Ausgabe 19 / Juli 2024
Brief aus Berlin
Die Berliner Philharmoniker und ich
Als ich die erste CD-Box von meinem eigenen Geld kaufte, war ich sechzehn. Es war die Gesamtaufnahme der Beethoven-Sinfonien von Herbert von Karajan aus dem Jahr 1963, die ich bei Barnes & Noble erstand, sie hatten gerade erst eine Filiale in der Stadt eröffnet. Für einen frisch Eingewanderten aus Hongkong und angehenden Bücherwurm war die große Eröffnung eines richtigen Buch- und Musikhändlers in einem Vorort von Dallas schon ein wichtiges Ereignis. All die glänzenden Bücher, die in den Regalen ausgestellt wurden, waren viel verlockender als die muffigen, die ich in der öffentlichen Bibliothek vorfand – ich wollte sie alle kaufen. Drinnen im Café bot Starbucks Getränke mit exotischen Namen wie Cappuccino, Latte und Espresso an – ich wollte sie alle kosten. Da war ein Wandgemälde in Pseudo-Art déco, auf dem große Autoren wie Franz Kafka, Oscar Wilde und Virginia Woolf herumsaßen und Kaffee tranken – ich wollte sie alle lesen. Die Musikabteilung verhieß unendliche Reichtümer in flachen Hüllen – ich wollte sie alle hören. Wenn ich dort etwas Geld ausgeben würde, könnte ich vielleicht auch gebildet und kultiviert werden, dachte ich.
Die fünf CDs waren in einem Karton in tiefem Burgunderrot mit hochglänzendem Golddruck verpackt, auf dessen Cover das Profil eines perfekt frisierten Karajan, ganz in Schwarz gekleidet, mit gesenktem Blick abgebildet war. Diese CD-Box der Deutschen Grammophon bildete die Keimzelle meiner Klassiksammlung. Irgendwie hatte ich den 800-seitigen The Penguin Guide to Compact Discs in die Finger bekommen und verwandte unendlich viele Stunden auf die Exegese der minuziös philologischen Diskussionen, ob diese oder jene Aufnahme von Böhm, Bernstein oder Abbado besser war. Karajans Zyklus aus dem Jahr 1963 wurde von dem Rezensenten in den höchsten Tönen gelobt. Endlose Stunden zerbrach ich mir den Kopf darüber, welche Interpretation des Mendelssohn-Violinkonzerts ich mir zulegen sollte: Anne-Sophie Mutter oder Itzhak Perlman – oder waren es Gil Shaham oder Maxim Vengerov?
In seinem Gedicht „Le Voyage“ schreibt Baudelaire: „Pour l’enfant, amoureux de cartes et d’estampes / L’univers est égal à son vaste appétit.“ Geschmückt mit Postern und allerlei Krimskams, vollgestopft bis obenhin mit CDs und Taschenbüchern, war mein Zimmer eine Art Kuriositätenkabinett des späten zwanzigsten Jahrhunderts, zusammengetragen von einem asiatisch-amerikanischen Teenager mit einem ungewöhnlich ausgeprägten und unwahrscheinlich starken Interesse an der Kultur der europäischen Bildungseliten. Obwohl ich damals nicht die richtigen Worte dafür hatte, war ich dabei, aus all dem, was ich in Trödelläden und Einkaufsstraßen auflas, eine Wunderkammer oder ein Studiolo einzurichten.
Auch heute kaufe ich immer noch zu viele Bücher, Plakate und Postkarten (aber wegen der Streamingdienste keine Musik mehr). Da ich nie sehr lange in Europa bleiben kann, versuche ich, Europa mit nachhause zu nehmen. Denn diese Dinge bewahren den Nimbus der Ferne und sprechen davon, was die Deutschen „Sehnsucht“ nennen, ein Verlangen nach etwas, das man nicht fassen kann.
Ich war also sehr begeistert, dass ich mit Anfang vierzig endlich eine Aufführung der Berliner Philharmoniker live erleben konnte. Möglich wurde dies durch meine Fellowship am Wissenschaftskolleg – für mich ist das ein Paradies des Geistes, was meinen Mitfellows und seiner Lage im grünen Bezirk Grunewald geschuldet ist.
Wenn man vom Grunewald zur Philharmonie fährt, durchquert man ein Stück deutscher Geschichte, denn man bewegt sich vom Rand der vormals eingemauerten Stadt zur Grenze, die West- und Ost-Berlin teilte. Man geht in einer beschaulichen Wohngegend mit Parks und Seen los und kann an der Villa des Verlegers Samuel Fischer vorbeigehen oder einen Blick auf den dezenten Reichtum von Botschaftervillen werfen. Das Wiko befindet sich in der Wallotstraße, benannt nach Paul Wallot, dem Architekten des Reichstags. In die Bürgersteige vieler Berliner Straßen sind „Stolpersteine“ eingelassen, quadratische Messingplatten mit einer Gravur der Namen verfolgter oder ermordeter Juden, die an diesen Orten gelebt haben. Ein Stolperstein vor einer Wiko-Villa erinnert an Emmy Braun, die 1940 nach Shanghai floh und 1943 im dortigen Ghetto starb.
Mit dem Bus M19 fährt man über den Hauptboulevard der Stadt – den Kurfürstendamm, wo das denkmalgeschützte Kaufhaus des Westens (KaDeWe), überquellend von kapitalistischen Waren, alle anderen Geschäfte überstrahlt; man kommt an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche vorbei, die heute ein zerstörtes Bruchstück einer neoromanischen Kathedrale ist, umgeben von profanem Kommerz. Man steigt in den Bus M 200 um, der am Zoo und am Tiergarten vorbeiführt, bevor man an der Haltestelle Herbert-von-Karajan-Straße aussteigt.
Als der Konzertsaal der Berliner Philharmoniker 1963 eröffnet wurde, war seine Umgebung düster und öde: Unfertige Parkplatzgelände, hässliche Müllhalden, und der Tiergarten, einst ein weitläufiges königliches Jagdrevier, war zu diesem Zeitpunkt ein vernachlässigter Park. Im späten 19. Jahrhundert gab es in dieser Gegend viele elegante Villen, Hotels, Kunstgalerien und Botschaften, ein pulsierender Ort, an dem Industrielle und Künstler ansässig waren, viele von ihnen Juden. Als Albert Speer, „der erste Architekt des Dritten Reiches“, begann, den größenwahnsinnigen Masterplan des Führers für seine Reichshauptstadt Germania zu verwirklichen, wurden Wohnblocks in großem Stil abgerissen. Die massiven Bombardierungen der Alliierten brachten weitere Verwüstungen. Nach dem Krieg räumten die Trümmerfrauen das Gelände auf und trugen so viele Überreste zerstörter Gebäude ab, dass im Grunewald eine künstliche Anhöhe namens Teufelsberg entstand. Sechzig Meter von der Philharmonie entfernt stand derweil eine neu errichtete Mauer.
Heute ist die Gegend völlig verändert. Der Potsdamer Platz ist jetzt ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt mit glänzenden Einkaufsmöglichkeiten, Restaurants und Unterhaltungsangeboten. Die Philharmonie ist Teil des Kulturforums, das aus der Gemäldegalerie, der Neuen Nationalgalerie, der Staatsbibliothek und anderen Ausstellungsorten besteht. Ein neues Museum für die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, ein Entwurf der renommierten Schweizer Architekten Herzog & de Meuron, wird gerade gebaut. Es befindet sich neben der traditionellen St.-Matthäus-Kirche, die nach ihrer Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in ihrer ursprünglichen Form wiederaufgebaut wurde. Die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe, ein transparentes, horizontales Meisterwerk der Spätmoderne, wurde gerade unter der Leitung von David Chipperfield saniert, der auch das Neue Museum auf der Museumsinsel in Mitte wiederaufgebaut hat. Demnächst wird die Staatsbibliothek, eine der größten Bibliotheken Europas, einer umfassenden Renovierung unterzogen, die sich zweifellos stark verzögern und die geplanten Baukosten überschreiten wird, ebenso wie der kürzlich eröffnete Flughafen Berlin Brandenburg oder das vielgescholtene Humboldt Forum. Ohne Frage, das Kulturforum ist noch ein work in progress.
Die Heimstatt der Berliner Philharmoniker heißt, wie es sich gehört, „Philharmonie“. Außen verkleidet mit genoppten Platten aus goldfarbenem Aluminium, besteht sie aus zwei miteinander verbundenen polygonalen Baukörpern: dem Großen Saal und dem zwei Jahrzehnte später eröffneten Kammermusiksaal, die wie schimmernde Karawanenzelte aufragen. Ihre Dachlinien schwingen sich so überschäumend wie manche Melodiebögen empor. Das Gebäude wurde von Hans Scharoun entworfen, sein Stil nimmt die postmodernen Kurven des Opernhauses in Sydney oder der Walt Disney Hall in Los Angeles vorweg und lehnt die neoklassizistischen Formen, die für frühere Konzertsäle und Museen typisch sind, entschieden ab. Das Foyer mit seinen Garderoben, terrassenartigen Aufgängen, Wartebereichen, Wänden aus runden Farbglasbausteinen, die den Innenraum wie ein Schmuckkästchen leuchten lassen, und nicht zuletzt einer sehr vernünftigen Bar und einem Souvenirladen lädt dazu ein, sich unter die Leute zu mischen und zu verweilen. Als ich dort war, war das Interieur im Stil der Sechzigerjahre gut erhalten.
Im Herbst und Frühling besuchte ich etwa ein Dutzend Konzerte. In seinem Entwurf schrieb Scharoun, er wolle, dass „Mensch, Musik und Raum auf eine neue Art in Beziehung treten“. Der Ort sollte „dem Vorbild einer Landschaft“ folgen. Das Auditorium im Inneren sollte ein „Tal“ sein, „auf dessen Sohle sich das Orchester befindet, umringt von ansteigenden Weinbergen“. 2.440 Sitzplätze sind in asymmetrischen Terrassen angeordnet, die von der fünfeckigen Bühne in der Mitte ausgehen.
Der Klang in der Philharmonie ist fantastisch. Traditionelle Konzertsäle haben entweder die Form eines Schuhkartons, wie der Wiener Musikverein, oder sind hufeisenförmig wie die Carnegie Hall: Das Orchester befindet sich auf der einen Seite und das Publikum auf der anderen Seite. Scharoun verändert dies radikal und folgt seinem Leitgedanken von der „Musik in der Mitte“. Durch die Art und Weise, wie der Klang reflektiert wird und sich im Raum entfaltet, ist jeder Ton klar, voll und genau, unabhängig davon, wo man sitzt. Ich war fassungslos, wie Riccardo Minasi während seines Debüts am Pult der Berliner Philharmoniker mit einer kleinen Bewegung seines Arms ein so scharfes und plötzliches Fortissimo in Mozarts Sinfonie Nr. 29 hervorbringen konnte oder wie Gustavo Dudamel dem Adagietto in Mahlers Fünfter Sinfonie das leiseste, hauchzarte Pianissimo entlockte. Oft überkam mich eine leichte Euphorie und ich hatte ein Kribbeln im Nacken, das häufig mit ASMR – Autonomous Sensory Meridian Response – in Verbindung gebracht wird.
Die neue Heimstatt der Berliner Philharmoniker und die Mauer der geteilten Stadt entstanden zur gleichen Zeit. Die Grundsteinlegung für die Philharmonie fand im September 1960 statt. Elf Monate später, im August 1961, begann der Bau der Mauer. Als die Philharmonie im Oktober 1963 eröffnet wurde, hatte die Mauer den französischen, britischen und amerikanischen Sektor bereits vollständig umschlossen.
Eine geteilte Stadt bedeutete auch ein geteiltes kulturelles Erbe. Zur Blütezeit des Deutschen Kaiserreichs planten die preußischen Kaiser, Kunst und Kultur in großem Stil in die neue Hauptstadt zu bringen, ein „Spree-Athen“ zu erbauen. Schließlich waren rund um die Prachtstraße Unter den Linden eine außergewöhnliche Antikensammlung sowie eine Universität, ein Opernhaus, eine Bibliothek und ein Dom beheimatet. Während des Zweiten Weltkriegs wurden die wertvollen Sammlungsstücke auf dem Land in Sicherheit gebracht. Nach dem Bau der Mauer konnten die zerstückelten Sammlungen nicht wieder zusammengeführt werden. Dieser bis heute bestehende Riss stößt wichtige Fragen über das Schicksal der Kultureinrichtungen an: Wer entscheidet, was wohin kommt – der Bund, das Land oder die Stadt? Warum wird große Kunst in den Hauptstädten der Welt konzentriert, anstatt anderswo verteilt zu werden? Welche Gefahren sind mit enzyklopädischen Sammlungen vielleicht verbunden? Wer sind hier die Sieger und wer die Opfer?
Das Kulturforum war also die kontrapunktische Antwort des Westens auf die sowjetisch kontrollierte Museumsinsel. Im Gegensatz zur edlen Einfalt und stillen Größe des Areals Unter den Linden und in Ablehnung des faschistischen Größenwahns von Speers Germania muss die polygonale Philharmonie ein Schock gewesen sein: ein bebendes, tanzendes Bauwerk inmitten einer gerade erst geräumten Trümmerlandschaft. Während die neoklassizistischen Bauten in Ost-Berlin direkt auf ihre mediterranen Vorgänger Bezug nehmen, meidet Scharouns frühe Postmoderne sorgsam jedwede Anspielung auf die Vergangenheit. Ein neuer demokratischer Staat muss der hohen Kunst eine Tabula rasa zur Verfügung stellen.
So kam es, dass die Berliner Philharmoniker eine maßgebliche Rolle in der Kulturpolitik der geteilten Stadt spielten. Heute begreife ich, dass die Aufnahmen der Deutschen Grammophon von Karajan und seinem Orchester während des Kalten Krieges das wichtigste Medium des Westens waren, um der Welt zu zeigen, dass es dort immer noch möglich war, Musik auf allerhöchstem Niveau zu machen. In den 1990er-Jahren erreichten sie schließlich die Ohren eines asiatisch-amerikanischen Teenagers, der in Texas lebte.
Ich muss gestehen: So besonders sie auch waren, der Besuch der Livekonzerte war für mich keine größere Offenbarung als das Anhören von Aufnahmen zuhause. Ebenso prägend waren die dunklen Nächte der Seele, in denen ich Mitsuko Uchida hörte und für meine Doktorprüfungen lernte, oder als ich bei einer intensiven Sommersprachschule ständig Schuberts Quintett in C-Dur hörte. Bachs Französische Suite Nr. 5 ist mir als das erste Stück, das ich nach Trumps Sieg aufgelegt habe, unauslöschlich in Erinnerung. Nicht zu unterschätzen sind die Momente passiven Hörens, wenn man Online-Formulare ausfüllt oder seine Rechnungen bezahlt, und die Momente, in denen man die Kopfhörer aufsetzt, während man seine Besorgungen macht, sind ebenfalls nicht unwichtig: Man fühlt sich wie ein Superheld in seinem eigenen Film.
Was ich im Saal der Philharmonie verspürt habe, lässt sich vielleicht am besten anhand dessen erfassen, was Freud in dem Brief „Eine Erinnerungsstörung auf der Akropolis“ schreibt, in dem er sich an seine erste Griechenlandreise erinnert: „Nach dem Zeugnis meiner Sinne stehe ich jetzt auf der Akropolis, allein ich kann es nicht glauben.“ Das Gefühl, das ihn überkommt, ist ein „Entfremdungsgefühl“: „Also existiert das alles wirklich so, wie wir es auf der Schule gelernt haben!“ Die Erkenntnis, dass es etwas anderes ist, etwas mit eigenen Augen zu sehen, als nur davon zu hören oder zu lesen, ist nicht besonders originell. Aber für Freud hat dieser Unterschied damit zu tun, wie unsere Erwartungen und Reaktionen von tiefen Regungen in unserem Unbewussten geprägt werden. Und in der Philharmonie durchlief mein Geist eine ganze Tonleiter von Gefühlen: Ich kann gar nicht glauben, dass ich hier bin; ich habe mich so sehr angestrengt, um an diesen Ort zu kommen; ich verdiene das nicht; oh, das ist es jetzt? Es sind so viele alte Leute hier, wann ist dieses Konzert zu Ende?
In den sozialen Medien werden bestimmte Aufnahmen von Hi-Fi-Freaks fetischisiert, während meine älteren, weißen Kolleginnen und Kollegen aus Europa Live-Auftritte fetischisieren. Erstere sind besessen von der perfekten Einspielung. Ich war in Social-Media-Gruppen, in denen die Kommentare zu einem Post, in dem eine bestimmte Aufnahme gelobt oder niedergemacht wurde, in Dispute ausartete, die eher in die finsteren Gefilde der extremen Rechten passen. Letztere sind Teil einer schwindenden Generation des Bildungsbürgertums. Sie erinnern an Pierre Bourdieus These, dass Geschmacksurteile weitgehend durch die jeweilige Klassenzugehörigkeit geprägt werden.
Der Besuch eines Konzerts unterliegt einem Regelwerk disziplinierten Verhaltens: Man muss pünktlich sein, man muss sich auf eine bestimmte Weise kleiden, man darf während der Aufführung nicht reden, jedoch wissen, wann geklatscht wird (niemals zwischen den Sätzen). Vielleicht leidet man an einer Sozialphobie; wenn man in Begleitung anderer Leute hingeht, muss man Small Talk machen; oder wenn man alleine hingeht, könnte das ebenfalls unangenehm sein. Und wenn man knapp bei Kasse ist, könnte man sich schlecht fühlen, weil man zu viel Geld ausgibt (obwohl die Eintrittskarten in Berlin im Allgemeinen viel erschwinglicher sind, da sie vom Staat stark subventioniert werden); oder man mag seinen Sitzplatz oder die Sitznachbarn nicht.
Bei Aufnahmen hat man die völlige Kontrolle – ich wähle genau den Titel, den ich will; ich überspringe, wiederhole, vergleiche fünfzig verschiedene Versionen der Goldberg-Variationen auf Spotify. Man drückt die Wiedergabetaste und aus den Lautsprechern kommen die erhabensten Klänge der brillantesten Interpreten und Interpretinnen seit Anbeginn der Aufnahmetechnik – zur freien Verfügung. Ich habe die Suche nach der „besten“ Aufnahme längst aufgegeben. Es gibt Aufnahmen, die man so oft gehört hat, dass sie die Erwartungen an ein Stück prägen und so zum entscheidenden Maßstab werden. Machte man einen Blindversuch, wüsste ich nicht, wie viele Hörerinnen und Hörer, außer den anspruchsvollsten, tatsächlich unterscheiden können, ob gerade András Schiff, Angela Hewitt oder Murray Perahia Bach spielt.
In einem Artikel im New Yorker, den Jiayang Fan anlässlich des Todes des Architekten I.M. Pei schrieb, erzählte sie, wie sie Peis Glaspyramide im Louvre zum ersten Mal sah. Wie ich war Fan eine junge, chinesische Einwanderin in Amerika. Sie besuchte Frankreich zum ersten Mal als Teenager: „Ich war dort eine Außenseiterin, aufgrund meines Gesichts, meiner ethnischen Zugehörigkeit und der seltsamen Silben, aus denen sich mein Name zusammensetzte. In jenem Moment, vom Jetlag gestresst, wusste ich nicht, dass die Pyramide von einem Mann erbaut worden war, der sich einst ähnlich fremd gefühlt haben musste.“ Und James Baldwin, der in seinen Zwanzigern nach Frankreich gezogen war, spricht in einem Essay aus Notes of a Native Son (deutsch: Von einem Sohn dieses Landes) über die Dorfbewohner, denen er begegnete: „Noch die Ungebildetsten unter ihnen sind auf eine mir verwehrte Weise mit Dante, Shakespeare, Michelangelo, Aeschylus, Da Vinci, Rembrandt und Racine verwandt; die Kathedrale von Chartres sagt ihnen etwas, was sie mir nicht sagen kann, ebenso wie das Empire State Building, sollte einer von ihnen es jemals zu Gesicht bekommen. Ihre Tänze und Lobgesänge haben Beethoven und Bach hervorgebracht. (…) Die Kathedrale von Chartres, schrieb ich, sagt den Dorfbewohnern etwas, was sie mir nicht sagen kann, doch muss man verstehen, dass sie auch mir etwas sagt, was sie ihnen nicht sagen kann.“
Was sagen mir die Berliner Philharmoniker? Obwohl ich nicht sagen kann, dass ich die gleiche Not wie Fan in ihrer Kindheit oder den gleichen Rassismus wie Baldwin erlebt habe – schließlich sind Asiatinnen und Asiaten in der klassischen Musik gut vertreten und ich hatte Glück mit meiner Aufnahme in bestimmte Institutionen –, kann ich doch über die Berliner Philharmoniker und mich sagen: Diese einseitige Beziehung drückt ein gewisses Gefühl der Sehnsucht und Zugehörigkeit aus.
Seit dem 18. Jahrhundert messen die Deutschen der „Bildung“ großes Gewicht bei; mit diesem Begriff ist der Entwicklungsprozess gemeint, in dem eine Person zum Individuum und durch ihre Enkulturation gleichzeitig ein Mitglied der Gesellschaft wird. Die deutsche Pädagogik geht davon aus, dass man die Klassiker kennen muss, um kultiviert zu sein: Die griechischen und römischen Klassiker und die Wiener Klassik gehören zusammen. Daher spielt die Geschichte des Konzertbesuchs eine große Rolle bei der Gestaltung von Bildung.
Was die Deutschen als Herzensbildung bezeichnen, nenne ich Sehnsucht und Zugehörigkeit. Bildung führt dazu, dass man sich nach Autonomie sehnt, doch Kultur sorgt dafür, dass man zu einer Gemeinschaft gehört. Mein Vater ernährte uns zunächst mit dem Betrieb einer chinesischen Bäckerei und später mit einem Geschäft für Goldfischaquarien. In meinem Zimmer in Garland, Texas, begriff ich, dass ich nie wirklich in meine High School passen würde oder in die chinesisch-protestantische Kirche, in die wir jeden Freitagabend zur Gemeinschaftspflege und am Sonntag zum Gottesdienst gingen. Ich wollte woanders sein, das wusste ich, aber ich wusste nicht, wohin ich wollte. Reproduktionen und Aufnahmen sind im Grunde genommen Surrogate: Man muss etwas lesen oder hören, weil man selbst nicht dabei war. Es zog mich nicht nur zu den Berliner Philharmonikern, sondern ich wollte Zugang zur gesamten Infrastruktur ihrer Lebenswelt.
Doch je mehr ich über die Geschichte des Orchesters erfuhr, desto mehr bewies sie die Wahrheit von Walter Benjamins Aphorismus: „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“
Der ursprüngliche Name des 1882 gegründeten Ensembles war ein Akt des Widerstands: „Ehemalige Bilsesche Kapelle“ – dem früheren Musikdirektor Benjamin Bilse zum Trotz, der die Musiker zu schlecht bezahlte. Zunächst spielte das Orchester leichte Kost in einem Gartenlokal und im Saal einer ehemaligen Rollschuhbahn. Als es Jahrzehnte später zur Weltklasse aufstieg, wurde es zum „Reichsorchester“. Der Propagandaminister Joseph Goebbels wurde zu seinem persönlichen „Schirmherren“ ernannt. Wilhelm Furtwängler dirigierte Beethovens Neunte Symphonie zu Hitlers Geburtstag. Das Orchester trat bei den Reichsparteitagen in Nürnberg und 1936 bei der Eröffnung der Olympischen Spiele auf. In den letzten Zügen des Kriegs und kurz vor der Schlacht um Berlin spielte es Brünnhildes Opferszene aus dem Finale von Wagners Götterdämmerung. Die Hitlerjugend, so wurde berichtet, verteilte Zyankalikapseln an alle. Der Dirigent dieses letzten Konzerts, Leo Borchard, wurde später versehentlich von einem amerikanischen Soldaten durch einen Kopfschuss getötet.
Als Teenager hatte ich nichts davon gewusst.
Angesichts dieses Wissens – welche Vergebung kann es geben? Ich weiß es nicht. Trotz alledem weiß ich sicher: Kunst erneuert sich aus sich selbst, sie erwächst aus einer Sehnsucht nach etwas jenseits ihrer selbst und Kultur entsteht gerade in Zeiten des Zusammenbruchs und der Zerstörung. Das englische Wort monument heißt auf Deutsch „Denkmal“, das auf das Verb „denken“ zurückgeht. Die Mauer fiel am 9. November 1989. Das Massaker an Studierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens geschah am 4. Juni 1989. Meine Familie wanderte am 1. Juli 1989 aus Hongkong in die USA ein. Der Mangel ist der Ursprung des Begehrens; der Tod ist die Mutter der Schönheit; schöne Dinge sind schwierig und gehen leicht kaputt …
Die deutsche Philosophie hat viel Energie aufgewandt, um über das Verhältnis von ästhetischer Erfahrung, Geschichte und Selbst nachzudenken. Und seit Beginn der Tonaufnahmen geht es darum, wie man eine bestimmte Darbietung festhalten und über den gesamten Planeten verbreiten kann, an so viele Menschen wie möglich. Es geht darum, Töne und Klänge in einem Medium aufzeichnen und bewahren zu können, und dass wir jedes Mal, wenn wir die Abspieltaste drücken, verschlüsselte Daten aktivieren. Damit die Klänge der Philharmoniker meine Ohren erreichen, muss zuvor eine Reihe komplexer Übertragungen stattfinden: die wirtschaftliche Basis, die das Orchester trägt, die Qualität seiner Musikerinnen und Musiker, die Akustik des Saals, die Interpretation einer Partitur durch den Dirigenten oder die Dirigentin, der Komponist und die Lebenswelt, der die Musik entspringt, der Stand der Aufnahmetechnik und die Audiogeräte, die jemand besitzt. Je mehr Schichten man aufdeckt, desto komplexer werden die Bedingungen, die dieses musikalische Ereignis ermöglichen. Angesichts all der Wunder, Albträume und historischen Monumente ist man fast gelähmt und fragt sich, wie das alles überhaupt geschehen kann.
In der frühen Schrift „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“ hat Nietzsche mehrere Betrachtungsweisen entworfen, um die Lasten der Vergangenheit zu verstehen: Die antiquarische Betrachtung versucht, jede Kleinigkeit zu bewahren, die monumentalistische ebnet alles ein, um den Helden zu verherrlichen, die kritische verachtet und verwirft alles, bietet aber keine bessere Alternative. Was man wirklich braucht, so Nietzsche, ist eine Geschichte, die dazu dient, den lebenden, atmenden Menschen zu verbessern. In der Dämmerung seiner schöpferischen Jahre, bevor er in eine zehnjährige Umnachtung fiel, schrieb er in der Genealogie der Moral: „Damit ein Heiligtum aufgerichtet werden kann, muss ein Heiligtum zerbrochen werden (…).“
Das Jahr, in dem ich in Berlin war, war das Jahr des Angriffs der Hamas auf Israel und der israelischen Vergeltungsmaßnahmen in Gaza. Die Invasion Russlands in der Ukraine lag mehr als zwei Jahre zurück; es war der Vorabend der Neuauflage von Trump vs. Biden; die KI trieb ihren tsunamiartigen Angriff voran; das Erstarken der AfD bedroht die Zivilgesellschaft. Vielleicht blicken wir Jahre später zurück und können ein Muster oder einen Bogen erkennen, der zukünftige Ereignisse unausweichlich machte. Was auch immer wir erfahren – mag es eine ästhetische Erfahrung sein oder nicht – ist gleichermaßen mit Vergessen und Erinnern verbunden. Vielleicht lähmt uns die Qual der Wahl: Welches der vielen Konzerte oder Veranstaltungen kann ich heute Abend besuchen? Was soll ich aus dem unendlichen Katalog von YouTube auswählen? Was ist die Hintergrundgeschichte dieses Stücks oder jenes Orchesters? Die Vergangenheit würde uns völlig erdrücken, wenn wir uns ständig über alles informieren müssten. Um eine vollkommene ästhetische Erfahrung zu machen, muss man sich völlig in die Wirkung vertiefen, vor der die Anforderungen der Vergangenheit und der Zukunft sowie die eigene Identität zurücktreten müssen. Ob im Konzertsaal oder mit Kopfhörern mit Geräuschunterdrückung – liegt das ideale Zuhören also im Vergessen, wer spielt, im Vergessen, wer man ist, und darin, selbst zu Musik zu werden?
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Fotos: © Maurice Weiss