Ausgabe 17 / Februar 2022
„Ihr müsst Mathekurse nehmen!“
von Manuela Lenzen
Die Systembiologin Elisa Domínguez-Hüttinger beschreibt in planvoll vereinfachten mathematischen Modellen die Komplexität biologischer Kippmomente
Manchmal ist es, als würde ein Schalter umgelegt. Gerade ist man noch putzmunter, vielleicht ein bisschen müde, man erlaubt sich ein Nickerchen, und wenn man aufwacht, ist man richtig krank. Meist geht es dann nach ein paar Tagen Ruhe ebenso rasant wieder aufwärts. Für den Organismus ist dies ein Balanceakt: Er muss auf eine Störung, die Infektion, reagieren, indem er von seinem gewöhnlichen Zustand abweicht und zum Beispiel die Körpertemperatur erhöht. Aber nur so weit, dass er wieder in seinen Ursprungszustand zurückfinden kann. „Das Gleichgewicht zu halten zwischen Stabilität und Flexibilität, ist für gesunde biologische Systeme zentral“, erklärt Elisa Domínguez-Hüttinger, Biologin, Bioingenieurin und Fellow des College for Life Sciences am Wissenschaftskolleg. Sie versucht, dieses Ausbalancieren zwischen Gesundheit und Krankheit zu verstehen, indem sie es mathematisch modelliert.
„Mit den Werkzeugen der Systembiologie können wir ein genaues Modell der Vorgänge in einem System entwickeln. So bekommen wir eine Idee davon, wie es funktioniert, und können idealerweise auch voraussagen, wie es sich verhalten wird“, so die Forscherin. Die Anwendungsmöglichkeiten für solche Modelle sind vielfältig: In der Medizin könnten mit ihrer Hilfe Warnsignale, die die Entstehung einer Erkrankung ankündigen, früh erkannt und ihr Verlauf prognostiziert werden. In der Ökologie ließen sich Kipppunkte in der Veränderung von Ökosystemen ausmachen und man könnte simulieren, wie sich etwa das Bekämpfen oder Unterstützen bestimmter Arten auswirkt. Der Weg bis zur Anwendung solcher Modelle ist allerdings lang. Nicht nur, weil sie sorgfältig getestet und immer wieder angepasst werden müssen. Elisa Domínguez-Hüttinger musste auch erst einmal dafür werben, mit ihrem Ansatz überhaupt ernst genommen zu werden.
„Ich wusste früh, dass ich Biologie studieren wollte“, erzählt die 1984 in Mexiko-Stadt geborene Forscherin. „Das Experimentieren mochte ich nicht so sehr, dafür aber Mathematik, Entwicklungsprozesse und dynamische Systeme. In einem Nature-Podcast, den ich abonniert hatte, um mein Englisch zu verbessern, habe ich irgendwann zum ersten Mal von Systembiologie gehört, da wusste ich gleich: Das ist es!“ Also studierte Elisa Domínguez-Hüttinger an der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM) Biologie. Um in der Modellierung arbeiten zu können, hätte sie in Mexiko allerdings noch ein komplettes Mathematikstudium absolvieren müssen. „Ich dachte: Es kann doch nicht sein, dass man zehn Jahre studieren muss, bevor man interessante Fragen stellen kann!“ Für ihren Master wechselte sie daher ans Imperial College London, studierte dort Systembiologie, Synthetische Biologie und Bioengineering. „Dort fand ich das andere Extrem, alles war sehr pragmatisch, es ging mir fast zu schnell“, sagt sie rückblickend. Heute leitet sie als Assistant Professor am Institut für Biomedizin der UNAM eine Forschungsgruppe, die sich mit der Modellierung biologischer Systeme befasst.
Dort kombiniert sie interdisziplinäre Zusammenarbeit und britischen Pragmatismus. Die komplizierte Mathematik nichtlinearer Phänomene, mit der die Forschenden dort arbeiten, macht das allerdings nicht einfach. „Wir arbeiten in einem Team mit Biologinnen, Ingenieuren und Mathematikerinnen. Letztere machen sich große Mühe zu erklären, was sie tun, zum Beispiel mit Visualisierungen. Aber so bekommt man nur ein oberflächliches Verständnis und das reicht manchmal nicht. Gelegentlich muss ich den Biologinnen und Biologen dann sagen: Es hilft nichts, ihr müsst Mathekurse nehmen!“ Immerhin sei die Mathematik zur Analyse abrupter Veränderungen, die Katastrophentheorie, ein gut entwickeltes Gebiet, aus dem man sich bedienen könne. Zudem schätzt die Forscherin die Präzision der Mathematik: „Es gibt immer viel Verwirrung, wenn Begriffe wie Robustheit oder Plastizität nicht klar definiert sind, es ist wirklich sinnvoll, sich zusammen hinzusetzen und das mathematisch auszubuchstabieren“, ist ihre Erfahrung.
Der Aufenthalt am Wissenschaftskolleg komme gerade im richtigen Moment ihrer Karriere, berichtet sie: „Ich kann mit erfahrenen Kolleginnen und Kollegen darüber sprechen, wie man solche interdisziplinären Gruppen leitet. In der Wissenschaft ist es ja so: Gerade ist man noch Postdoc, dann ist man Gruppenleiterin, und eigentlich erklärt einem niemand, worauf es dabei ankommt.“
Elisa Domínguez-Hüttinger forscht vor allem an Zellen des Epithels, dem Gewebe, das alle inneren und äußeren Körperoberflächen umgibt. „Angefangen habe ich damit, einfach weil meine Doktormutter wollte, dass ich zu Hautkrankheiten forsche, aber dann habe ich gesehen, dass das ein sehr spannendes Feld ist. Alle vielzelligen Lebewesen haben nämlich Epithelzellen, es ist ein sehr ursprüngliches Gewebe; außerdem ist es die erste Verteidigungslinie des Körpers gegen Einflüsse von außen, es ist also sinnvoll, Fragen nach Krankheit und Gesundheit an diesem Gewebe zu erforschen“, erklärt die Biologin.
Als Modelliererin experimentiert sie nicht selbst, sondern stellt auf der Basis von Daten der experimentell arbeitenden Forscherinnen und Forscher Systeme von Gleichungen auf, die das Verhalten biologischer Systeme beschreiben. Sinkt etwa die Konzentration eines Botenstoffes in einer Zelle, nachdem diese einen Reiz erfahren hat, müssen die Gleichungen zum selben Ergebnis kommen. Die derzeit viel diskutierten Modelle der Künstliche-Intelligenz-Forschung liefern Ergebnisse, ohne dass man genauer wüsste, wie sie zustande kommen. Domínguez-Hüttinger hingegen arbeitet mit Modellen, die die Mechanismen detailliert nachbilden, die in biologischen Systemen am Werk sind: den Wasserkreislauf des Wäldchens, die Sonne, die Energie abgibt, die Proteine, die in den Zellen generiert, transportiert und wieder abgebaut werden. Kästen, Kreise und sehr viele Pfeile illustrieren ihre Publikationen. „Nur wenn man die Mechanismen kennt, kann man gezielt eingreifen“, erklärt sie. „Damit kann man die Black Box, die so ein lebendes System nach wie vor darstellt, zwar nicht öffnen, aber man kann besser raten, was darin ist.“
Kann ein Modell einen Datensatz nachbilden, wird es mit neuen Daten immer wieder überprüft: erst mit Daten aus Laborkulturen, später, bei Domínguez-Hüttingers Modell des Epithelgewebes, mit Daten von Patienten mit Hauterkrankungen aus der Klinik. Verhält sich das Modell noch immer wie das lebende System? Ist es zuverlässig? Immer wieder muss es ein wenig angepasst werden, dann kommt ein neuer Testlauf. „Dazu arbeiten wir eng mit Arztpraxen und Krankenhäusern zusammen“, berichtet die Forscherin. Doch lebende Systeme sind komplex: „Aus der Literatur weiß ich, dass es ein Systemmodell zur Behandlung von Prostatakrebs in Phase drei der klinischen Studie gibt. Das ist bald einsatzreif, aber es wurde vor 25 Jahren zum ersten Mal vorgestellt.“ Das ausgereifteste ihrer eigenen Modelle ist zwölf Jahre alt: „Wir sind gerade dabei, es mit klinischen Daten nachzutrainieren, vielleicht wird es in zehn Jahren robust genug für den Einsatz in der Klinik sein.“ Dann wäre es in der Lage, die relevanten Faktoren zu berücksichtigen und diejenigen wegzulassen, auf die es weniger ankommt. „So ein Modell ist immer eine Vereinfachung und irgendwann macht es Fehler, es kann ja nicht die ganze Welt abbilden. Es kommt darauf an, ein Modell zu finden, das gut genug ist“, so die Systembiologin. Dann könnte es Medizinerinnen und Mediziner bei Diagnose und Therapie unterstützen.
Am Wissenschaftskolleg versucht Elisa Domínguez-Hüttinger, die einfachste mögliche mathematische Repräsentation eines biologischen Systems zu finden, das in der Lage ist, zwischen Gesundheit und Krankheit zu wechseln. Dazu forscht sie nicht nur zum Epithelgewebe, sondern untersucht die entsprechenden Prozesse auch bei dem Pilz Neurospora crassa und einem Ökosystem, einem kleinen Wald. „Manchmal komme ich mir vor wie eine Alchemistin, ich versuche, die Essenz der Dinge zu finden“, sagt sie und lacht. „Aber es ist faszinierend, dass man Systeme von so unterschiedlicher Größe mathematisch ganz ähnlich beschreiben kann.“
Bislang hat sie mit ihrer Arbeitsgruppe gleich drei solcher „Essenzen“, in der Forschung Module genannt, gefunden. Das eine ist in der Tat ein Schalter: „Wir sehen bei Systemen aller Größenordnungen, dass sie auf kontinuierliche Veränderungen irgendwann mit einem abrupten Übergang reagieren: Eben war man noch gesund und dann ist man plötzlich krank, eben war der Wald noch grün, dann vertrocknet er.“ Das zweite Modul hält die positiven und negativen Regelkreise im Gleichgewicht und regelt den Zugang zum Schalter. Das dritte ist eine Art Kondensator oder Gedächtnis, das den Ablauf einer Veränderung präsent hält, bis eine „Entscheidung“ getroffen ist. „In der Systembiologie und Synthetischen Biologie benutzt man gerne Begriffe aus der Elektrotechnik, um die Funktion der einzelnen Elemente zu beschreiben“, erklärt die Forscherin. Und wenn die Biologen einen einfachen Regelkreis entdeckt haben, versuchen die Modelliererinnen ihn nachzubauen, und machen dabei manchmal eigene Entdeckungen: „Ich weiß von einem Fall in einem Labor in Argentinien, da dachten die Forscherinnen und Forscher, sie hätten ein System verstanden, aber beim Modellieren fiel auf, dass es nicht so sein konnte, wie sie es sich vorstellten. Es fehlte eine Rückkopplungsschleife, die von einem Molekül ausgelöst wird, das sehr langsam abgebaut wird. Das haben sie dann gesucht und tatsächlich gefunden – eine schöne Erfolgsgeschichte.“
Auch der umgekehrte Fall kommt vor: Etwa wenn ein Organismus sich einfach nicht an das mathematische Optimum halten will und komplizierter ist, als es theoretisch möglich wäre. „Das sieht zuerst aus wie ein Paradox: Ein minimales Modell kann die Daten erklären, aber das System ist trotzdem komplizierter.“ Die Forscherin vermutet, dass dies einmal mehr mit dem Verhältnis von Plastizität und Robustheit zu tun hat: „Wenn es nur einen Regelkreis gibt und der wird etwa durch eine Mutation zerstört, ist das ganze System verloren. Wenn es eine Art Back-up-Netzwerk hat, ist es wahrscheinlicher, dass es wieder zur alten Form zurückfindet, wenn es aus dem Gleichgewicht gebracht wurde.“
Für Domínguez-Hüttinger bringt die Systembiologie das Spannendste aus beiden Bereichen, Biologie und Mathematik, zusammen. Sie ist fasziniert davon, dass Forscherinnen und Forscher mithilfe der Modellierung noch einmal viel mehr aus ihren Daten herausholen können als mit den üblichen Analysemethoden. In einem aufstrebenden Land wie Mexiko spielt das auch eine ganz pragmatische Rolle, denn das Experimentieren ist teuer: „Es ärgert mich jedes Mal, wenn ich darüber nachdenke: Es ist nicht nur so, dass wir hier an der Universität weniger Geld für Experimente ausgeben können als in den reicheren Ländern, es ist auch noch alles viel teurer. Wenn man etwa eine bestimmte Zelllinie braucht, muss man sie importieren und Einfuhrgebühren zahlen. Als ich in einem Experimentallabor in Japan gearbeitet habe, ist mir klar geworden, wie viel teurer es in Mexiko ist, einen Datenpunkt zu erarbeiten. In den experimentellen Wissenschaften können wir einfach nicht mithalten.“
Anfangs, berichtet Domínguez-Hüttinger, habe sie viel für ihren Ansatz werben müssen. Immerhin ist sie darauf angewiesen, dass andere ihr Daten zur Verfügung stellen. Inzwischen habe sich der „Service“, den sie mit der Modellierung bietet, herumgesprochen: „Zuerst musste ich an viele Türen klopfen, inzwischen bekomme ich so viele Anfragen nach Kooperationen, dass ich sorgfältig auswählen muss.“ Denn das Paradox, unter dem alle leiden, die mit großen Datenbeständen arbeiten, gilt auch hier: Daten gibt es reichlich, aber oft haben sie falsche oder inkompatible Formate, sind unvollständig oder es fehlen Angaben, die die Modelliererinnen und Modellierer benötigen. „Ideal wäre, wir würden schon in die Planung der Studien einbezogen, damit die Daten gleich so erhoben werden, dass wir damit etwas anfangen können“, meint die Forscherin. Ihre Arbeit will sie trotz der Probleme auf jeden Fall in Mexiko fortführen. „Das ist so etwas wie eine soziale Verpflichtung. Auslandsaufenthalte stärken zwischendurch meine Motivation.“
Domínguez-Hüttinger schätzt die enge Zusammenarbeit mit den experimentell arbeitenden Kolleginnen und Kollegen: „Wenn ich die Daten selbst gewinnen müsste, könnte ich nur zu einem einzigen System arbeiten, so aber kann ich unterschiedliche Systeme kennenlernen und vergleichen.“ Und auch bei der Auswertung sei die Kooperation zentral: „Einmal war ich ein bisschen verzweifelt, weil mein Modell einen Teil der Daten einfach nicht nachbilden konnte. Die Kollegin hat dann nur einen Blick darauf geworfen und gesagt: ‚Ach, diese Datenpunkte kannst du vergessen, da waren die Zellen nicht mehr fit.‘ So etwas muss man eben wissen.“
Forschung, wie Elisa Domínguez-Hüttinger sie betreibt, ist nur interdisziplinär möglich. „Im Prinzip ist unsere Universität so organisiert, dass man nur über den Flur gehen muss, um mit den Kolleginnen und Kollegen aus anderen Bereichen zu sprechen, aber in der Praxis tut man das dann oft doch nicht“, konstatiert sie. Auch da helfe der Aufenthalt am Wissenschaftskolleg sehr: „Ich möchte den Austausch zwischen den Disziplinen befördern und hier übe ich, wie man mit Forschenden aus ganz anderen Bereichen so über die eigene Arbeit sprechen kann, dass alle es verstehen.“
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Fotos: © Maurice Weiss