Ausgabe 19 / April 2024
Der Klang von Kastanienblüten
von Manuela Lenzen
Giovanni Galizia, Neurobiologe und Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs, erforscht den Geruchssinn der Bienen, um das Gehirn besser zu verstehen
Steht im Umkreis eines Bienenstocks ein Kastanienbaum in voller Blüte, spricht sich das bei den Sammlerinnen schnell herum. Mit ihrem berühmten Schwänzeltanz machen sie ihre Schwestern auf die Nahrungsquelle aufmerksam. Manche Bienen allerdings fliegen gar nicht zu der empfohlenen Kastanie, sondern zu einer anderen. Damit geben sie Forscherinnen und Forschern einen Hinweis darauf, was in ihrem Kopf vor sich geht: Offenbar kennen die Bienen ihr Revier und die Bäume darin. Der Duft des Blütenpollens, der an einer tänzelnden Biene klebt, erinnert sie an Kastanien, an denen sie diesen schon einmal gefunden haben.
Giovanni Galizia, Professor für Zoologie und Neurobiologie an der Universität Konstanz und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg, erforscht den Geruchssinn von Honigbienen. „Geruchssinn im Sinne von Chemorezeption haben schon die Bakterien. Es gibt kein Tier, das keinen Geruchssinn hat“, erklärt er. „Doch obwohl der Geruchssinn in der Evolution der älteste Sinn ist, ist er uns fremd.“ In der Tat hat sich die Kognitionsforschung die längste Zeit auf das Sehen konzentriert, vermutlich, weil es für uns Menschen so zentral und auch leichter zu erforschen ist. Wir sehen Dinge und bezeichnen sie mit Wörtern: Da steht ein Kastanienbaum. Gerüche hingegen sind flüchtig, komplex, dynamisch und wir mit unserer Sprache schnell am Ende. Es duftet oder es stinkt oder es „riecht nach“: Im Grunewald riecht es an diesem ungewöhnlich warmen Februartag schon ein wenig nach Frühling.
Zudem ist der Geruchssinn von Menschen sehr unterschiedlich: „In meinen Vorlesungen verteile ich manchmal Düfte“, berichtet Galizia, „aber die Vielfalt der Duftwahrnehmung unter Menschen ist sehr groß. Da sind immer Zuhörer – oder sollte ich sagen Zuriecher? –, die sagen, das kann ich nicht riechen. Man hat erstaunlich wenig Kontrolle darüber, was die Leute wahrnehmen. Das ist ganz anders, als wenn man eine PowerPoint-Folie mit Bildern zeigt.“
Wenn nun aber das Riechen so ganz anders ist als das Sehen, kann es nicht ausreichen, das Sehen zu erforschen, wenn man verstehen möchte, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Vielleicht lässt sich anhand des Riechens noch mehr und anderes lernen. Galizia interessiert sich dafür, wie das Gehirn den Signalen, die die Sinnesorgane senden, Bedeutung zuschreibt. „Das Geruchssystem hat bei vielen Arten eine sehr ähnliche neuronale Struktur, doch die Bedeutung der Gerüche ist für sie ganz unterschiedlich“, erklärt der Forscher. „Ein Duft, der für eine Ameise ganz wichtig ist, kann für eine Biene völlig irrelevant sein, Bananengeruch ist für Bienen ein Alarmsignal, für Menschen ist er eher angenehm. Manche dieser Bedeutungen sind zudem erlernt, andere angeboren. Wie macht das Gehirn das?“
Die Honigbiene hat er sich ausgesucht, weil man ein so kleines Gehirn viel detaillierter beobachten kann als das Gehirn etwa des Menschen: „Bei den Bienen können wir einzelne Zellen betrachten, manchmal auch Teile von Zellen, bei den Menschen sehen wir selbst mit den besten bildgebenden Verfahren immer gleich eine Million Zellen auf einmal.“ Die Neurone von Fruchtfliegen könnte man freilich noch detaillierter betrachten, auch an diesen arbeitet Galizia. „Meine treibende Kraft ist die Neugierde, ich möchte verstehen, wie das Gehirn funktioniert und wie wir Informationen verarbeiten, aber in der Forschung treibt mich auch die Ästhetik. Und da ist die Biene der Fruchtfliege doch überlegen, das sind ganz tolle Tiere.“ Giovanni Galizia hat in Berlin Mathematik und Biologie studiert und in Cambridge in Zoologie promoviert. Die Faszination für die Mathematik hat dazu beigetragen, dass er sich auf Neurobiologie spezialisiert hat. „Mathematik und Neurowissenschaften, das passte für mich perfekt zusammen“, erklärt er.
Die Luft ist voller Moleküle und manche davon kann ein Organismus wahrnehmen. Dazu benötigt er Geruchsrezeptoren. Diese sind genetisch angelegt. Der Mensch hat etwa 350 verschiedene dieser Rezeptoren, die Honigbiene 150. Doch Mensch wie Biene können eine sehr viel größere Anzahl an Gerüchen wahrnehmen. „Das schafft das Gehirn über Kombinatorik“, erklärt Galizia. Denn an der Wahrnehmung eines Geruchs können verschiedene Rezeptoren beteiligt sein. „Wenn sich die beteiligten Rezeptoren ändern, ändert sich der wahrgenommene Geruch, dann wird aus Orangenduft vielleicht Zitronenduft.“ Alle möglichen Kombinationen von 150 Rezeptoren ergeben bereits eine größere Anzahl, als es Sandkörner auf der Erde gibt. Das sollte selbst für eine sehr empfindliche Nase reichen. Diese Kombinationen muss das Gehirn irgendwie „auslesen“, muss aus ihnen die Informationen gewinnen, die es braucht, damit die Biene die blühende Kastanie finden kann.
Obwohl Gerüche uns so flüchtig vorkommen, erzeugen viele von ihnen im Gehirn der Biene immer dieselben Muster. „Das ist so stabil, dass ich bei Düften, die wir oft testen, gleich erkennen kann, welchen Duft meine Mitarbeitenden den Bienen gegeben haben, wenn ich die Bilder der Gehirnaktivität auf dem Computer sehe“, so der Neurobiologe. Um zu verdeutlichen, wie es für das Gehirn sein könnte, etwas zu riechen, bringt Galizia eine weitere Modalität ins Spiel: Er übersetzt die Aktivität der Geruchsrezeptoren in Töne. „Die üblichen Bilder, mit denen die neuronale Aktivität visualisiert wird, sind ja statisch. Dass die Aktivierung in der Zeit stattfindet, muss man sich dazudenken“, erklärt er. „Und wenn man statt eines Bildes einen Film zeigt, dann macht es optisch kaum einen Unterschied, welche Areale gerade gleichzeitig aufleuchten.“ Aber wenn nun jeder aktive Rezeptor durch einen Ton dargestellt wird, ist jeder Geruch ein Akkord, der erklingt und wieder vergeht. Und wenn man für einen anderen Duft einen Ton durch einen anderen ersetzt, bekommt man einen anderen Akkord. „Aus Dur wird dann vielleicht Moll, das ist doch sehr intuitiv.“
Aber auch die Akkorde geben die neuronale Aktivität nur unvollständig wieder: „Die Düfte, etwa von Kastanienblüten, liegen ja in der Luft wie Rauchschwaden, und dort fliegt die Biene hindurch“, so Galizia. Statt in einzelne Akkorde müsste ihr Riechen also in eine Melodie, in eine Folge von Akkorden übersetzt werden. Wenn es nach Galizia ginge, müssten den wissenschaftlichen Publikationen nicht nur Bilddaten, sondern auch Soundfiles angehängt werden. Auf der Website seines Instituts kann man sich einige Gerüche anhören. Und auch die Fellows des Wissenschaftskollegs kamen schon in den Genuss: „Ich habe ihnen bei einem Kolloquium ein paar Gerüche auf dem Klavier vorgespielt“, berichtet Galizia, „die Akkorde finde ich immerhin“ – eigentlich spielt er Gitarre und Saxofon.
Die Kombinatorik der Rezeptoren ist noch längst nicht alles, was die Evolution ausgetüftelt hat, damit die Biene mit ihren beschränkten Mitteln so gut riechen kann. „In der Forschung herrscht da keine rechte Einigkeit, aber es scheint so zu sein, dass das Riechsystem zudem noch auf zwei Ebenen funktioniert: Bei einer sehr geringen Konzentration eines Duftstoffes reagieren bestimmte Rezeptoren ganz spezifisch auf bestimmte Moleküle. Wenn aber eine höhere Konzentration von Molekülen vorhanden ist, reagieren dieselben Rezeptoren zusätzlich auf eine andere Weise. Die Rezeptoren fragen sozusagen gleichzeitig: Welches ganz spezifische Molekül ist da? Und: Was weht hier sonst noch so herum?“ So kann ein Organismus sehr empfindlich auf die Gerüche reagieren, die für ihn besonders wichtig sind. Bei Fruchtfliegen ist das etwa ein bestimmter Modergeruch. Hier reichen schon einzelne Moleküle aus, um die Rezeptoren zu aktivieren. Bei Mücken ist es CO2: Da atmet jemand, nichts wie hin! Menschen können CO2 gar nicht riechen, dafür sind sie sehr gut darin, Rauch wahrzunehmen: Vorsicht, es brennt! „Wie das alles genau funktioniert, ist noch längst nicht verstanden“, so Galizia. Sicher ist, dass unser Gehirn, so wie das Gehirn der Bienen, eher einer komplexen Geruchssymphonie lauscht als einer einfachen Melodie.
Als Galizia 2019/2020 als Fellow am Wissenschaftskolleg war, in dem Jahrgang, der normal begann und dann von der Coronapandemie ausgebremst wurde, erforschte er, ob Bienen träumen. Man weiß, dass sie schlafen und ihre Gehirne auch im Schlaf aktiv sind, das ist bei allen Tieren so. Im Gehirn der schlafenden Biene beobachten die Forscher und Forscherinnen verschiedene Aktivitätsmuster. Und in manchen erkennen sie Duftmuster wieder. Aber heißt das, dass die Biene dann gerade von einer blühenden Kastanie träumt? „Das wissen wir nicht“, sagt Galizia. „Wir können sie ja nicht fragen, es könnte ja auch sein wie bei einem Orchester, wenn die Musiker vor dem Konzert die Instrumente stimmen. Da kommt dann auch mal ein bekannter Akkord zustande, aber es ist Zufall.“ Bei Hunden oder Katzen kann man an den Bewegungen, die sie im Schlaf machen, erkennen, dass sie träumen. Dass die Bienen schlafen, erkennen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aber nur daran, dass sie sich nicht bewegen. Wenn die Biene sich bewegt, gehen sie davon aus, dass sie wach ist. „Wir kennen noch kein physiologisches Kennzeichen des Schlafs“, so Galizia. „Das müssten wir aber haben, um zu entscheiden, ob Bienen träumen.“
Seit September 2022 ist Giovanni Galizia Permanent Fellow und in dieser Rolle auch mit der Auswahl der kommenden Fellows befasst. „Eigentlich ist das eine unlösbare Aufgabe“, berichtet er. „Wir sichten die Bewerbungen und Empfehlungen und müssen nicht nur die besten und interessantesten Forscherinnen und Forscher aussuchen, sondern wir versuchen vorherzusagen, welche 40 Menschen eine spannende Gruppe bilden werden.“ Was die Kriterien sind? „Ganz wichtig ist, dass man selbst von einer Bewerbung begeistert ist und es gelingt, sie auch für die anderen in der Auswahlgruppe und für den Wissenschaftlichen Beirat überzeugend zu machen. Das ist es ja, was das Wissenschaftskolleg ausmacht: eine Gruppe von hochkarätigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die sich gegenseitig begeistern können für das, was sie tun.“
Als Permanent Fellow kommt Galizia mehrmals im Jahr nach Berlin, um die Fellows und ihre Arbeit auch kennenzulernen. Neben seiner Forschung leitet er zudem das Zukunftskolleg der Universität Konstanz, das junge Forscherinnen und Forscher nach der Promotion unterstützt. Sie tauschen sich in einer interdisziplinären Gruppe über ihre Projekte, aber auch über ihre Karriereschritte und -erfahrungen aus. „Die Zeiten des durchgängigen Einzelkämpfertums nach der Promotion sind vorbei, die Universitäten sehen inzwischen, dass sie hier eine wichtige Verantwortung haben“, so Galizia. Nicht ganz zufällig hat das Zukunftskolleg manche Ähnlichkeit mit dem Wissenschaftskolleg, bei der Gründung hat man sich ausgetauscht. „Auf jeden Fall profitieren meine Tätigkeiten an beiden Institutionen voneinander.“
In seinem Konstanzer Labor steht derweil das nächste Riechprojekt in den Startlöchern: die Erforschung des Hygieneverhaltens von Bienen. „Bei den Bienen ist das angeborene Immunsystem sehr stark reduziert, vermutlich, weil der Stock ein ausgeprägtes Hygieneverhalten zeigt. Die Bienen sammeln antibiotische Stoffe aus der Umgebung, sie reinigen Oberflächen und sie isolieren kranke Tiere. Wir konzentrieren uns darauf, welche Rolle der Geruchssinn dabei spielt.“ Auch dieses Projekt dient Galizias beiden Forschungszielen: die faszinierenden Tiere besser zu verstehen und die Arbeitsweise des Gehirns zu entschlüsseln.
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Fotos: © Maurice Weiss