Ausgabe 18 / Mai 2023
Fahrradfahren reicht nicht
von Gerald Wagner
Der Wirtschaftswissenschaftler Antonin Pottier plädiert für einen aktiveren Beitrag seines Fachs zum Systemwechsel
Die Franzosen gehen auf die Straße, weil sie sich nicht von ihrem alten Recht auf einen frühen Renteneintritt lösen wollen. Und die Deutschen kleben sich auf die Straße, weil sie sich als die letzte Generation fühlen, die die Welt noch retten könnte. Warum kämpft man jenseits des Rheins für die soziale Gerechtigkeit in der Gesellschaft und hier drüben gegen den Klimawandel? Bei solchen Fragen muss Antonin Pottier schmunzeln. Als Franzose, der schon etliche Jahre in Berlin lebt, muss er auf die Klischees verweisen, die hinter solchen Wahrnehmungen liegen. In seiner Heimat seien die jungen Menschen von „Fridays for Future“ ebenfalls sehr engagiert und die Klimaaktivisten von „Dernière Rénovation“ unterbrächen regelmäßig öffentliche Veranstaltungen. Innenminister Gérald Darmanin habe erst kürzlich junge Demonstrierende als „Ökoterroristen“ beschimpft. Aber, bemerkt Pottier mit einem Zwinkern, einen Monet mit Kartoffelbrei zu bewerfen, um damit gegen den Klimawandel zu demonstrieren, das gebe es in Frankreich bisher nicht.
Doch trotz solcher Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich: Der Kampf gegen den Klimawandel ist überall die heiß umkämpfte soziale Frage des 21. Jahrhunderts geworden. Neue Ungleichheiten stoßen auf alte Ungleichheiten, überlagern sich und verstärken sich noch. Wer kann sich die Rettung des Planeten persönlich leisten? Wie ließen sich die immensen Kosten des Umbaus der Wirtschaft hin zur Klimaneutralität gerecht verteilen? Durch höhere Preise auf alles, was dem Klima schadet? Also für Autos mit Verbrennungsmotoren, Ölheizungen und Flugreisen? Soll die Lösung mehr Zwang lauten oder mehr Wahlmöglichkeiten und individuelle Verantwortung des Einzelnen?
Das sind Fragen an die Wirtschaftswissenschaften. Aber als ein renommierter Vertreter dieser Disziplin muss sich Antonin Pottier auch die Frage stellen lassen, ob er für sein persönliches Forschungsinteresse eigentlich noch im richtigen Fach arbeitet. Pottier lacht. Das sei eine interessante Frage. Mit einer Antwort zögert er zunächst. Schließlich lautet der Titel seines 2016 erschienenen Buchs Comment les économistes réchauffent la planète (Wie die Ökonomen die Erwärmung des Planeten vorantreiben). Und in seiner fulminanten Kritik der „Naturvergessenheit“ der eigenen Disziplin während eines Vortrags am Wissenschaftskolleg hat er keinen Zweifel daran gelassen, dass sein Fach beim Kampf gegen den Klimawandel eher Teil des Problems ist und zumindest in den vergangenen dreißig Jahren wenig zu dessen Lösung beigetragen hat. Klar sei für ihn, dass jeder Versuch einer Lösung die entscheidende Frage nach der sozialen Gerechtigkeit der Kostenverteilung des Klimawandels stellen müsste. Er stünde immer noch mit einem Bein in seiner Wissenschaft, die den Planeten aufgeheizt habe. Aber wohin er auch immer das andere stellen wird: Als Wissenschaftler sei er überzeugt davon, dass es sich zu forschen lohnt, dass die Gesellschaftswissenschaften doch noch zu neuen Antworten kommen könnten. Schließlich seien unsere Gesellschaften immer noch im Wandel begriffen, also könnte man nicht sagen, es sei doch alles bekannt, es fehle einfach nur am Willen, den Klimawandel wirklich zu bekämpfen.
Pottier lässt sich das Etikett Optimist gefallen, aber er sei eben kein unverbesserlicher oder grundloser Optimist, denn er glaube an die Transformierbarkeit unserer Gesellschaft und ihrer Wirtschaftsform, auch wenn die Befunde der Sozial- und Klimaforschung wenig hoffnungsvoll scheinen. Es sei ziemlich klar, dass das 1,5-Grad-Ziel nicht gehalten werde, aber das sei natürlich kein Grund, in den Bemühungen nachzulassen, denn jedes Zehntel Grad an zusätzlicher Erderwärmung werde spürbare Verschlechterungen in allen Erdteilen nach sich ziehen. Sein Konzept, an dem er während seiner Fellowship am Wissenschaftskolleg arbeitet, lautet „Power to Act“. Ist das, um vielleicht noch ein Klischee zu riskieren, sehr französisch gedacht? Die Macht zu handeln – ist sie immer da und braucht bloß ergriffen zu werden?
Pottier weiß natürlich, dass die Grunderfahrung der allermeisten Menschen eher die Machtlosigkeit ist, mit der sie dem Klimawandel gegenüberstehen, ihn erleben und zunehmend auch erleiden. Er plädiert dafür, aktiv auf eine Transformation unserer Gesellschaften in Richtung einer „post-carbon“-Zukunft hin zu arbeiten und hält den Erhalt bzw. sogar die Vergrößerung der sozialen Gerechtigkeit auf diesem Weg für möglich. Vergegenwärtigt man sich den apokalyptischen Grundton, der die Debatte um den Klimawandel längst prägt, mag dies zunächst überraschen. Denn auch die Ergebnisse der Gesellschaftsforschung scheinen dagegen zu sprechen. Alle Erfahrungen aus den Bemühungen der internationalen Politik, auf vertraglichem Weg zu einer globalen CO2-Reduzierung zu kommen, ebenso. Wozu sollen wir unsere Volkswirtschaft unter gigantischen Kosten zur Klimaneutralität umbauen, wenn gleichzeitig etwa China massiv auf die Verbrennung von Kohle zur Energiegewinnung setzt? Deutschlands Anteil am weltweiten CO2-Ausstoß beträgt derzeit knapp zwei Prozent, der von Frankreich ein Prozent – man ist versucht einzuwenden: lohnt das den ganzen Aufwand?
Pottier weiß, dass solche Fragen die politische Debatte um den Klimawandel prägen. Er weiß auch, dass sein Konzept des „Power to Act“ schnell mit Etiketten wie „individualistisch“ oder „voluntaristisch“ abgetan werden kann. Er lässt sich in seiner Forschung jedoch nicht irritieren. Nicht zum Beispiel durch die rund 260 Kohlekraftwerke, die China derzeit plant oder schon baut, die Migrationsströme als Reaktion auf die Unbewohnbarkeit der Küstenregionen oder die Frage nach dem Wert der Eisbären im Verhältnis zu den Gewohnheiten der amerikanischen Konsumenten – was ist wertvoller? Oder, noch drängender, durch die Frage, ob die westlichen Demokratien über die richtigen politischen Instrumente verfügen, die gebotenen unpopulären Maßnahmen gegen den Klimawandel durchzusetzen. Haben wir die Zukunft des Planeten und der kommenden Generationen der Entscheidung geopfert, die Werte der Demokratie höher zu schätzen als jene der Ökologie? Wo alles auf eine so komplexe Weise miteinander zusammenhängt wie bei der Erwärmung der Erdatmosphäre, frustriert die komplexe Willensbildung durch bindende Mehrheitsentscheidungen. Eine immer entschlossenere Minderheit hält in ihrer Verzweiflung die Mehrheit für immer weniger maßgeblich in der Frage, was zu tun sei gegen den Klimawandel. Wir wüssten längst genug, sagen die Klimaaktivisten, wie könnt ihr es wagen, trotzdem nicht endlich zu handeln?
„Glauben Sie, ich wäre nicht auch frustriert?“, fragt er. Natürlich sei es enttäuschend, dass trotz aller Evidenz der Dramatik unserer Lage so wenig dagegen geschehe. Aber Pottier setzt trotzdem auf die Chancen der Forschung, auch wenn sich der Horizont dieser Forschung in den vergangenen fünfzehn Jahren sehr verdüstert habe. Man dürfe an der Evidenz nicht verzweifeln, sondern müsse weiterfragen: Was könnte einen Unterschied machen? Sein Forschen zielt auf den Begriff der Macht. Welche und wie viel Macht haben wir eigentlich, einen persönlichen Beitrag im Kampf gegen die Erderwärmung zu leisten? Jeder könnte mehr tun, und die Wissenschaft habe noch lange nicht genug getan, die tatsächlich vorhandenen Handlungsoptionen zu identifizieren. Pottier versteht den „Power to Act“-Ansatz als eine Perspektive, unter der die empirische Forschung die gegebenen Situationen einer Analyse unterziehen könne. Ein Teil der Menschen habe aufgrund ihrer sozialen Situation wenig Gestaltungsmacht. Hier könne eine Untersuchung die notwendigen Änderungen identifizieren, die zu mehr Handlungsmöglichkeit, also „power to act“, für diese Gruppen führen würden. Andere hingegen, die über größere finanzielle und soziale Ressourcen verfügen, seien in der Lage, Entscheidungen zu treffen bzw. zu beeinflussen, nutzten sie aber noch zu selten. In dieser Hinsicht beleuchte diese Perspektive sowohl die Rolle der Wahlmöglichkeit des oder der Einzelnen als auch die Rolle der lebensweltlichen Umstände im Hinblick auf das Verhalten der Menschen.
Er verweist auf den öffentlichen Verkehr als naheliegendes Beispiel: Es reiche eben nicht, dem Individualverkehr dessen höheren CO2-Ausstoß vorzuwerfen und diesen dann entsprechend zu besteuern. Letztlich müsse es darum gehen, den Menschen Wahlmöglichkeiten zu geben, indem überhaupt ausreichend öffentliche Alternativen zum Auto zur Verfügung gestellt würden. Selbstverständlich sei Fahrradfahren klimaverträglicher, als ein Verbrennerauto zu fahren, jedoch sei dies für viele Menschen keine praktikable Alternative. Es gelte vielmehr die Städte umzugestalten, öffentliche Verkehrsmittel bieten viel größere Gestaltungsspielräume für eine CO2-freie Mobilität. Politiker oder Vorstände von Verkehrskonzernen haben eine enorme Handlungsmacht, wenn sie durch intelligente Verkehrsweggestaltung den Fuß- oder Fahrradweg sicherer machten oder CO2-arme öffentliche Verkehrsmittel einführten. Die „Power to Act“-Perspektive fordere Forschung dazu, wie Optionen für klimaverträgliches Handeln sowohl für die Politik wie auch für den Einzelnen verstärkt werden können. Erst dann ergebe die Aufforderung, sich ökologisch verträglich zu verhalten, ja überhaupt Sinn. Erst dann könne man empirisch feststellen, ob diese Angebote ergriffen würden, und erst dann ließe sich sinnvoll darüber streiten, ob die Unterstellung einer gewissermaßen „anthropologisch“ verwurzelten Unfähigkeit der Menschheit, angesichts des Klimawandels umzusteuern, tatsächlich jeden Pessimismus rechtfertigt.
Das hieße also erst einmal mehr: mehr Verkehrsinfrastruktur, mehr Bautätigkeit, mehr Mobilität. Tatsächlich also größere Investitionen, wenn auch irgendwann unter Ausstoß geringerer Mengen an CO2. Mehr Wachstum, mehr Umverteilung, um am Ende weniger Schaden anzurichten im ökologischen Gleichgewicht des Planeten? Viele Menschen, denen die Folgen des Klimawandels nicht gleichgültig sind, sind zu Systemgegnern geworden, die dieses altbekannte Denken innerhalb des Wachstumsmodells verteufeln. Als Wirtschaftswissenschaftler, der sich nach einem Studium der Mathematik und Physik bewusst für diese Disziplin entschieden hat, sieht Pottier aber auf beiden Seiten nachvollziehbare Argumente: Ob die Grundprinzipien unserer Wirtschaftsordnung mit den Zielen der Klimapolitik vereinbar sind oder nicht, sei wissenschaftlich noch nicht ermittelt. Er ist sich jedoch sicher, dass die derzeitigen Dispute politisch zu aufgeladen seien und einer Lösungsfindung im Wege stehen.
Die Frage nach dem Systemwechsel überrascht Pottier natürlich nicht. Wer etwa mittelalterliche Handschriften erforsche oder den französischen Roman des 19. Jahrhunderts, bekomme sie nicht gestellt und müsse auch nicht überlegen, ob er mit seinem ganz persönlichen Lebensstil denn etwas beitrage zur Rettung von Handschriften. Er hatte sich damals gegen eine Promotion in Mathematik und Physik entschieden, weil er die aktuellen Probleme der Menschheit für wichtiger gehalten habe als die Rätsel der Mathematik. Es wäre uns allen zu wünschen, dass sich sein jetziges Forschungsfeld so entwickelt, dass er in seinem Forscherleben auch noch einmal die Zeit findet, auch zur Lösung mathematischer Rätsel einen Beitrag zu leisten.
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Fotos: © Maurice Weiss