Ausgabe 19 / Juni 2024
Das Imperium muss zerfallen
von Kerstin Holm
Die exilrussische Schriftstellerin Alisa Ganieva stammt aus Dagestan und hält Moskau dessen koloniale Ausbeutung vor. Die arme Region im Kaukasus erhält Investitionen als Lohn für die Rekrutierung von Soldaten für den Ukrainekrieg
Alisa Ganieva gehört nicht nur zu den wenigen ihrer oppositionellen Landsleute, die den Großangriff auf die Ukraine kommen sahen, sie bescheinigt darüber hinaus auch vielen Putin-Kritikern imperial-koloniale Arroganz. Die 38 Jahre alte Ganieva, die aus der Kaukasusrepublik Dagestan stammt, seit ihrem Literaturstudium aber in Moskau lebte, wurde 2009 durch ihr Prosadebut Salam, Dalgat! bekannt, das einen Tag im Leben eines jungen Dagestaners schildert, der bald ein Dokument abliefern, bald Bandenmitglied werden oder ein guter Muslim werden soll, zunächst unter männlichem Pseudonym. Als das Buch ausgezeichnet und ihre Identität bekannt wurde, schlug die Begeisterung vieler dagestanischer Leser in Empörung um, weil sie als Frau eine prekäre Macho-Welt offengelegt hatte, wo man dem Kreislauf von Korruption und Gewalt nicht entkommt. Nach dem Beginn der Großinvasion vor zwei Jahren zog Ganieva zunächst nach Estland und dann nach Kasachstan, wo ihre Tochter zur Welt kam. Dank eines Stipendiums des Wissenschaftskollegs lebt sie derzeit in Berlin.
Bei einem öffentlichen Gespräch im Wissenschaftskolleg mit der Suhrkamp-Lektorin Katharina Raabe erklärt Ganieva am Beispiel Dagestans, wie Russland im Krieg vor allem seine kleinen Völker verheizt. Dagestan ist eine der ärmsten Regionen des Landes, das sie als „sogenannte“ Föderation anspricht, dort wurden besonders viele Männer für den Ukrainekrieg mobilisiert, auch dank einer verbreitet positiven Einstellung zum Armeedienst. Und Dagestan hat – nach dem fernöstlichen Burjatien – die meisten Gefallenen zu beklagen. Angesichts der Gräueltaten der Invasoren behaupteten viele Russen, so etwas täten nur die primitiven Burjaten oder Kaukasier, sagt Ganieva.
Die meisten Russen, auch die Gebildeten, wüssten praktisch nichts über diese Völker, ihre Siedlungsgebiete, ihre Kultur und Religion, klagt Ganieva. Tatsächlich seien infolge der Russifizierung diese Kulturen oft weitgehend zerstört, die mehr als dreißig in Dagestan beheimateten Sprachen seien in ihrer Mehrheit im Aussterben begriffen. In das weltanschauliche Vakuum stoßen salafistisch-ultrapatriarchalische Lehren aus Saudi-Arabien vor, die insbesondere unter Jugendlichen Konjunktur hätten. Daher sei die jüngere Generation der Dagestaner leider xenophober als die ältere, stellt Ganieva fest. Damit erklärt sie etwa die antisemitischen Ausschreitungen auf dem Flughafen von Machatschkala im vergangenen Oktober nach der Landung einer Maschine aus Tel Aviv. Dabei gehörten Juden, etwa die Chasaren, aber auch die Bergjuden, zu den angestammten Völkern Dagestans. Russland nutzte den Nordkaukasus zudem als Testgelände für Techniken der Willkürjustiz, die inzwischen im ganzen Land Schule gemacht haben wie das Unterschieben von Waffen, das Kidnappen von Dissidenten oder das erzwungene Aufzeichnen von Reuevideos.
Ganieva liest aus ihrer jüngsten Erzählung „Dorffest“, die die Auswirkungen des Krieges in Dagestan verarbeitet und in der sie wieder in die Rolle eines männlichen Erzählers schlüpft. Dieser ist der Direktor eines Dorfmuseums, dessen Sohn von Polizisten erschossen wurde, woraufhin diese eine Maschinenpistole zum Leichnam legten und ihn postum zum „Terroristen“ erklärten. Beim Dorffest, das für viele ähnliche Veranstaltungen in Russlands ethnischen Regionen seit dem Beginn der Kriegserweiterung steht, werden die „Helden“ des Ukrainekriegs gefeiert und lokale Geschichtsgrößen und Brauchtum dafür vereinnahmt, hier sogar der dagestanische Heerführer Imam Schamil, der im 19. Jahrhundert die russischen Eroberer bekämpfte. Die Verwaltung, die Schuldirektion, Lehrer treten auf und halten Reden, um vom Moskauer Zentrum Zahlungen zu bekommen. Weil sie dafür auch Quoten für Mobilisierte erfüllen müssen, werden junge Männer, die sich dem Einberufungsbefehl zu entziehen versuchen, ins Gefängnis geworfen.
In Russland hätten sich die meisten Menschen mit dem Krieg arrangiert, bezeugt Ganieva. Der Wirtschaft gehe es insgesamt gut, in den eroberten „neuen Territorien“ wird gebaut und investiert, aber auch in vielen russischen Regionen gibt es jetzt Geld für Buchmessen, Literaturresidenzen und Festivals, wie man sie früher nie kannte. Ganievas heimatliches Dagestan wurde infolge der Reisebeschränkungen für Russen obendrein ein Touristenmagnet. Auch seien von den emigrierten Kriegsgegnern viele zurückgekehrt, nicht ohne zuvor ihre Konten mit kritischen Posts in den sozialen Netzwerken zu löschen.
In den ersten Monaten der Großinvasion in die Ukraine sei sie nicht imstande gewesen, etwas Literarisches zu schreiben, bezeugt Ganieva, als sie die F.A.Z. anderntags in einem Café trifft. So geht es vielen aus Russland emigrierten Autoren. Doch inzwischen arbeitet sie an einem historischen Werk über die unabhängige Bergrepublik im Kaukasus, die sich beim Zerfall des russischen Zarenreichs 1917 formierte und die erst 1920 von den Bolschewiken erobert wurde. Die Bergrepublik, die von den gewählten Nationalräten der Tschetschenen, Awaren, Tscherkessen, Lesgier, Osseten, Karatschaier, Inguschen sowie kleinerer Völker ausgerufen wurde, fasziniert Ganieva als eine utopische Geschichtsalternative; bezeichnenderweise versuchten in der Aufbruchszeit der Neunzigerjahre einige Kaukasusvölker, an sie anzuknüpfen. Zu ihren Anführern gehörten Fürsten, Stammesführer, islamische Geistliche, aber auch in Russland ausgebildete Intellektuelle wie der tscherkessische Schriftsteller Pschemacho Kozew und Unternehmer wie der tschetschenische Ölkaufmann Tapa Tschermojew. In dem Militärführer der Weißen Armee, General Anton Denikin, der 1918 die Bergrepublik zerschlug, erblickt Ganieva gewisse Gemeinsamkeiten mit Alexej Nawalnyj, weil er ein freies, nicht totalitäres, dabei aber ungeteiltes Russland anstrebte.
Dabei sei ein demokratisches Russland ohne imperiale Ambitionen in seinen heutigen Grenzen undenkbar, findet Ganieva. Für sie ist der Kausalzusammenhang zwischen der Niederschlagung der tschetschenischen Unabhängigkeitsbestrebungen, die unter Putin abgeschlossen wurden, und dessen Errichtung eines gesamtrussischen Repressionssystems offensichtlich. Ganieva erinnert sich, wie sie Anfang der Neunzigerjahre, vor dem ersten Tschetschenienkrieg 1994, mit ihrem Vater Grosny besuchte und wie dieser von den vergleichsweise demokratischen Verhältnissen dort beeindruckt war. Der erste Präsident des unabhängigen Tschetscheniens, Dschochar Dudajew, war sowjetisch sozialisiert, Moskau hätte sich leicht mit ihm friedlich einigen können, ist sie überzeugt.
Doch das wollte selbst der demokratisch gewählte Präsident Jelzin nicht. Und als Putin dann sein Terrorsystem aufbaute, habe die russische Kulturelite nicht genug Widerstand geleistet. Daher sei sie mitschuldig am Ukrainekrieg, sagt Ganieva, wobei sie sich selbst mit einschließt – obwohl sie bis zu ihrer Ausreise mit großem Einsatz Mahnwachen abgehalten und Hilfe für politische Gefangene gesammelt hat. Aber letztlich fürchte die Intelligenzija sich vor Blut und Gefängnishaft, weiß die Ehefrau und Mutter. Das sichere Terrorsystemen wie dem chinesischen, dem belarussischen und dem russischen ein langes Leben.
Erstveröffentlichung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 13.2.2024, S. 9, unter dem Titel „Das Imperium muss zerfallen“ von Kerstin Holm.
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Fotos: © Maurice Weiss