Ausgabe 18 / Juli 2023
Schmetterlinge und Wahrheiten
Lorraine Daston
Lorraine Daston und Oren Harman, beide aus der Wissenschaftsgeschichte, über Metamorphose, Altruismus und zwei verschiedene Arten von Wahrheit
Lorraine Daston: Ich möchte gern mit der Frage beginnen, für wen du eigentlich schreibst, denn wie bei vielen anderen Wissenschaftshistorikerinnen und -historikern ist deine Karriere nicht geradlinig verlaufen. Du hast zunächst Biologie studiert und warst als Kind ein leidenschaftlicher Schmetterlingssammler, ein echter Naturforscher im altmodischen Sinne also. Fast hättest du Medizin studiert, hast dich dann aber dagegen entschieden und bist zu einem Doktorandenprogramm zu Rationalität nach Oxford gewechselt, wo du dann über Cyril Darlington geschrieben hast, eine sehr wichtige Figur in der Geschichte der Evolutionstheorie des 20. Jahrhunderts. Wenn du dich also zum Schreiben hinsetzt, für wen schreibst du dann und für wen sollten Wissenschaftshistoriker und -historikerinnen deiner Meinung nach schreiben – da wir alle einen solch patchworkartigen Hintergrund haben und uns zwischen den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften bewegen?
Oren Harman: Dem Schreiben liegt ein egoistischer Impuls zugrunde, da es eine Entdeckungsreise ist. Und der Raum zwischen den Fingerspitzen und der Tastatur ist ein magischer Ort, wo alles jederzeit passieren kann, wie beim Tischtennis oder einer großen Verliebtheit. Ich glaube, dass jede schöpferische Tätigkeit in erster Linie ein Vergnügen für ihren Schöpfer ist. Und für mich ist die größte Freude die Freude am Klang. Auch ein Schriftsteller oder ein Dichter ist eine Art Musiker. Daher ist Schreiben für mich im wahrsten Sinne des Wortes eine Form des Komponierens: Ich höre das nächste Wort oder die nächste Formulierung schon, bevor ich über ihre Bedeutung nachdenke. Andererseits ist es unmöglich zu schreiben, ohne sich einen Leser vorzustellen. Und dieser Leser war für mich immer ein neugieriger, kritischer, aufgeweckter Vierzehnjähriger.
LD: Ich sollte den Hintergrund dieser Frage ein wenig erläutern: Wir Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker haben unsere wissenschaftliche Leserschaft verloren. Früher haben wir zwar nicht ausschließlich, aber hauptsächlich für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geschrieben, zum Teil auch deshalb, weil viele Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker selbst in der Wissenschaft tätig waren oder einen wissenschaftlichen Hintergrund hatten. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert.
OH: Das stimmt. Heute schreiben viele Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker ausschließlich füreinander, was sehr schade ist. Aber das ist nicht allein ihre Schuld. John Ruskin sagte: „Man muss aus einer Kreatur entweder ein Werkzeug oder einen Mann machen.“ Und abgesehen von der geschlechtsspezifischen Diskriminierung finde ich, dass er recht hat. Es geht darum, wie wir Bildung sehen. Meiner Meinung nach sollten die Leute ihre Bildung an den Wurzeln des „Baums der Erkenntnis“ suchen; sie sollten Physik, Biologie, Geschichte, Philosophie und Geisteswissenschaften studieren. Außerdem sollten sie sich ein paar wichtige Arbeitsinstrumente aneignen, zu denen für mich statistisches Denken, Sprachen, das, was man früher einmal Rhetorik genannt hat, sowie das Schreiben oder die Fähigkeit, seine Gedanken auf Papier zu bringen, gehören. Heutzutage ist es sicher auch gut, Kenntnisse im Programmieren zu haben. Und später dann sollte man die Geschichte seines eigenen Faches kennenlernen. Aber all das ist nicht dasselbe wie die Vermittlung von schnell wieder überholten technischen Fertigkeiten oder disziplinären Ausrichtungen, die oft eher Trends bedienen als wirkliches Denken befördern. Wenn Leute sich räuspern und dann sagen „als Soziologin“, als „Geochemiker“ oder als „Wissenschaftshistoriker“, dann schaudert es mich. Wir legen mehr Wert auf Information und Logik, auf technisches Wissen und leider auch auf Trends in den einzelnen Disziplinen als auf Kreativität und Weisheit. Ich glaube, Niels Bohr sagte einer armen Seele: „Nein, nein, Sie denken nicht, Sie sind nur logisch.“ Einige Fachsprachen haben sich, wie Mathematik, zu einer unglaublichen Präzision hin entwickelt, und das ist großartig. Aber ich verstehe nicht, warum wir um viele Disziplinen so gewissenhaft einen Wall aus Fachsprache errichten müssen oder unsere geistige Unabhängigkeit an wechselnde Moden ketten müssen. Ich habe großen Respekt vor fundierter Gelehrsamkeit und versuche, sowohl für den Vierzehnjährigen als auch für meine größten professionellen Kritikerinnen und Kritiker zu schreiben. Allerdings interessieren mich interne Debatten in den Teildisziplinen häufig weniger als Debatten oder Ideen, die eine breitere Perspektive eröffnen. Wissenschaftshistoriker und -historikerinnen sollten für alle schreiben.
LD: Lass mich das noch ein wenig vertiefen. Wir Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker sind in unserer Eitelkeit gekränkt, weil wir einen großen Teil unserer Leserschaft verloren haben. Aber warum sollte ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin heute etwas über Wissenschaftsgeschichte lesen? Oder genauer gesagt: Warum sollte zum Beispiel ein Evolutionsbiologe dein Buch über Altruismus lesen?
OH: Es ist wichtig, zu wissen, woher Ideen kommen, wie ein Problem zum nächsten geführt und sich daraus dann ein drittes Problem ergeben hat. Es vertieft unser Wissen über unser eigenes Fachgebiet, ergänzt unser Verständnis um weitere Facetten, Nuancen und Strukturen. Ich finde außerdem, dass es wichtig ist, Beispiele aufzuzeigen, wie Wissenschaftler, Wissenschaftlerinnen und der Rest der Welt mit den ethischen und normativen Aspekten von Erkenntnis umgehen. Zwar soll und kann Geschichte kein Ersatz für Ethik sein, aber sie kann mit gutem Beispiel vorangehen. Ich wäre froh, wenn die Wissenschaftsgeschichte zur Ausbildung von allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern dazugehörte, aber mir ist klar, dass Geschichte und auch die Ethik nicht alle gleichermaßen ansprechen. Von allen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu erwarten, dass sie zu Historikern werden und über die Folgen ihrer Arbeit nachdenken, ist Wunschdenken. Andererseits sind sie alle auch Menschen. Und für mich geht es beim Schreiben auch darum, das Gefühl von Ideen zu vermitteln.
LD: Kannst du dafür ein konkretes Beispiel nennen? Vielleicht aus deinem Altruismus-Buch?
OH: George Price war ein brillanter, schrulliger Amerikaner, der sich in den späten 1960er-Jahren nach England einschiffte, um ein großes wissenschaftliches Problem zu lösen. In der Biologie wird Altruismus als eine Handlung definiert, die die Fitness eines Akteurs verringert und zugleich der Fitness eines anderen Akteurs nützt. Von Amöben über Ameisen bis hin zu Menschenaffen finden wir ihn überall in der Natur. Wie aber konnte er sich herausbilden, wenn es bei der Evolution doch um das Überleben des Stärksten geht? Price stellte die sogenannte Price-Gleichung auf, die die Dynamik der Selektion eingehend behandelt und zwar insbesondere bei Merkmalen, bei denen die Selektion auf verschiedenen Ebenen gleichzeitig wirkt: beispielsweise auf der Ebene des Gens, des Individuums, der Gruppe und vielleicht sogar der Abstammungslinie. Für ein Merkmal wie den Altruismus ist das entscheidend, denn wenn die Selektion auf der Gruppenebene ihre stärkste Wirkung entfaltet, kann der Altruismus sich weiterentwickeln. Alle großen Geister seit Darwin hatten versucht, dieses Problem zu lösen. Price jedoch war nicht einmal vom Fach und hatte seine Gleichung praktisch aus dem Nichts aufgestellt! Für einen statistisch denkenden Wissenschaftler war das einfach ein zu großer Zufall. Er fing also an, über weitere seltsame Zufälle nachzudenken, wie zum Beispiel, dass er vier Freundinnen namens Anne hatte oder dass die letzten vier Ziffern seiner Telefonnummer den Moment kurz vor Mitternacht bedeuteten. Er multiplizierte diese Zufälle und kam dabei auf eine unwahrscheinlich kleine Zahl. Es gab nur eines zu tun: Dieser einsame, seltsame Rationalist rannte aus seiner Wohnung zur All Souls Church am Langham Place, fiel auf die Knie und wurde auf der Stelle evangelikaler Christ. Er war zu der Erkenntnis gelangt, dass ihm ein Wunder widerfahren war und dass Gott ihn auserwählt hatte. Auserwählt, um der Welt zu zeigen, woher Güte kommt. Dann begann er, das Ganze philosophisch zu betrachten und kam zu der Überzeugung, dass, wenn man die Evolution eines Merkmals wie des Altruismus mit einer Formel beschreiben kann, die Eigenschaft nicht das ist, wofür man sie hält: Kratzt man einen Altruisten, so wird man einen Egoisten bluten sehen. Als Reaktion darauf ging Price hinaus auf die Straßen Londons, um durch sein eigenes Handeln zu beweisen, dass es möglich war, die magische Mathematik zu überwinden, die er gerade selbst in die Welt gebracht hatte. Er wurde zu einem radikalen Altruisten, brachte Obdachlose in seiner Einzimmerwohnung unter und gab sein Geld weiter, bis er selbst nichts mehr hatte. Er lebte dann selbst auf der Straße, am Ende nahm er sich in einem besetzten Haus das Leben. Aber warum hat er sich umgebracht? Als ich seine Papiere durchsah und mit Menschen sprach, die ihn gekannt hatte, dämmerte mir, dass irgendwann sein Rationalismus wohl wieder die Oberhand gewonnen hatte. Am meisten quälte ihn, dass er es nicht schaffte, zwischen egoistischem und selbstlosem Geben zu unterscheiden. Er kam zu dem Schluss, dass die Wissenschaft nicht über die notwendigen Instrumente verfügt, um einen Altruisten zu erkennen. Das war eine furchtbare Erkenntnis für ihn, weil er Wissenschaft für den besten Weg hielt, die Welt zu verstehen. Und noch furchtbarer für ihn als konvertierten Christen. Deshalb brachte George Price sich um. Die Möglichkeit eines echten Altruismus wurde zum Schlüssel dafür, Price’ tragisches Leben zu verstehen – aber sie ist auch grundlegend für die Wissenschaft des Altruismus. Deshalb habe ich versucht, mein Buch so zu strukturieren, dass Price’ persönliches Leid in seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen durchscheint, sodass die Leserinnen und Leser sich nicht nur in der Price-Gleichung mit dem wissenschaftlichen Rätsel auseinandersetzen, sondern es auch fühlen können.
LD: Das ist eine spannende und berührende Geschichte. Wie du aber weißt, haben Wissenschaftshistoriker und Wissenschaftshistorikerinnen ein schwieriges Verhältnis zur Biografie. Wenn die Biografie wirklich gut ist, entsteht eine Art Sympathie zwischen dem Leser oder der Leserin und der beschriebenen Person. Und wenn es in der Wissenschaftsgeschichte ein Genre gibt, das Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auch heute noch gern lesen, dann sind das wissenschaftliche Biografien. Gegen das Genre spricht aber ganz offensichtlich, dass es – wenn auch sicher nicht in deinem Fall – schnell zur Hagiografie werden kann und Gefahr läuft, die Wissenschaftsgeschichte auf einen Mount Rushmore großer Persönlichkeiten zu reduzieren. Aber was vielleicht noch schwerer wiegt, ist, dass die Biografie der Wissenschaft als kollektive Anstrengung nicht gerecht wird. Spätestens seit dem 17. Jahrhundert und dem Aufkommen des kollektiven Empirismus ist eines der zentralen Charakteristika der Wissenschaft, dass sie eine Gemeinschaftsleistung ist. Weil die Biografie ein Individuum herausgreift und in den Mittelpunkt stellt, kann ihr der Aspekt der kollektiven Anstrengung verloren gehen.
OH: Das ist ein berechtigter Einwand. Allerdings gibt es in der Wissenschaft eine große Bandbreite von der Arbeit in größeren Gruppen bis hin zu der romantischen Vorstellung von Einzelpersonen, die versuchen, mitten in der Nacht in ihrem Labor ein Problem zu lösen. Niemand ist eine Insel, auch wenn George Price dem ziemlich nahekam. Der Aufsatz in Nature mit der Price-Gleichung ist nicht mal zwei Seiten lang und enthält keinerlei Referenzen. Der Traum eines jeden Wissenschaftlers – eine Veröffentlichung in Nature ohne Referenzen. Es war ein vollkommen eigenständiges Projekt, das aus seinem Kopf kam.
LD: Gibst du damit nicht dem Traum der Schöpfung ex nihilo, der vollkommenen Originalität nach?
OH: Ja, ein bisschen schon, um des dramatischen Effekts willen. Ein Biograf hat natürlich auch die Verantwortung, sehr tief und sehr breit zu graben, um herauszufinden, mit welchem Netzwerk von Personen jemand in Kontakt steht, wen er oder sie liest und durch wen er oder sie beeinflusst ist. Und selbstverständlich muss er auch die technischen und wirtschaftlichen Aspekte der verschiedenen Werkzeuge und Instrumente verstehen, die diese Person einsetzt, oder die Hochschulpolitik, vor deren Hintergrund sie Tag für Tag agiert. All das sind wichtige Bestandteile der Wissenschaftsproduktion, genau wie die Rhetorik, die ein Wissenschaftler oder eine Wissenschaftlerin verwendet, und die spezifische Weise, in der er oder sie seine oder ihre Ideen zum Ausdruck bringt. Kein Wissenschaftler, keine Wissenschaftlerin steht für sich allein, aber gute Biografien zeigen genau das, während sie zugleich Einblick in eine ganz besondere Persönlichkeit bieten. Es gibt ein wundervolles Zitat von dem Mythologie-Experten Joseph Campbell: „Wir alle suchen eigentlich gar nicht nach dem Sinn des Lebens. Vielmehr suchen wir nach einem Gefühl der Verzückung darüber, lebendig zu sein, sodass die Erfahrungen, die wir auf einer rein physischen Ebene machen, mit einer inneren Wahrheit und einer inneren Wirklichkeit harmonieren.“
LD: Vielleicht ist das ein guter Übergang zu deinem Metamorphose-Projekt hier am Wissenschaftskolleg. In Gesprächen ist mir aufgefallen, wie wichtig es für dich ist, Körper und Geist gleichermaßen zu berücksichtigen. Und wir haben ja schon darüber gesprochen, dass du sowohl auf wissenschaftliche Prosa als auch auf eine bestimmte Art übertriebener wissenschaftlicher Spezialisierung allergisch reagierst. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Projekt zu Metamorphose und deiner Unzufriedenheit darüber, wie wissenschaftliche Arbeit abläuft? Weil es in gewisser Weise immer um das Veränderungspotenzial in dieser sterblichen Hülle geht?
OH: Eine Nymphe wird von einem Gott verführt, verwandelt sich zunächst in eine Bärin und dann in ein Sternbild. Ein sich in Selbstliebe verzehrender Jüngling starrt sein Spiegelbild in einer Quelle an, er stirbt, weil er sich nicht davon abwenden kann und wird dann zu einer Blume. Auf der ganzen Welt lesen Menschen gern Ovid, weil Veränderung ein unvermeidlicher Teil des Lebens ist und Furcht und Staunen erregt. Das Thema ist also viel größer als meine Unzufriedenheit mit der Wissenschaft. Schon in meinem letzten Buch, Evolutions: Fifteen Myths That Explain Our World, einem Versuch, die Geschichte des Universums und des Lebens auf der Erde in Form von Mythen, aber dennoch auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Erkenntnisse zu beschreiben, habe ich die existenzielle Seite des Wandels genauer betrachtet. Dieses Jahr am Wissenschaftskolleg versuche ich, drei Projekte unter einen Hut zu bringen. Im ersten geht es eigentlich gar nicht um Metamorphose. Es ist ein Krimi für junge Leserinnen und Leser zwischen sieben und zwölf Jahren über das Verschwinden von Darwins Notizbüchern aus der Cambridge University Library und ihr mysteriöses Wiederauftauchen zwanzig Jahre später – als Geschenk verpackt und mit der maschinengeschriebenen Botschaft „Bibliothekar, Frohe Ostern, X.“ Die Notizbücher sind also wieder da, aber niemand weiß, wer sie gestohlen hat. Diese wahre Begebenheit ist der Aufhänger für eine fiktionale Geschichte über drei Figuren, die den Fall aufklären wollen. Da gibt es Detective Doolittle, einen etwas begriffsstutzigen Polizisten aus Cambridgeshire, dann die größte Darwin-Spezialistin der Welt, Winifred Wigglesworth, eine strubbelhaarige Professorin. Und schließlich ihr adoptierter Affe Erasmus, ein schlauer und schelmischer Schimpanse, der ungefähr so alt ist wie mein Lesepublikum.
LD: Der sicher nach dem Großvater von Charles Darwin benannt ist ...
OH: Und nach seinem Bruder. Diese bunte Truppe macht sich zu einem turbulenten Abenteuer in Cambridge auf, um das Verbrechen aufzuklären. Hier besteht die Herausforderung beim Schreiben darin, einen Mittelweg zwischen Unterhaltung und Wissensvermittlung zu finden, denn ich hoffe, dass die Kinder bei diesem Abenteuer einiges über die Evolution lernen, am besten, ohne es zu merken. Das zweite Projekt ist ein Buch für Erwachsene, das mit einem Rätsel der Evolution beginnt. Metamorphose ist im Hinblick auf den Energieverbrauch sehr kostspielig und setzt Organismen einem großen Stress aus. Man stelle sich einen Hummer vor, der versucht, sich aus seinem Panzer herauszuschälen, oder eine Raupe, die sich verpuppt.
LD: Ja, oder die Schleppe eines Pfaus. Ein teurer Luxus.
OH: Und doch gibt es Schätzungen, die besagen, dass drei Viertel aller Spezies auf der Erde eine Form der Metamorphose durchlaufen. Die Frage ist: warum? Welches Problem versucht die Evolution mit dieser sehr komplizierten Rube-Goldberg-Maschine zu lösen? Hier zeigt sich, dass viele Wege nach Rom führen. Und in dieser Hinsicht ist ähnlich wie das Problem des Altruismus.
LD: Ja, es besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen den beiden Problemen.
OH: Bei Altruismus geht es darum, dass man versucht zu erklären, warum Verhaltensmerkmale, die die Fitness verringern, fortbestehen – wo Evolution doch eigentlich ein Wettbewerb ist, in dem es um das Überleben des Stärkeren geht. Bei der Metamorphose geht es um den Ursprung einer Lebenszyklusstrategie, die unglaublich kostspielig ist. Aber neben der Frage der Evolution gibt es auch eine Menge interessanter Grundlagenforschung in den Bereichen der Endokrinologie, der Entwicklungsbiologie, der Physiologie, der Genetik und sogar der Immunologie, mit der ich mich bei dem Versuch, das Problem der Metamorphose zu lösen, vertraut gemacht habe. Das ist die wissenschaftliche Seite. Auf der Seite der Kultur gibt es – von Ovid bis hin zu Orwell, in der Musik, der Malerei, im Film und den großen Religionen – eine permanente Beschäftigung, fast Besessenheit mit Themen rund um die Metamorphose: Hoffnung auf Veränderung, die Tragödie des Lebenszyklus, dramatische, oft ungebetene Verwandlung.
LD: Und natürlich auch mit dem Leben nach dem Tod.
OH: Ja, auch dieses große Rätsel. Diese ganze Fülle an Themen möchte ich in diesem Buch zu Papier bringen, obwohl das eigentlich unmöglich ist. Es wird weder ein wissenschaftliches noch ein philosophisches Buch, auch keine Wissenschaftsgeschichte. Sondern etwas ganz anderes. Ich schreibe es als Notizbuch eines Vaters. Und auch hier ist wieder die richtige Balance zwischen Unterhaltung und Wissensvermittlung entscheidend für eine Struktur oder einen Aufbau, mit dem ich das alles zusammenbringen kann.
LD: Bevor wir zu deinem dritten Projekt kommen, möchte ich dir eine Frage stellen. Mir scheint, du hast eine bestimmte Vorliebe, Projekte erzählerisch anzugehen. Bei dem Krimi wissen wir nicht, wer der Täter war, und du kannst einen erfinden. Ich bin sicher, dass du das Rätsel also sehr überzeugend lösen wirst. Dagegen ist es Biologinnen und Biologen meines Wissens bisher nicht gelungen, das Rätsel der Metamorphose zu lösen. Das bedeutet, dass du dem Lesepublikum in deinem multidimensionalen und polyphonen Buch über die Metamorphose keine Lösung präsentieren kannst. Hast du schon darüber nachgedacht, wie du damit umgehen wirst, dass dein Buch – um zur Musik zurückzukommen – nicht auf einen konsonanten, sondern auf einem dissonanten Akkord enden wird?
OH: Ich denke noch darüber nach! Wir haben große Fortschritte darin gemacht, die Metamorphose zu verstehen. Aristoteles glaubte noch, dass Raupen aus Tau entstehen, und Plinius der Ältere, dass Seidenspinner aus den Ausdünstungen von Eichenblüten entstehen, die der Regen von den Bäumen abgestreift hat. Jahrhundertelang hat niemand geahnt, dass die winzigen Glasaale im Meer etwas mit den wilden Flussaalen zu tun haben, und noch vielen Gelehrten des 17. Jahrhunderts blieben Schmetterlinge ein Rätsel. In den letzten 100 Jahren wurde jedoch erforscht, welche Rolle Hormone bei der Metamorphose spielen. Und seit etwa 30 Jahren verstehen wir langsam, welche Hebel und Schaltknöpfe auf genetischer Ebene für das Funktionieren dieser ganzen Physiologie verantwortlich sind. Mithilfe von Scantechnologien war es sogar möglich zu beobachten, was im Inneren einer Puppe passiert. Aber vieles wissen wir auch jetzt noch nicht. Und besonders rätselhaft bleibt die Frage, warum und wie sich etwas jeweils entwickelt hat. Dazu gibt es unterschiedliche Theorien und Meinungen.
LD: Kann es sein, dass es dafür mehrere Phylogenien gibt?
OH: Es gibt mehrere Phylogenien, aber das, was an Land passiert, unterscheidet sich stark von dem, was im Meer passiert. Schmetterlinge haben eine lange Wachstumsphase als Raupe, dann aber als ausgewachsene Tiere ein sehr kurzes Leben, manchmal ohne Mundwerkzeuge und nur einen Tag lang. Die Seestern-Larve wiederum hat ein sehr kurzes Leben, bis sie einen ausgewachsenen Seestern hervorbringt, der dann jahrzehntelang auf dem Meeresgrund leben kann. Es muss also unterschiedliche Erklärungen geben, weshalb diese Dinge geschehen.
LD: Wie weit ist der Begriff Metamorphose in deinem Verständnis gefasst: Ist der Embryo in der menschlichen Gebärmutter eine andere Lebensform als der erwachsene Mensch?
OH: Die Metamorphose wird in der Biologie als radikale postembryonale Entwicklung definiert. Beim Menschen würde das alles umfassen, was außerhalb des Mutterleibs geschieht. Aber natürlich können wir die zweite Seite der Dinge nicht verstehen, wenn wir die erste nicht verstehen, also alles, was nach der Befruchtung passiert. Du hast gefragt, wie ich dieses Buch schreiben will, wenn es doch keine eindeutige Antwort gibt. Als Rahmen versuche ich, mich an der Schwangerschaft meiner Frau mit unserem dritten Kind, Sol, zu orientieren. Wie die drei Trimester einer Schwangerschaft soll auch das Buch drei Teile haben. Der erste Teil befasst sich mit antiken, mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Zugängen zur Metamorphose rund um die Frage „Wo kommen wir her?“, der zweite mit dem Aufkommen des darwinistischen Denkens und dem Thema „Wo gehen wir hin?“ und der letzte Teil mit dem Einsatz von Genetik und bildgebender Technologie zum besseren Verständnis von Metamorphose heute. Die Frage dieses letzten Teils wird sein: „Was ist das Selbst?“ Aber in allen drei Teilen werde ich auf das grundsätzlich Unheimliche, Mysteriöse und Wundervolle dieses Phänomens zurückkommen. Ich werde nicht versuchen, dieses Rätsel auf philosophischer Ebene zu lösen, weil es darauf keine wirkliche Antwort gibt. Wir alle versuchen in unserem Leben herauszufinden, wer wir sind. Das ist ein grundlegendes Problem für alles, was sich weiterentwickelt. Schon Plutarch schrieb darüber, als er über das Schiff nachdachte, mit dem Theseus aus Kreta zurückkehrte. Die Athener wollten es erhalten. Aber bleibt es ein und dasselbe Schiff, wenn alle modernden Planken ersetzt werden? Wer sind wir, wenn wir uns kontinuierlich verändern? Wir alle suchen unser ganzes Leben lang danach. Und einige von uns finden im Laufe ihres Lebens eine oder mehrere Antworten darauf.
LD: Das ist interessant, weil sich sowohl das Problem des Altruismus als auch das der Metamorphose aus ein paar sehr grundlegenden Annahmen der Evolutionsbiologe ergibt. Wie Darwin schon von Anfang an erkannt hatte, besteht das Problem des Altruismus darin, wie diese Selbstaufopferung mit der reproduktiven Fitness vereinbar ist. Und die Metamorphose ist offensichtlich eine kolossale Energieverschwendung und risikoreich obendrein. Weshalb sollte ein Organismus diese ganzen Stadien durchlaufen, von denen jedes ziemlich prekär ist und ihn zum Zeitpunkt der Verwandlung anfällig für alle möglichen Gefahren macht? Implizit nehmen wir an, dass dem Mechanismus, egal wie er sich evolutionär erklären lässt, eine funktionale Erklärung zugrunde liegt. In dieser Hinsicht gibt es also eine Analogie zum Problem der sexuellen Selektion, die eine weitere offensichtliche Ressourcenverschwendung erklären soll und meines Wissens in der Evolutionsbiologie noch immer kontrovers diskutiert wird. Wie Darwins Kritiker schnell zu bedenken gaben, hängt die Evolution dann von einem wankelmütigen Weibchen und seinen unerklärlichen Launen ab. Manchmal frage ich mich, ob du, wenn du an diesen Problemen arbeitest, sie nicht als Herausforderung dieser grundlegenden Annahmen siehst.
OH: Ich hatte das Glück, Stephen J. Gould als Lehrer zu haben und mich später mit Dick Lewontin, einem der klügsten Menschen der Welt, anzufreunden. Sie entwickelten zusammen die Idee der Spandrillen, das heißt, dass einige Entwicklungen, die sich in der Natur beobachten lassen, nicht zum Zweck der Fitnessmaximierung stattfinden. Das Konzept der Anpassung gilt es immer mit Vorsicht zu betrachten. Und ich denke, dass die Evolutionsbiologen und -biologinnen ganz gute Methoden entwickelt haben, um zwischen Merkmalen zu unterscheiden, die sich wohl aufgrund ihres Fitnessvorteils durchgesetzt haben, und anderen, bei denen das nicht der Fall ist. Metamorphose ist in der Natur so weit verbreitet und kommt so häufig vor, dass sie dazu verlockt, sie mit dem Konzept der Anpassung zu erklären. Das Interessante ist, dass sie sich für unterschiedliche Abstammungslinien und für unterschiedliche Arten auch unterschiedlich erklären lässt, auch wenn es grundlegende Prinzipien gibt wie die Reduzierung von Generationenkonflikten, das Abkoppeln von Wachstum von Entwicklung oder Feindvermeidung. Es gibt kein Patentrezept, sodass es umso wichtiger ist, den jeweiligen Abstammungskontext und seine ökologische Geschichte sehr sorgfältig zu betrachten.
LD: Ich stelle fest, dass deinem Buch ein sehr weit gefasster Metamorphosebegriff zugrunde liegt, der nicht nur alle diese Beispiele aus vielen verschiedenen biologischen Taxa, sondern auch die von dir beschriebene metaphorische Bandbreite umspannt. Eine Schlussfolgerung, die man aus dem ziehen kann, was du gerade gesagt hast, ist, dass die Metamorphose kein einheitliches Phänomen ist und dass das, was wir – zum Teil aufgrund ihrer langen Geschichte bis hin zu Ovid – als Metamorphose bezeichnen, in Wirklichkeit eine große und uneinheitliche Kategorie unterschiedlicher Phänomene ist, die jeweils verschiedene Probleme der Anpassung lösen.
OH: Ja, und natürlich hat die Definition der biologischen Metamorphose auch etwas extrem Willkürliches. Was genau soll eine dramatische postembryonale Entwicklung sein? Wie dramatisch muss sie sein, damit man sie als Metamorphose bezeichnen kann? Damit wären wir wieder bei deiner Frage, ob Menschen sich verwandeln. Technisch gesehen gilt der Mensch nicht als metamorph. Wir durchlaufen eine weitaus weniger dramatische Verwandlung als beispielsweise eine Kaulquappe, wenn sie zu einem Frosch oder einer Kröte wird.
LD: Morphologisch betrachtet nicht, aber ... deine zweijährige Tochter vielleicht schon...
OH: Genau. In dem Buch möchte ich versuchen, das gängige Verständnis von Metamorphose infrage zu stellen und zu zeigen, dass wir in Bezug auf Veränderung alle in einem Kontinuum leben. Deshalb nehme ich auch die Schwangerschaft als Rahmen, denn so kann ich hoffentlich auch die menschlichen Emotionen und Gefühle berücksichtigen, die mit Veränderungen einhergehen. Was uns im Leben mit am meisten verändert, sind die Menschen, die wir verlieren, und die, die wir ins Leben holen. Sowohl die Metamorphose als auch die Geburt markieren Anfänge, sind aber in Wirklichkeit Fortsetzungen. Beide sind, in unterschiedlicher Weise, auch eine Art Ende. Und beide lassen uns über das Rätsel des Lebens nachdenken.
LD: Ich kann es kaum erwarten, das Buch zu lesen.
OH: Und ich kann kaum erwarten, es zu schreiben!
LD: Während wir über das Buch sprechen, wird deutlich, dass es ein sehr interessantes Beispiel dafür bietet, wie die Wissenschaftsgeschichte nicht nur sowohl Wissenschaftler als auch Nichtwissenschaftler ansprechen, sondern auch zum Nachdenken über Wissenschaft beitragen kann. Ich denke, die besten Werke der historischen Biologie und der Biophilosophie der letzten Jahrzehnte leisten genau das. Es ist ein Versuch, Konzepte, die bei ihrer Entstehung zwangsläufig unscharf sind, wirklich gründlich zu überdenken. Das soll keine Kritik sein. Sondern es ist einfach sehr schwierig, sich mit solchen Naturphänomenen zu befassen, weil sie so vielfältig und schillernd und schwer zu verstehen sind. Es ist sehr interessant, über Metamorphose nachzudenken und sie dabei entweder so weit zu fassen, dass man zum Beispiel den Menschen als metamorphen Organismus einbezieht, oder sie in einer Art nominalistischem Schachzug so zu gruppieren, dass viele Unterkategorien entstehen, von denen wir im Moment denken, dass sie sehr unterschiedliche Probleme der Anpassung lösen. Siehst du dafür ein Potenzial?
OH: Ja. Das führt uns zu unserer ersten Frage zurück: Sollen wir für Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen schreiben? Ich bin der Auffassung, dass Wissenschaftshistorikerinnen und -historiker spezifische Epochen in der Wissenschaftsgeschichte, spezifische Phänomene oder Personen beleuchten können, die in Vergessenheit geraten sind oder die nicht angemessen oder ausführlich genug untersucht wurden. Historikerinnen und Historiker sind außerdem qualifiziert, um auf die Kontingenz menschlicher Erkenntnis aufmerksam zu machen. Wissenschaftsphilosophen können in einem noch grundlegenderen Sinn das tun, was du gerade gesagt hast, nämlich Konzepte, die in der Wissenschaft bereits Anwendung finden, nuancieren oder neue Sichtweisen auf sie ntwickeln, sodass sie diese erweitern, präzisieren oder sogar infrage stellen können. Meiner Erfahrung nach kennen gute Biophilosophen und -philosophinnen die Definitionen und Begriffe, die im Wissenschaftsalltag verwendet werden, häufig besser als viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wenn wir mehr Möglichkeiten finden, Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler in einen wirklichen Austausch zu bringen, werden wir alle davon profitieren.
LD: Und auch das Timing ist wichtig. Ich denke dabei an die Gespräche von Leuten wie Elliott Sober und anderen über das Problem der Bedeutung des Gens, für das mindestens drei Definitionen im Umlauf waren. Vor allem durch die Forschung der evolutionären Entwicklungsbiologie zeichnete sich immer deutlicher ab, dass das Genom sich nicht ausschließlich durch Vererbung erklären lässt, weil es Veränderungen bei der Methylierung des Genoms gibt, die ständig Gene ein- und ausschalten, wie eine Art sekundäres Wahrnehmungssystem des Organismus, das auf seine Umwelt reagiert. Alle Versuche der Theoretikerinnen und Theoretiker, die Begriffe zu schärfen, stießen bei Genetikerinnen und Genetikern zunächst auf hartnäckigen Widerstand. Sie sagten: Bringt uns nicht durcheinander, ihr könnt euch in eurer Freizeit mit so einer akademischen Haarspalterei beschäftigen. Aber je mehr die Forschung voranschritt, desto notwendiger wurde es, solche Unterscheidungen zu treffen. Bei solchen Diskussionen ist also sowohl Durchhaltevermögen als auch Klarheit gefragt.
OH: Das stimmt, und das Gen ist ein sehr gutes Beispiel, weil wir alle dazu neigen, es als real existierende Entität zu begreifen. Wenn wir uns die Wissenschaftsgeschichte jedoch genauer ansehen, erkennen wir, dass Entitäten sich im Laufe ihrer Existenz verändern. Manchmal werden sie realer und manchmal lösen sie sich nach und nach auf. Du hast das im Hinblick auf Fabelwesen wie Einhörner oder Französisch sprechende Hunde, wie sie von den Menschen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit dargestellt wurden, schön beschrieben. Das Gen, so wie es nach Watson und Crick beschrieben wird ist für uns nützlich, da es bestimmte Probleme löst. Aber das kann sich ändern. Es gibt schon jetzt zu viele Ausnahmen, um die Standarddefinition aufrechterhalten zu können. Ich habe einmal ein Stück mit dem Titel „Wertschätzen Sie Ihre Gene. Sie werden bald verschwunden sein“ geschrieben. Damit wollte ich zum Ausdruck bringen, dass wir in 50 Jahren möglicherweise die Interaktion zwischen allen funktionalen Proteinen in einer Zelle messen können. Und wir könnten dem einen Namen geben, zum Beispiel „Len“. Das Len enthält dann viel mehr Informationen als das Gen, beispielsweise zum Wirkstoffdesign. Und während das Len ein Eigenleben entwickelt, könnte das Gen völlig verschwinden oder plötzlich weniger real werden.
LD: Und es ist interessant, wie unterschiedlich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler auf solche Gedankenexperimente reagieren. Wie du sagst, führen manche sie selbst weiter, Stephen J. Gould ist ein gutes Beispiel. Aber andere fühlen sich unwohl damit, weil die Wissenschaft für sie mehr als nur ein Beruf ist, sie ist ein alles verzehrendes Ethos, das durch fehlplatzierte religiöse Gefühle befeuert wird. Wenn man ihnen sagt, dass sie nicht auf der Suche nach unverbrüchlichen Wahrheiten sind, die für die Ewigkeit Bestand haben, kann das ein beunruhigender Gedanke sein. Ist dir so etwas schon einmal begegnet?
OH: Selbstverständlich, und ich kämpfe auch selbst damit. Meine Kollegin Naomi Oreskes hat kürzlich ein Buch mit dem Titel Why Trust Science? veröffentlicht, weil sie findet, dass wir in einer Zeit leben, in der es wichtig ist, der Öffentlichkeit, die der Wissenschaft nicht immer vertraut, zu vermitteln, weshalb es dafür trotz allem gute Gründe gibt. Die Zweifel an der wissenschaftlichen Wahrheit haben ein gefährliches Ausmaß erreicht. Für Konstruktivisten ist die Wissenschaft nichts weiter als ein menschliches Streben, das uns nicht notwendigerweise näher an die absolute Wahrheit bringt. Aber auch die relative Wahrheit muss hart erkämpft werden.
LD: Gibt es keinen Mittelweg? Weder unbedingt Dekonstruktion noch Nihilismus, sondern Fortschritt? Ich meine, ist die Voraussetzung für den Fortschritt nicht, dass sich die heute gültigen Wahrheiten ändern müssen?
OH: Wenn man bedenkt, dass die klügsten Menschen 1000 Jahre lang in den Himmel schauten und glaubten, dass es Epizyklen gibt, die die Bewegungen der Himmelskörper steuern, und dass sich ein ganzes Teilgebiet der Mathematik der Beschreibung dieser Epizyklen widmete ...
LD: ... und die Planetenpositionen erstaunlich genau vorhersagen konnte.
OH: ... Ja! Und dann gibt es plötzlich keine Epizyklen mehr. Sind einfach nicht mehr da. Oder der große Aristoteles, der glaubte, Frauen hätten weniger Zähne im Mund als Männer? Hier zu sagen, er hat sich nur geirrt, ist zu einfach gedacht. Viel interessanter und meiner Meinung nach auch zutreffender ist es, zu sagen: „Das sind Beispiele dafür, wie sehr Wissenschaft in einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Zeit und einem bestimmten Raum verortet ist.“ Zu sagen, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler grundsätzlich analog denken und sich der Metapher bedienen, und dass diese Metapher zeitgeistspezifisch ist. Und dass sie zwar ein Bild der Realität erzeugt, das für bestimmte Zwecke zutreffend sein kann, es aber wahrscheinlich ist, dass wir dieselben Phänomene in der Zukunft anders beschreiben werden. Man denke nur an das Gehirn: Früher wurde es als ein in unserem Schädel verborgenes hydraulisches System im Miniaturformat beschrieben. Dann als mechanische Uhr, dann als Telegraphen-Schaltanlage, und im 20. Jahrhundert schließlich als neuronales Netzwerk, und bei einigen jetzt sogar als Quantencomputer. Oft wählen wir die neueste Technologie, um Dinge zu beschreiben, die wir nicht wirklich verstehen können. Und die Metaphern erzeugen unterschiedliche Entitäten, von denen wir unterschiedliche Fragen ableiten können, auf die wir dann auch unterschiedliche Antworten erhalten.
LD: Es ist interessant, dass man sich fast dafür entschuldigen muss, wenn man das ausspricht, obwohl ich denke, dass jeder Historiker und jede Historikerin dem zustimmen würden. Nämlich, dass Wissenschaft immer an ihre Zeit und ihren Entstehungsort gebunden ist. Und wenn man etwas intensiver darüber nachdenkt: Wenn eine Idee wirklich neu ist und uns Dinge sehen und verstehen lässt, die zu sehen und zu verstehen die Menschen vorher nicht imstande waren, dann reichen die Mittel der gängigen Sprache dafür natürlich nicht aus. Um etwas wirklich Neues erfassen zu können, muss man auf die Metapher zurückgreifen. Die beiden Themen, zu denen du arbeitest, der Altruismus und die Metamorphose, ziehen Metaphern geradezu magnetisch an. In gewisser Weise ist das der Grund, warum du ein so breit gefächertes Buch über Metamorphose überhaupt schreiben kannst. Glaubst du, dass diese metaphernreichen Adern in der Wissenschaftsgeschichte eine besondere Rolle spielen?
OH: Ja, ich denke, dass sowohl Altruismus als auch Metamorphose tiefgründige, dramatische und sofort verständliche Beispiele sind, die im menschlichen Leben Widerhall finden und daher zu Kampfplätzen für genau das werden, worüber wir gerade sprechen: für den Kampf zwischen einer Weltanschauung, die die Wahrheit als etwas Absolutes ansieht, und einem Verständnis von Wahrheit, das viel kontextbezogener ist und sich der Grenzen des menschlichen Denkens und der menschlichen Sprache bewusst ist. Vor den wunderbaren Eigenheiten sowohl der Menschheit als Ganzes als auch des einzelnen Menschen zu warnen, aber sie auch zu feiern – so sollte es sein.
LD: Vielleicht ist das eine Sache, bei der die Historikerinnen und Historiker und natürlich auch die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Philosophinnen und Philosophen helfen können: Wenn wir denken, dass wissenschaftliche Wahrheiten die besten Wahrheiten sind, die wir haben, und sie dennoch nicht mit einem philosophischen Wahrheitsbegriff in Einklang bringen können, dann sollten wir diesen Wahrheitsbegriff vielleicht überdenken.
OH: Ja. Das ist eine sehr wichtige Lektion.
LD: Oren, worum geht es in deinem dritten Projekt?
OH: Auch in meinem dritten Projekt geht es um Metamorphose, es ist eine Bilderbuchreihe für ganz kleine Kinder, Drei- bis Fünfjährige vielleicht, anders gesagt, für meine Tochter Sol. Ich hoffe, die Reihe wird acht Bücher umfassen; bisher habe ich drei geschrieben. Sehr kurze Bücher mit einem Lebewesen, das eine Metamorphose durchläuft. Wir haben Alex, den Axolotl; Benny, den Schmetterling; Stella, die Seescheide; Simon, den Seestern. Jede der Metamorphosen verläuft in der Natur ganz unterschiedlich. Bei der Metamorphose des Seesterns zum Beispiel entsteht aus dem Ei eine junge Larve, die wie ein winziger Engel aussieht. Sie hat Flügel, flattert und schwimmt im offenen Meer. Und dann setzt in ihrem Magen ein zweites Entwicklungsprogramm ein, aus dem der ausgewachsene Seestern entsteht. Diese beiden Lebewesen sehen sich überhaupt nicht ähnlich: das eine ist durchsichtig, das andere buntfarbig, das eine winzig, das andere wird riesig werden. Sogar ihre Körpersymmetrie ist nicht die gleiche: eins ist zweiseitig, eins radial. Das erwachsene Tier wächst im Magen immer weiter heran, bis es groß genug ist. In diesem wunderbaren Moment löst es sich von der Larve und lässt sich als Seestern auf dem Meeresboden nieder, während die Larve wegschwimmt. Welches Verhältnis besteht zwischen diesen beiden Kreaturen? Jede einzelne Zelle dieser beiden Lebewesen – von denen man nie im Leben vermuten würde, dass sie etwas miteinander zu tun haben – hat genau das gleiche Genom, das unterschiedlich eingesetzt wird. Das eine ist nicht der Vater oder die Mutter oder das Geschwisterkind des anderen – sie sind eine Identität. Auf den Menschen übertragen ist das, als ob ein Kind sich selbst als Erwachsenen zur Welt bringt.
LD: Ja. Es ist unmöglich, das nicht allegorisch zu sehen.
OH: Und es ist nicht so, dass der Erwachsene das zukünftige Ich des Kindes ist, denn das Kind wird immer ein Kind bleiben. Und das Kind ist nicht die Vergangenheit des Erwachsenen, denn der Erwachsene hat keine Vergangenheit. Das wirft viele interessante philosophische Fragen zur Identität auf. Das ist also das Thema des Buches über Simon den Seestern. Bei Stella der Seescheide entwickelt sich eine ganz andere Geschichte: Bei der Metamorphose der Seescheide entsteht eine Larve, die einer schwimmenden Kaulquappe ähnelt. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, wenn sich die Lichtverhältnisse ändern, schwimmt sie nach unten, heftet sich an einen Felsen oder eine Koralle und erschafft sich selbst neu. Der Schwanz schrumpft, das Nerven- und Verdauungssystem sowie die Körperstruktur werden vollständig abgebaut. Und dieses Wesen, das genau wie du und ich eine Chorda dorsalis, eine Urwirbelsäule, hatte, verwandelt sich plötzlich in eine Seescheide. Der einzige Hinweis darauf, dass es einmal etwas ganz anderes war, sind Zähne in einer seiner Öffnungen.
LD: ... und hilft dabei, unsere implizit hierarchischen Vorstellungen über den Fortgang der Evolution, die Richtung, in die sich die Dinge entwickeln sollen, über Bord zu werfen. Sie entwickeln sich zu Wirbellosen anstatt zu Wirbeltieren.
OH: Großartig, oder? Und das ist tatsächlich das Thema dieses kleinen Bilderbuchs: Dass eine Rückentwicklung nicht unbedingt etwas Schlechtes sein muss.
LD: Ist es überhaupt eine Rückentwicklung?
OH: Ja, genau, danke. Das ist die philosophische Frage, die ich kleinen Kindern stellen möchte, dass sich daraus im Nachklang ein bleibendes Staunen, ein Nachdenken entwickelt, ein bisschen wie ein niemals endender Vorrat an Schokolade.
Die Bilder mit Oren Harman sind im Schmetterlingshaus der Biosphäre Potsdam entstanden. Vielen herzlichen Dank an Marc Specht, Anastasia Kobler und Dietmar Griebner für die Gastfreundschaft und Unterstützung!
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Fotos: © Maurice Weiss