Ausgabe 17 / Juni 2022
Vom „Futterzauberer“ zum Zauberlehrling
Carl Gierstorfer
Die Soziologin Hannah Landecker arbeitet die Geschichte unserer belasteten Lebensmittel auf
Carl Gierstorfer: Sie erzählen gerne eine Anekdote, die viel darüber aussagt, worum es in Ihrer Arbeit als Historikerin, Wissenschaftlerin und Soziologin geht. Sie dreht sich um Seemöwen und Junkfood.
Hannah Landecker: Ja, es handelt sich um einen Artikel, der 2019 in der Los Angeles Times erschien. Darin ging es um Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Westmöwen vor der kalifornischen Küste untersuchten. Ihre Nistplätze befinden sich auf den Kanalinseln und deshalb sind die Inseln dick mit Guano, also Vogelkot, bedeckt. Guano ist eine sehr wichtige Quelle für Dünger, der in der Landwirtschaft verwendet wird, ist aber auch für den ökologischen Kreislauf wichtig, da er eine wichtige Rolle in der Stickstoffzirkulation zwischen Land und Meer spielt. Die Wissenschaftlerinnen markierten diese Möwen, um herauszufinden, wohin sie tagsüber flogen, und stellten fest, dass es sie ins Landesinnere nach Südkalifornien zog. Sie fraßen aus den Müllcontainern hinter Fast-Food-Restaurants.
CG: Sie ernährten sich vom Müll des Junkfoods.
HL: Genau. Die Möwen kamen also zurück und würgten zum Beispiel Ketchup-Päckchen oder Corn-Dog-Spieße aus, während eine Möwe, die Tintenfisch oder Fisch gefressen hatte, unverdauliche Teile wie einen Tintenfischschnabel hochwürgte. Was reingeht, muss auch wieder raus. Das führte die Wissenschaftler zu der Frage, ob dieser Verzehr von Fast Food die bestehende chemische Zusammensetzung der Kanalinseln verändern könnte.
CG: Sie interessierten sich aber auch noch für einen anderen Aspekt.
HL: Für mich ist diese Geschichte auf vielen verschiedenen Ebenen von Bedeutung. Eine ist schlicht, dass die Industrialisierung des Lebensmittelsystems und die massive Ausweitung der Lebensmittelverarbeitung zur Herstellung von Fast Food etwas sind, das wir für gewöhnlich nur in Bezug darauf betrachten, was Menschen essen. Wenn wir aber darauf schauen, wie das um die Welt zirkuliert und vielleicht sogar die geologische Oberfläche von Inseln verändert – das gibt uns eine viel klarere Vorstellung davon, wie sich diese Veränderungen systemisch auf alle Körper auswirken, nicht nur auf menschliche Körper.
CG: Daher ist unsere Vorstellung von Natur im Gegensatz zu einer von Menschen geschaffenen Welt mit ihrem ganzen Abfall eine grobe Vereinfachung. In Wirklichkeit hängt alles miteinander zusammen.
HL: Das ist der zweite Punkt, der mich wirklich interessiert: Die Überlegungen zum Abbau von Guano im globalen Süden und dessen Verbringung in den globalen Norden waren ein sehr klassischer Teil des politischen Denkens. Sie waren zentral für Karl Marx’ Idee von der Entnahme von Gütern aus einem Teil der Welt und deren Transport in einen anderen Teil der Welt, wodurch eine Art Riss in den natürlichen Zyklen von Nutzung und Rückgabe entstand. Aber ich bin mir nicht sicher, ob unsere Theorien noch funktionieren und uns ermöglichen, das ziemlich perverse Bild einer Rückgabe der industrialisierten Landwirtschaft an die Inseln – in Form von Guano – angemessen zu durchdenken. Ein böser Bumerang, sozusagen. Das ist mehr als ein Riss – das ist ein völlig gestörter Kreislauf! Angesichts dieser Kreisläufe fragt man sich: Was haben sich Naturwissenschaften und politische Theorie heute dazu zu sagen?
CG: Diese Störung der natürlichen Zyklen von Nutzung und Rückgabe steht im Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Sie untersuchen die Industrialisierung des Stoffwechsels und widmen sich der Frage, wie ganze Industrien daraus entstanden sind, dass sich unser Verständnis von der Nutzung organischer Verbindungen durch Organismen immer weiter zunimmt.
HL: Wir verwenden „Stoffwechsel“ oder „Metabolismus“ als Wort und Begriff, um biochemische Umwandlungen von Materie und Energie zu beschreiben. Aber ich sage immer gerne: Vor 1839 gab es keinen Stoffwechsel. Um das Verständnis von den Beziehungen zwischen Pflanzen und Tieren zu systematisieren, schrieb damals Theodor Schwann, ein deutscher Anatom des 19. Jahrhunderts, ein Buch über Zelltheorie – die Vorstellung, dass Organismen ausschließlich aus Zellen bestehen. Weniger beachtet wurde jedoch, dass der systematisierende Charakter der Zelltheorie mit der These einherging, die Zelle sei der Sitz der metabolischen Kraft. Er prägte das Wort „metabolisch“ aus dem Griechischen metabolē, „umwandeln“, um die Fähigkeit der Zelle zu beschreiben, Stoffe auf chemischem Weg von einer Form in eine andere umzuwandeln. Der Mensch hat sich diese metabolische Fähigkeit zunehmend zu eigen gemacht und nutzt biochemische Umwandlungsprozesse für die Massenproduktion nicht nur von Nährstoffen, sondern auch von Medikamenten und Chemikalien aller Art.
CG: Mit dieser Industrialisierung des Stoffwechsels begann eine Revolution in der Futtermittelindustrie, die in vielen Formen bis in die Gegenwart nachwirkt.
HL: Auf dem Gebiet des bakteriellen Stoffwechsels nahm man sich in den 1910er- und 1920er-Jahren Teile von Stoffwechselprozessen vor, baute sie neu auf und setzte sie auf unterschiedliche Weise wieder zusammen. Industrialisierung bedeutet: Etwas, das man in kleinem Maßstab oder gelegentlich herstellt, wird nun in die industrielle Massenproduktion gebracht. Und das meine ich ganz wörtlich – Enzyme, Aminosäuren und ähnliche Stoffwechselkomponenten werden zu etwas, das in Massen produziert werden kann. Und dann kann man Stoffe, die von Bakterien produziert werden, zum Beispiel an Rinder verfüttern. Natürlich sind Bakterien und Rinder schon seit Jahrtausenden miteinander verbunden. Aber nicht auf diese Weise.
CG: Einfach ausgedrückt: Man hatte begriffen, dass es so etwas wie Abfall nicht gibt. Fruchtfleisch, Maische, Häute und Knochen aus Schlachthöfen – all das hatte einen metabolischen Wert, denn diese Abfallprodukte enthielten immer noch Bestandteile, die verwertet werden konnten.
HL: Die Geschichte der Remobilisierung von Abfällen zur Herstellung von Tierfutter gehört zu denen, die ich im Rahmen der Industrialisierung des Stoffwechsels untersuche. Wenn man Getreide an Hühner verfüttert, fällt eine Menge Hühnerabfall an. Damit meine ich nicht nur den Hühnerkot, sondern auch die Federn und Schlachtabfälle. Oder man fischt auf See und entwickelt die tolle Technik, den Fisch in Dosen zu verpacken, damit man ihn überall im Land verteilen kann. Aber dann bleiben riesige Mengen an Fischköpfen und -schwänzen und dergleichen übrig. Natürlich gibt es eine Reihe natürlicher Zyklen, in denen diese Dinge zersetzt werden. Doch diese Berge an Abfall waren um die Wende zum 20. Jahrhundert für Agrarwissenschaftler, aber auch für die Leiter landwirtschaftlicher Betriebe und Leute in den wachsenden Industrieunternehmen Anlass zur Sorge, vor allem wegen des Gestanks. Sie störten die Menschen in den Städten und verschmutzten die Flüsse. Die Notwendigkeit, mit dem Abfall etwas anzufangen, überschnitt sich mit der wachsenden Befürchtung in den USA, dass das Land nicht in der Lage sein könne, genug Fleisch zur Ernährung seiner Bevölkerung zu produzieren oder genügend Nahrung herzustellen, denn das Eiweiß war knapp. Die Ernährungswissenschaft und die praktischen Probleme der Abfallbeseitigung liefen hier ineinander. Und die Idee bestand darin, diese Stoffe dem normalen Zersetzungsprozess zu entziehen und auf einem neuen Weg in einen anderen Organismus umzuleiten.
CG: Wie hat man das gemacht?
HL: Naja, man musste es den Leuten schmackhaft machen. Trocknungstechniken waren beispielsweise sehr wichtig. Und auch eine Werbeinfrastruktur, mit der man die Landwirte davon überzeugen konnte, dass es für sie besser und billiger war, ihre Tiere mit Futtermitteln zu füttern, die sie in einem Sack kaufen konnten, statt mit dem, was sie auf ihren eigenen Höfen zur Verfügung hatten. In der Propagierung einer „wissenschaftlichen Tierfütterung“ spielten die landwirtschaftlichen Forschungsstationen, die in den USA im späten 19. Jahrhundert nach deutschem Vorbild eingerichtet wurden, eine große Rolle. Es handelt sich also um eine Mischung aus Technologie, Wissenschaft und eine Art Anweisung, in Bezug auf Proteingehalt oder andere Nährstoffe zu denken.
CG: Konzepte, die es im 19. Jahrhundert noch nicht gab, wurden im 20. Jahrhundert zur vorherrschenden Art der Tierfütterung.
HL: Diese Ideen entstanden aus der Vorstellung, dass es möglich sein sollte, lebende Materie chemisch zu zerlegen. Wenn man einem Tier eine bestimmte Nahrung gibt, wie verwandelt sie sich dann in das Tier, seine Arbeitsleistung und seine Ausscheidungen? In solchen Forschungsarbeiten wurden zum Beispiel die bei der Baumwollverarbeitung anfallenden Samen untersucht und man wollte wissen, wie viel Eiweiß sie enthalten und ob sie als Tierfutter geeignet sind. Etwas später erkannten Wissenschaftler, dass sich alle pflanzlichen Proteine in ihren Aminosäurebestandteilen etwas unterscheiden, beispielsweise Mais und Weizen unterscheiden sich deutlich. Wir haben ein ganzes Universum pflanzlicher Proteine – wie werden sie in tierische Proteine umgewandelt? Wie macht man das am effizientesten? Dieser spezifisch chemische Blick ist entscheidend.
CG: Und dieser chemische Blick, mit dem Wissenschaftler die lebendige Welt zerlegten, wurde wirtschaftlich wichtig?
HL: Ja. 1929 gab es in den USA mindestens 750 Fertigfutterhersteller mit einem Umsatzvolumen von 400 Millionen Dollar. In der Wirtschaftsgeschichte hat man dies mit dem damaligen Umsatz von Landmaschinen verglichen, in jenem Jahr etwa 278 Millionen Dollar. Auch wenn man bei der Industrialisierung der Landwirtschaft vielleicht an Traktoren denkt: Die Industrialisierung der Futtermittelströme war offensichtlich genauso wichtig oder sogar noch wichtiger. Man kann das auch in den historischen Quellen sehen – im Farmers’ Almanac befassten sich sehr viele Artikel mit Fragen wie: Soll man lieber diesen oder jenen Eiweiß- und Fettanteil für die Fütterung wählen, für welches Alter und für welche Tiere? Auch die gesamte Werbung ist auf die Landwirte ausgerichtet – meine Lieblingswerbung aus dieser Zeit ist für Quaker’s „Ful-O-Pep“, ein wachstumsförderndes Hühnerkükenfutter, in der es heißt: „Das frühe Huhn bekommt den Profit“.
CG: Ist das nicht eine sehr amerikanische, eine sehr profitorientierte Logik, in der das Tier als Lebewesen nur zu einer weiteren Variablen wird?
HL: Sicher, aber für mich ist dies der Ausgangpunkt der Frage, ob es einen speziell amerikanischen Metabolismus gibt, nicht die Antwort auf die Frage. Was hat diese Logik bewirkt, welche Welt hat sie geschaffen? Einer der Aspekte, die für mich in dieser Periode wirklich hervorstechen, ist, dass in dieser Zeit ein neues Kreislaufsystem für Materie entsteht. Ich sehe die Landschaft der USA, durchzogen von neuen Kanälen für den Fluss von Nährstoffen von einem Ort zum anderen, geprägt durch den Bau von Knotenpunkten der Futtermittelindustrie, die diese Futtersäcke ausstoßen, die Milliarden von Tieren erreichen. Das ist ein Kreislaufsystem, in das die Futtermittelhersteller jedes Mal, wenn es neue Erkenntnisse gab, einen Zusatzstoff oder eine Chemikalie einfach hineinkippen konnten, oft einfach oben drauf zu all den anderen. Man findet mit Vitamin D versetztes Fertigfutter für Hühner, damit sie das ganze Jahr über im Stall wachsen können und kein Sonnenlicht brauchen. Wenig später kommen die Wachstumsförderer hinzu. Es dauert nur drei bis vier Jahre von der Erforschung beispielsweise von Medikamenten auf Arsenbasis, deren wachstumsfördernde Wirkung man im Labor entdeckt hatte, bis zur Verfütterung dieser Medikamente an 80 % der Hühner in den USA. Dasselbe gilt für Antibiotika – es dauert nur ein paar Jahre von der ersten Entdeckung ihrer wachstumsfördernden Wirkung bis zur Verfütterung an die meisten Nutztiere im ganzen Land. Wie kann das so schnell gehen? Das liegt daran, dass der Futtermittelfluss und die Grundlagen „wissenschaftlicher Tierfütterung“ bereits in großem Maßstab etabliert waren.
CG: Gab es moralische Bedenken gegen diese Art der Nutzung von Tieren?
HL: Ich habe nach kritischen Äußerungen dieser Zeit gesucht, denn sicherlich waren nicht alle damit einverstanden. Aber die Wachstumsfrage ist so beherrschend und allgegenwärtig, dass ich wirklich glaube, die historischen Akteure betrachteten dies nicht als grausam und kalt. Es war die Magie des Wachstums – und die Vorstellung, dass man Krankheiten vollständig verhindern könne; die utopische Vorstellung von einem Land des Überflusses, einem Land des Überschusses, das nicht von Krankheiten heimgesucht wird. Sobald man jedoch anfängt, Vitamin-D-Präparate einzusetzen, um Hühner das ganze Jahr über im Stall zu halten, schafft man natürlich die Voraussetzungen für den Ausbruch neuer Krankheiten, sodass dem Futter noch mehr Medikamente und Ergänzungsmittel beigemischt werden müssen. Zwar gab es ein gewisses Bewusstsein dafür, dass dieses System seine eigenen Probleme schafft, es herrschte aber im Allgemeinen die optimistische Auffassung, dass man Lösungen für diese Probleme finden könne.
CG: Also hat der chemische Blick auch dafür eine Lösung gefunden. Das Prinzip der „selektiven Toxizität“ geht von der Möglichkeit aus, Parasiten abzutöten, ohne den Wirtsorganismus zu schädigen. So fanden hochgiftige Abfallprodukte ihren Weg ins Tierfutter, um weiteres Wachstum zu fördern.
HL: Zu dieser Zeit kamen arsenhaltige Medikamente als Wachstumsförderer auf. Arsen ist ein Übergangselement. Das bedeutet, dass es sich entweder an Kohlenstoff oder an Metalle binden kann. Arsen ist das zwanzighäufigste Element in der Erdkruste. Wenn man zum Beispiel Kupfer abbaut, fördert man oft auch das an das Kupfer gebundene Arsen zutage. Arsen war also ein Abfallprodukt der Bergbauindustrie, insbesondere zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nehmen wir nochmal die USA als Beispiel. Nachdem die Eisenbahnen den amerikanischen Westen erschlossen und die Minen mit den Hüttenwerken verbunden hatten, wurde bei der Kupferverhüttung eine Menge Arsentrioxid in die Luft abgegeben, das Pflanzen und Tiere tötete. Die Hütten entwickelten daher Techniken zur Abscheidung der Substanz, bevor sie sich mit dem Rauch verbreiten konnte. So blieb eine große Menge des hochgiftigen Arsentrioxids zurück. Aber was sollte man um Himmels Willen damit machen? Zunächst wurde es als Bestandteil von Pestiziden verwendet, bevor DDT aufkam. In die Geschichte der Tierfütterung treten arsenhaltige Stoffe dann in den 1940er-Jahren ein. Die Suche nach einem Antiparasitikum für Hühner in Stallhaltung führte die Forscherinnen und Forscher zurück zum Arsen. Experimente mit organischen Arsenpräparaten zeigten, dass Arsen nicht nur zur Bekämpfung von Darmparasiten taugte. Es hatte auch die unerwartete und wünschenswerte Wirkung, dass es das Wachstum förderte – schnelleres Wachstum bei weniger Futter. Es veränderte also tatsächlich die Effizienz der Futtermittel. Und das war wie das Allheilmittel in der Geflügelzucht. In Zeitungsberichten dieser Zeit wurden die Forscher, die diese Dinge entwickelten, als „Futterzauberer“ bezeichnet.
CG: Auch hier gibt es einen größeren historischen Kontext. Die USA waren in den Zweiten Weltkrieg eingetreten und die Lebensmittelknappheit gab zu Anlass ernsthafter Sorge.
HL: Ja. Und tatsächlich wurde dies wieder als Fortschritt wahrgenommen. Man muss dies im Kontext des Zweiten Weltkriegs und des Mangels in der Nachkriegszeit betrachten. Wachstumsförderer konnten die Gleichung verändern: mehr Produkt bei weniger Einsatz. Außerdem konnte man diese Arsenpräparate ohne Tierarzt anwenden. Ein Huhn vom Tierarzt behandeln zu lassen ist viel zu teuer, denn ein einzelnes Huhn ist nicht viel wert. Dem Trinkwasser wurden Arsenpräparate in geringen Mengen beigegeben, um die gesamte Herde zu behandeln. Die Aufsichtsbehörden äußerten Bedenken wegen der Arsenpräparate im Wasser oder im Futter, aber diese wurden mit der Behauptung abgetan, dass organische Arsenpräparate relativ ungiftig seien – im Vergleich zu anorganischem, giftigem Arsen. Und man dachte, dadurch dass Arsen in so geringen Mengen verwendet wird, läge es weit unter dem für Menschen gefährlichen Schwellenwert.
CG: Hatten sie recht? Heute wissen wir, dass Arsen natürlichen Ursprungs im Trinkwasser ein Krebsrisiko darstellt, beispielsweise für Menschen in Bangladesch. Warum sollte es folgenlos bleiben, wenn man große Mengen davon in die Nahrungskette einbringt?
HL: Selbst Spuren von Arsen summieren sich zu einer enormen Menge, wenn man es über einen langen Zeitraum in dem Umfang verwendet, in dem es in der modernen Futtermittelindustrie eingesetzt wurde – aus heutiger Sicht erscheinen diese Annahmen über die Harmlosigkeit von Arsen völlig verrückt. Unsere Haltung zu Arsen hat sich vollkommen verändert, nicht zuletzt aufgrund der Ereignisse in Bangladesch. Studien im öffentlichen Gesundheitssektor haben sehr deutlich gemacht, dass eine hohe Arsenexposition fürchterliche Folgen hat und dass eine niedrige Arsenexposition ebenfalls schädlich ist, die Erste verursacht Krebs und die Zweite Stoffwechselstörungen wie Diabetes. Gleichzeitig kontrollieren die Behörden der meisten Länder das Trinkwasser auf Arsen. Die historische Entwicklung, von der ich Ihnen gerade erzählt habe, zeigt jedoch, dass Arsen in Lebensmitteln wirklich stärker als bisher überwacht werden sollte, denn Arsen gelangt aus diesen landwirtschaftlichen Quellen in den Boden und wird anschließend von Reispflanzen und Obstkulturen aufgenommen.
CG: Abgesehen von der Notwendigkeit, noch wachsamer gegenüber unseren Systemen der Lebensmittelproduktion zu sein – was können wir Ihrer Meinung nach aus dieser historischen Entwicklung lernen?
HL: Ich möchte es so formulieren: Das Verständnis der Geschichte der Biologie gibt uns immer auch die Möglichkeit, die Biologie der Geschichte zu verstehen – wie die Sozialgeschichte des Menschen zur biologischen Bedingung für das Leben heute geworden ist. Im Verlauf dieses Prozesses sehen wir interessante Veränderungen in Bezug auf die Frage, welche Funktion die Wissenschaft in der Gesellschaft hat. Im 19. Jahrhundert fragten die Wissenschaftler, wie das Leben funktioniert: Stoffwechsel – was ist das? Wie wird aus toter Materie lebendiges Fleisch? Im 20. Jahrhundert versteht man unter Stoffwechsel dann die Operationalisierung von Wachstumsmechanismen. Die Ausdehnung einiger Teile der lebendigen Welt wird forciert, während andere Teile unterdrückt werden: Unterdrücke die Parasiten, fördere das Tierwachstum. Im 21. Jahrhundert haben wir das Kreislaufsystem geerbt, das ich beschrieben habe, was bedeutet, dass die Substanzen, die im 20. Jahrhundert zum Einsatz kamen, sich überall in der Umwelt verbreitet haben. Der Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung wird folglich die Auswirkung dieser industriellen Hinterlassenschaften auf die Biologie, etwa die Frage, wie sich eine langfristige Arsenexposition in niedriger Dosis auf die Bauchspeicheldrüse auswirkt. In diesen Untersuchungen geht es nicht darum, das Leben an sich zu verstehen, sondern vielmehr darum, das Leben nach oder in der Industrialisierung zu begreifen. Geht es in den Naturwissenschaften dann noch um die Natur? Geht es um die grundlegenden Gesetze der Biologie? Oder steht im Zentrum des Nachdenkens eine neue Frage: Was ist biologisches Leben – menschliche Gesundheit – in dieser anthropogenen Landschaft? Ich interessiere mich außerordentlich für die historischen Verschiebungen, durch die die gestrigen Formen wissenschaftlichen und technischen Wissens jene Gegenstände prägen, die dann zum Zentrum der Wissenschaft werden, die wir heute betreiben.
CG: Betrachten Sie sich selbst als Wissenschaftshistorikerin oder eher als Wissenschaftsphilosophin?
HL: Ich sehe mich selbst ein wenig als Historikerin. Ein bisschen als Anthropologin und Soziologin. Außerdem ein bisschen als Philosophin. Und ein bisschen als Biologin. Vielleicht liegt das daran, dass ich die Biologie als eine schöne erzählerische, literarische und künstlerische Form betrachte, sich auf die Welt einzulassen. Und umgekehrt empfinde ich die Beschreibung menschlichen Lebens und Handelns in der Literatur und den Sozialwissenschaften ohne die Möglichkeit, sie auch biologisch zu verstehen und zu erzählen, als völlig unzureichend.
CG: Auch die Biologie ist eine historische Wissenschaft, weil biologische Phänomene nur im Licht ihrer Evolutionsgeschichte einen Sinn ergeben.
HL: Ja, das stimmt. Sozialgeschichte kann auch als Evolutionsgeschichte gedacht werden, wenn man sich ansieht, auf welche Weise menschliches Handeln einen Selektionsdruck erzeugt, der die Evolution vorantreibt. Die Massenproduktion von Antibiotika, teilweise ihrem Einsatz in der Landwirtschaft geschuldet, ist ein gutes Beispiel für die sozialen Triebkräfte der Evolution von Antibiotikaresistenzen. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Ernährungswissenschaft und ihre materiellen Auswirkungen im globalen Maßstab systemisch zu begreifen, da sie den Materiefluss durch die Organismen hindurch auf verschiedene Weise verändert. Die Erzählung dieser Geschichte soll uns ermöglichen, Fragen danach zu stellen, was wir angerichtet haben – um es ganz schonungslos zu formulieren. Diese anthropogene Biologie, die wir geschaffen haben, was haben wir da vor uns? Man kann Antibiotika anhand ihrer chemischen Eigenheiten verstehen. Man kann sie wirtschaftlich oder medizinisch betrachten. Aber es ist ziemlich wichtig, Antibiotika im Kontext der Sozialgeschichte des Kriegs und der Wirtschaftsformen zu betrachten, die die Mikrobiologie vorantreiben – so wie es heute der Fall ist und wie es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war, als Antibiotika für den zivilen Gebrauch verfügbar gemacht wurden. Zum Beispiel Pfizer. Hätten Pfizer und andere pharmazeutische Unternehmen im Zweiten Weltkrieg vom amerikanischen War Resources Board nicht den Auftrag zum Bau von Fabriken bekommen, damit genug Organismen zur Herstellung von genügend Penicillin zur medizinischen Behandlung der Armee gezüchtet werden konnten, gäbe es Pfizer in seiner heutigen Form nicht. Und ohne diese Form wäre die Evolutionsgeschichte der heutigen Mikroben anders verlaufen.
CG: Sie haben zur Geschichte von Pfizer geforscht, die zusammen mit BioNTech die Massenproduktion eines neuen mRNA-Impfstoffs gegen SARS-CoV-2 auf die Beine stellten. Pfizer investierte zwei Milliarden Dollar aus eigenen Mitteln in dieses Vorhaben. Ein großes Wagnis, das sich auszahlte, denn Pfizer hatte das Know-how, um in weniger als zwei Jahren 2,5 Milliarden Impfdosen herzustellen.
HL: Nun, Pfizer fing im 19. Jahrhundert als ein eher kleines Unternehmen an, das hauptsächlich Pflanzenextrakte herstellte. Eines davon war Vitamin C aus Zitronen – Ascorbinsäure. Während des Ersten Weltkriegs war es aufgrund von Blockaden sehr schwierig, Zitronen zu bekommen. Dies war die Zeit, in der man – teilweise aus der Not geboren – begriff, dass Mikroben selber unglaubliche Chemiker sind und dass man sie zum Beispiel mit Zucker oder Maisquellwasser ernähren kann. Und sie stellen als Teil ihrer normalen Stoffwechselaktivität Moleküle wie beispielsweise Zitronensäure her. Pfizer fing also an, Aspergillus zu züchten, eine Art Schimmelpilz, und erntete daraus Zitronensäure. Entscheidend ist an dieser Geschichte, dass Pfizer so zum Experten in der Kunst der Fermentation wurde.
CG: … bei der Mikroorganismen in Bioreaktoren zur Produktion biologisch aktiver Verbindungen angeregt werden.
HL: Ja. Sie verwendeten Tanks mit einem großen Fassungsvermögen. Man gibt ein Nährmedium hinein, sterilisiert es, damit es frei von Verunreinigungen ist. Dann gibt man den Organismus, den man züchten will, in das Medium – etwa Aspergillus. Man lässt ihn fressen, wachsen, sich vermehren und erntet dann das Molekül, das man haben will. Durch die Entwicklung dieser Techniken konnte man Technologien in industriellem Maßstab ausbauen, um von Mikroben produzierte Moleküle zu ernten. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach und man auf die frühere Entdeckung des Penicillins durch Fleming zurückgriff, bestand das Hauptproblem darin, dass man den Organismus, der Penicillin produziert, nicht in großem Maßstab züchten konnte. Dazu forschten Howard Florey und Ernst Chain in England. Um den Schimmelpilz auf der Oberfläche eines Nährmediums zu züchten, verwendeten sie die größten Gefäße, die sie finden konnten, und das waren witzigerweise Bettpfannen. Offenkundig war das keine tolle Lösung für die Herstellung großer Mengen. Daher war die amerikanische Regierung bereit, die industrielle Produktion von Penicillin zu fördern, und das War Resources Board mobilisierte eine Reihe von Unternehmen, darunter Pfizer, und versorgte sie mit Kapital zum Ausbau der Produktionsanlagen, denn man brauchte ihr Know-how in Bezug auf Fermentation, um die Anlagen zu betreiben. Das war eine riesige Investition von Bundesmitteln in die Infrastruktur, um Penicillin in großem Maßstab zu produzieren.
CG: Eine Art Public-private-Partnership.
HL: Es ist ja keineswegs so, dass Pfizer damals nichts hatte. Sie hatten ihre eigenen Anlagen, ihr eigenes Fachwissen und ihre eigene Belegschaft aufgebaut und hatten Fermentation als industrietaugliche Quelle für wertvolle Chemikalien begriffen. Dennoch wurde Pfizer erst dann zu dem Unternehmen, das wir heute kennen, als es im Kontext des Krieges zum Ausbau der industriellen Kapazitäten kam. Und selbst bei der Geschichte der Covid-Impfstoffe sollte man die Rolle der Regierungen natürlich nicht unterschätzen, denn sie übernahmen Garantien für den Ankauf der Impfstoffe, noch bevor sicher war, dass sie wirken würden. Ich habe keinen Zweifel daran, dass die plötzliche Beschleunigung der mRNA-Impfstofftechnologie, die wir gerade erlebt haben, ein Faktor in der mikrobiellen Evolution der Zukunft sein wird – so wie Antibiotika und Desinfektionsmittel zu den selektiven Agenzien wurden, die die bakterielle Evolution im 20. Jahrhundert bestimmten.
CG: Reizt es Sie, die Grenzen verschiedener Disziplinen zu überschreiten und auf diese Weise neue Erkenntnisse zu gewinnen, neue Zusammenhänge, neue Narrative?
HL: Absolut! Ich finde die Möglichkeit, eine neue Geschichte zu konstruieren, wirklich aufregend. Es macht mir Freude, Fragen zu stellen, an die bisher niemand gedacht hat. Wenn man einen blinden Fleck aufdeckt oder auf eine Frage stößt, die noch nicht gestellt wurde, kann man die Verschiebung im Denken vieler Menschen oder in ihrer Fähigkeit, bestimmte Dinge wahrzunehmen, buchstäblich fühlen; es ist so, als würde ein Hebel umgelegt und als öffnete sich eine andere Konfiguration oder ein Raum zur Betrachtung der Welt. Wir leben in einer Zeit, in der es bereits eine Milliarde Bücher gibt, es gibt mehr Geschichten, Narrative und Daten, als man verarbeiten kann. Und dann trotzdem etwas völlig neu zu formulieren – das ist eine wahre Freude.
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Fotos: © Maurice Weiss