einen enormen Einfluss auf die Visualisierung des Südpazifiks, und das ist bis heute so geblieben. Ich fragte mich, wie ich zurechtkommen würde. Wie würde ich die Neutralität finden, nach der ich mich auch in einer Landschaft sehne, die so sehr mit Vorstellungen des Erhabenen aufgeladen ist? Es würde nichts taugen, einfach die natürliche Schönheit mit etwas Unschönem aufzuheben – etwa einem Bulldozer und einer Baustelle im Paradies. Als ich ankam, kaufte ich reichlich Postkarten, hängte sie auf und dachte mir: Okay, das ist alles ganz gut gemacht, wie könnte ich es anders machen? Die Antwort war für mich alles andere als offensichtlich.
Man konnte sehen, dass für die Postkartenfotografen das Detail und die Monumentalität einer Aussicht relativ leicht zu beschreiben waren, aber das, was dazwischen lag, war ungreifbarer und flüchtiger. Also beschloss ich, das zu finden, was ich nur als eine nicht hierarchische Betrachtungsweise einer Szene bezeichnen kann, in der Elemente wie der Fels, die Bucht, die Palme und die Straße gleichwertig sind. Kein Element schrie nach besonderer Aufmerksamkeit, aber es gab auch kein Element, das sich vor einem ausgewogenen und unvoreingenommenen Blick versteckte. Ich suchte nach einer fesselnden Zweideutigkeit, bei der nicht ganz klar war, was fotografiert wurde. Der Blick sollte wandern. Das war vor allem eine Geisteshaltung, und ich glaube, es sind einige interessante Bilder dabei herausgekommen. Ich versuchte, das, was ich bei diesem Abenteuer im Südpazifik gelernt hatte, auf afrikanische Straßen anzuwenden.
PG: Alle Bilder, von denen wir zuletzt gesprochen haben (Avenue Patrice Lumumba, Second Nature, Museum of the Revolution) sind in Farbe. Am Beginn deiner Arbeit gab es aber auch Serien, in denen du – ich glaube, ausschließlich – in Schwarz-Weiß gearbeitet hast, z. B. die sehr eindrucksvollen Porträts der Mai-Mai-Soldaten, einer Gruppe junger Guerillakämpfer, beinahe Kinder, die Gesichter eingehüllt in Camouflage-Astwerk und schwere Holzschläger in der Hand haltend. In Leopold and Mobutu gibt es Aufnahmen in Schwarz-Weiß, andere in Farbe. Historisch gesehen wurde diese Alternative lange Zeit kontrovers diskutiert. Als nach einem Jahrhundert des Schwarz-Weiß das Fotografieren in Farbe technisch möglich wurde, sah man diese Entwicklung keineswegs überall als Fortschritt an. Für viele Vertreter der künstlerischen Fotografie wäre es lange Zeit undenkbar gewesen, mit Agfacolor oder Kodacolor zu arbeiten: Das bunte Foto galt als vulgär, eine Signatur der Populärkultur und der Unterhaltungsindustrie. Heute ist diese Ideologisierung der Farbe einer friedlichen Koexistenz gewichen. Trotzdem scheint es mir so, dass die Entscheidung für Farbe oder Schwarz-Weiß nach wie vor bestimmten ästhetischen Grundentscheidungen folgt.
GT: Als ich 2003 diese Porträts von Mai-Mai-Soldaten in der Demokratischen Republik Kongo machte, arbeitete ich noch mit Schwarz-Weiß-Filmmaterial. Kurz zuvor hatte ich mir eine Digitalkamera angeschafft, war aber noch nicht bereit, zwei Monate lang im feuchten Zentralkongo mit dieser neuen Technologie zu arbeiten. Speicherung und Dateiverarbeitung waren für mich zu diesem Zeitpunkt etwas ganz Neues. Ich bevorzugte den Schwarz-Weiß-Film aus zwei Gründen: Es war die Art und Weise, in der ich für Zeitungen zu arbeiten gewohnt war, und sie ermöglichte Kontrolle. Der Farbdruck in einem Labor war teuer und relativ kompliziert, während ich mit einer Schwarz-Weiß-Dunkelkammer vertraut war. Als die digitale Dateiverarbeitung mir dann diese Kontrolle bot, habe ich sie sehr begrüßt. Die ersten echten digitalen Farbarbeiten machte ich etwas später im selben Jahr im Kongo – die Technologie machte damals rasante Fortschritte – und im Jahr darauf in Johannesburg, wo ich Bilder in der Innenstadt aufnahm, die 2004 in einem Fotobuch mit dem Titel Jo’burg veröffentlicht wurden.
Danach hat mich der digitale Farbdruck in seinen Bann gezogen, und es erschien mir undankbar, die neuen Möglichkeiten nach all den Jahren der Schwarz-Weiß-Fotografie nicht zu erkunden. In letzter Zeit, bei meinen Bildern von Berlin in diesem Jahr, bin ich wieder zu Schwarz-Weiß zurückgekehrt. Auch hier denke ich, dass es um Kontrolle geht. Ich beabsichtige, digitale Dateien zu verwenden, um Schwarz-Weiß-Negative und Silbergelatineabzüge zu erstellen, das heißt eine digitale Aufnahme mit einer analogen Ausgabe. Das ist von beidem das Beste, würde ich sagen: Ein analoger Abzug hat eine eigene Geografie, macht ihn zu einem eigenständigen Objekt, wie es ein Tintenstrahldruck nie sein kann. Und noch etwas ergab sich hier in Berlin: In den Jahren, in denen ich versucht habe, europäischen Fotografen nachzueifern, war ich furchtbar neidisch auf die wunderbar dunkle Tonalität ihrer Schwarz-Weiß-Abzüge, die unter einem strahlenden afrikanischen Himmel unmöglich zu imitieren ist.
PG: Einen strahlenden Himmel bietet Berlin tatsächlich eher selten. Umso besser aber, wenn das Licht der Stadt dazu beiträgt, dass du nun noch einmal zum Schwarz-Weiß zurückkehrst. Kannst du ein paar Worte zu deiner aktuellen Arbeit hier in Berlin sagen? Du hast zuvor ja bereits in Rom gearbeitet – auch eine Stadt, die ihre Besonderheit aus der palimpsestartigen Überlagerung verschiedener Zeitschichten bezieht. Vor dem Hintergrund deiner bisherigen Arbeiten kann man sich vorstellen, dass auch Berlin für dich ein interessanter Ort sein kann: einerseits eine Stadt der Spuren, anderseits eine Stadt, in der man historisch Gewordenes beseitigt, wie z. B. den Palast der Republik, um dann am gleichen Ort eine andere, als angenehmer empfundene Vergangenheit zu simulieren.
GT: Ja, jetzt, wo die Sonne herausgekommen ist, bin ich ein bisschen deprimiert. Es ist schade, dass ich den Palast der Republik nie zu Gesicht bekommen habe, ich hätte versucht, ihn in einer Ansicht oder einen flüchtigen Eindruck einzubauen. So habe ich ein paar Fotos des Nachfolgebaus gemacht, die eine Zeit lang vielversprechend schienen, aber am Ende nicht in die Auswahl kamen. Meine Ausflüge durch die Stadt waren eigenwillig, scheinbar zwecklos, aber hoffentlich nicht sinnlos. Es ist nicht an mir, das zu beurteilen. Die Kamera sieht mehr als das Auge, ist leidenschaftsloser. Wieder die Gefahr einer zu schnellen Bedeutungszuweisung. Das geistige Auge scheint sich abzuschalten, wenn eine Bedeutung geschaffen ist, während die unerbittliche Linse weiterschaut. Ich wollte mehr wie ein Objektiv sein, besonders in Berlin, wo die Schichten für mich fast undurchsichtig sind, im Gegensatz zu afrikanischen Städten, in denen ich eine emotionale Verbindung zu Zeichen und Spuren habe.
Auf alle Fälle sind diese Berliner Bilder konstruiert. Das heißt, dass das einzelne Bild aus zwei oder mehr Bildern zusammengesetzt ist. Das ist etwas, womit ich in Abidjan und Daressalam zu experimentieren begonnen habe. Es ist kein besonders kompliziertes Photoshop-Kunststück, aber das Entscheidende liegt paradoxerweise darin, zu entscheiden, was weggelassen, und nicht, was dringelassen werden soll. Es ist eher eine Übung in Zurückhaltung als in Schwelgerei. Und darin liegt eine gewisse Integrität.
Die Welt der Fotografie hat Mühe, mit der Integrität des Bildes im digitalen Zeitalter umzugehen. Der Satz „Die Kamera lügt nicht“ findet heute wenig Resonanz, wie der Fototheoretiker Fred Ritchin in einem kürzlich erschienenen Artikel für das Berliner ReVue – Magazin für Fotografie und Wahrnehmung feststellt. Er beschreibt den Paradigmenwechsel der Fotografie hin zu einem synthetischen Medium, ähnlich der Malerei. Die Architektur der analogen Fotografie lud nicht zu einer umfassenden Neuerfindung ein, sondern ihre Stärke lag darin, dass sie weitgehend sich selbst überlassen wurde, erinnert er uns. Und er erinnert an Susan Sontags Aussage, dass „eine Fotografie nicht nur ein Bild, eine Interpretation des Realen ist; sie ist auch eine Spur, etwas, das direkt vom Realen abgeschrieben ist, wie ein Fußabdruck oder eine Totenmaske“. Man fragt sich, wie das visuelle Vokabular mit dieser Ungewissheit zurechtkommen wird. Hoffentlich nicht mit Gewissheit.
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Fotos: © Maurice Weiss