Ausgabe 19 / März 2024
„Ich idealisiere Solidarität nicht“
Matthias Pfeffer
Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack beschäftigt sich mit der Rolle der Solidarität in zeitgenössischen Gesellschaften. Im Gespräch mit dem Journalisten Matthias Pfeffer erläutert sie ihre Forschung zum Thema Datensolidarität in Zeiten des digitalen Umbruchs
Matthias Pfeffer: Wir wollen über Solidarität sprechen, über Ihren Ansatz der Datensolidarität und die Bedeutung, die sie bei unserem künftigen Umgang mit digitalen Industrien oder der Digitalisierung an sich haben kann, und vor allen Dingen auch mit der Digitalisierung im Zeitalter künstlicher Intelligenz. Mir scheint, zumindest hier bei uns geht es gar nicht mehr ohne. Lassen Sie mich daher gleich mit einer Frage beginnen. Der Soziologe Émile Durkheim hat zwischen mechanischer Solidarität und organischer Solidarität unterschieden. Verkürzt bedeutet das, die mechanische Solidarität beruht auf vorgegebenen gemeinsamen Merkmalen einer Gruppe, zum Beispiel wir Arbeiter, wir Frauen, wir Deutsche, während bei der organischen Solidarität das Angewiesensein und natürlich auch das Gefühl für die Angewiesenheit aufeinander die Basis darstellt. Ist das eine Definition, mit der Sie heute auch noch etwas anfangen können?
Barbara Prainsack: Man kommt, wenn man sich mit Solidarität beschäftigt, um Durkheim nicht herum, weil er als einer der ersten Denker eine umfassende Theoretisierung der Solidarität vorgelegt hat. Sein Werk hat allerdings viel Kritik erfahren. Und in heutigen Debatten wird es häufig verkürzt dargestellt. Für Durkheim markierte der Übergang von mechanischer zu organischer Solidarität das sich verändernde Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft mit der voranschreitenden Arbeitsteilung, der Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Solidarität geht dabei dem sich herausbildenden Individuum voraus. Das ist etwas, was heute oft vergessen wird, auch weil ein prominenter Teil der Solidaritätsliteratur im englischen Sprachraum sehr stark einem individualistischen Weltbild verhaftet bleibt. Es ist ein Weltbild, bei dem man davon ausgeht, dass es unabhängige Individuen gibt, die sich frei entscheiden, solidarisch zu sein oder nicht. Durkheim sah das anders – wie auch ein großer Teil der feministischen und überhaupt der nichtwestlichen Ansätze. Sie gehen davon aus, dass die Identitäten und Interessen von Menschen durch ihre Beziehungen zu anderen geformt werden. Unsere Beziehungen konstituieren uns. Das sind zwei völlig unterschiedliche Herangehensweisen, menschliches Handeln zu verstehen: einerseits individualistisch, andererseits relational. Und diese unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt sind ein wichtiger Hintergrund für unterschiedliche Verwendungen des Solidaritätsbegriffs. Für individualistische Ansätze ist Durkheim in meinen Augen nur beschränkt nützlich. Gleichzeitig ist er aus der Geschichte des Solidaritätsbegriffs nicht wegzudenken. Durkheim hat sich ja bei der mechanischen Solidarität auf wenig arbeitsteilige Gesellschaften in Dorfgemeinschaften bezogen, als das Leben vieler Menschen synchron verlaufen ist, als die Menschen mehr oder weniger mit dem Sonnenaufgang aufgestanden sind, mit dem Sonnenuntergang schlafen gegangen sind. Zusammenhalt kam durch Homogenität und Gleichklang. Es gab vieles, was Menschen einte: die Sorge um das Wetter, um die nächste Ernte. Es gibt heute in sehr wenigen Kontexten, zumindest in der westlichen Welt, noch Gemeinschaften, wo so große Teile des Lebens so synchron verlaufen und wo man so viele Dinge mit anderen teilt. Wenn überhaupt, ist Durkheims organische Solidarität auf heutige Gesellschaften stärker anwendbar: In stark arbeitsteiligen und stark ausdifferenzierten Gesellschaften ist Solidarität kein „Normalzustand“ mehr. Sie kommt durch gegenseitige Abhängigkeit, und sie ist gleichzeitig auch etwas, das immer neu erarbeitet werden muss. Für Durkheim – und viele andere Denkerinnen und Denker nach ihm – mussten andere Bedingungen erfüllt sein, um Solidarität möglich zu machen. Wie etwa Gerechtigkeit. Ohne ein Mindestmaß an Gerechtigkeit sei Solidarität nicht möglich. Bis heute ist das Verhältnis zwischen Solidarität und Gerechtigkeit ein wichtiges Thema in der Literatur. Auch ich gehe in dem Buch, an dem ich hier am Wissenschaftskolleg arbeite, darauf ein – insbesondere vor dem Hintergrund des Zeitalters der multiplen Krisen, die heute vielfach konstatiert werden.
MP: Ich verstehe genau, was Sie sagen, weil ich selbst vom Dorf komme und den jahreszeitlichen Rhythmus erlebt habe. In gewisser Weise leben wir ja heute im globalen Dorf, wenn man die Metapher von McLuhan verwenden will. Was unterscheidet jetzt unser globales Dorf wirklich von dem Dorf, in dem diese Einbettung noch so funktioniert hat wie zu Durkheims Zeiten?
BP: Dass wir heute zu unterschiedlichen Zeiten andere Dinge machen. Wir wissen, dass Synchronität solidaritätsstiftend sein kann. Was unsere Tagesabläufe bestimmt, ist heute meist nicht mehr das Licht oder das Wetter, sondern unsere Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber und unsere soziale und ökonomische Position. Zudem sind wir mobiler geworden, wir bewegen uns schneller durch den Raum – und in mancher Hinsicht auch durch die Zeit. Die Zeit ist heute in gewisser Weise verdichtet. Natürlich gibt es auch heute Synchronitäten, die solidaritätsstiftend sind, aber diese sind heute andere als früher. Damit sind auch andere Solidaritätstheorien wichtiger geworden, wie etwa die Arbeiten von Jodi Dean oder Carol Gould. Sie beschäftigen sich mit der Frage, was Menschen, die einander in vielerlei Hinsicht fremd sind, verbindet. Oder die Forschung von Caesar Atuire, die zu Fragen der Weltgesundheit maßgeblich geworden ist.
MP: Bevor wir zu denen kommen, trotzdem noch mal die Frage: Wie kann, wenn eine gewisse Atomisierung der Gesellschaft attestiert werden muss – und da spricht man wohl mit Andreas Reckwitz von der Gesellschaft der Singularitäten –, Solidarität dort noch eine Rolle spielen? Oder besser, welche Rolle spielt sie in einer unter anderem durch die Digitalisierung stark individualisierten Gesellschaft?
BP: Hier gibt es keine allgemeingültige Antwort, sondern große regionale Unterschiede. Ich unterscheide in meiner Arbeit zwischen drei Ebenen der Solidarität. Die erste Ebene ist die interpersonelle Ebene. Solidarität auf dieser ersten Ebene findet statt, wenn ein Mensch einen anderen Menschen oder eine Gruppe von Menschen unterstützt, weil er sich mit ihnen auf irgendeine Weise verbunden fühlt. Wenn dann diese gegenseitige Hilfe innerhalb einer Gruppe zur normalen Praxis wird, dann ist dies Solidarität auf der Ebene 2. Und wenn die Solidarität sich in rechtlichen, bürokratischen, administrativen oder auch bindenden sozialen Normen manifestiert, dann haben wir institutionalisierte Solidarität – Ebene 3. Je nachdem, über welche Ebene wir sprechen, gibt es also unterschiedliche Antworten auf Ihre Frage. In sehr stark individualisierten westlichen Gesellschaften ist es auf der Ebene 1, also auf der interpersonellen Ebene, heute oft schwieriger geworden, solidarisch zu sein. Denn Solidarität bedeutet ja letzten Endes, dass man diejenigen unterstützt, mit denen man sich in irgendeiner Weise verbunden fühlt. Und das Sich-verbunden-Fühlen ist leichter in einer Gesellschaft, in der man viele gemeinsame Bedürfnisse und Interessen hat, weil man ähnliche Tagesabläufe, Werte oder andere offenkundige Gemeinsamkeiten hat. Der politische Diskurs spielt hier auch eine wichtige Rolle. Wenn man in einer Gesellschaft lebt, in der ständig die Unterschiede zwischen Menschen betont werden, in der eine Gruppe gegen die andere ausgespielt wird, ist es schwieriger, Gemeinsamkeiten zu erkennen, als in einer Gesellschaft, in der Gemeinsamkeiten im Vordergrund stehen. In der also – trotz aller Unterschiede, die es zwischen Menschen unweigerlich gibt – Institutionen darauf ausgerichtet sind, das zu schützen und zu stärken, was alle gemeinsam haben – wie etwa im Gesundheitssystem, das im Konzept davon ausgeht, dass wir alle irgendwann von Krankheit betroffen sind und Hilfe brauchen. Auf der Ebene 3, der institutionalisierten Ebene, haben wir natürlich in Kontinentaleuropa und auch einigen anderen Regionen, in denen es auf Solidarität basierende soziale Sicherungssysteme gibt, eine völlig andere Situation als in Ländern ohne wohlfahrtsstaatliche Institutionen. Solidarische Institutionen sind jene, zu denen Menschen beitragen, wie sie können, und Unterstützung erhalten, wie sie sie brauchen. Das „Bauprinzip“ solidarischer Institutionen ist indirekte Reziprozität, nicht direkte Reziprozität: Das unterscheidet solidarische Gesundheitssysteme von privaten Versicherungssystemen, in denen sich die Beiträge sehr wohl nach versicherungsmathematisch berechneten individuellen Risikokalkulationen richten. Öffentliche Gesundheitssysteme sind solidarische Institutionen, die ebenfalls auf einer Gemeinsamkeit basieren: nämlich der Gemeinsamkeit, dass wir alle irgendwann einmal krank werden und irgendwann Unterstützung brauchen. Länder, die solche Sozial- oder Wohlfahrtssysteme nicht ausgebildet haben, haben zum Teil andere, nichtstaatliche, aber dennoch institutionalisierte Formen des gegenseitigen Beistands entwickelt. Wichtig ist auch festzuhalten: Jedes Innen hat ein Außen. Jede Form der institutionalisierten gegenseitigen Unterstützung hat Zutrittsbarrieren, die auch diskriminierend sein können: wenn etwa Menschen, die nicht das „richtige“ Geschlecht, die „richtige“ Staatsbürgerschaft oder die „richtige“ Religion haben, ausgeschlossen werden. Ich idealisiere Solidarität nicht: Sie ist nicht immer gut. Das ist ein wichtiger Punkt. Bei der moralischen Bewertung der Solidarität – und der Frage, wie politisch wünschenswert sie sein kann – ist die Frage sehr wichtig, anhand welcher Kriterien über Ein- und Ausschluss entschieden wird – und wer die Kriterien letzten Endes festsetzt.
MP: Wir haben aber nicht nur diese beiden Systeme – europäischer Wohlfahrtsstaat und libertärer Freiheitsstaat. Wie steht es mit dem dritten großen System, dem chinesischen beziehungsweise asiatischen, das ein kollektiveres System ist als das amerikanische, auch ein auf eine negative Art kollektiveres System als das europäische? Der Philosoph Zhao Tingyang hat anlässlich einer Vorstellung seines Buches Alles unter dem Himmel einmal gesagt, der Westen sitze in einer Egofalle. Eine knackige Aussage, denn vieles, was wir jetzt besprochen haben – die Individualisierung, die Atomisierung –, führt natürlich auch im Denken in gewisser Weise in eine Egofalle. Heute ist vielleicht das Internet die soziale Struktur, nicht das Dorf oder die Stadt. Das Internet ist ja auch mit diesem Versprechen angetreten, alles mit allem zu verbinden. Wäre das im besten Falle auch so eine Solidarität der zweiten Ebene – bei gleichzeitigem Höchstmaß an scheinbarer individueller Autonomie? Denn diese Verbindungen, die man da eingeht, sind ja alle sehr unverbindlich. Auch im Unterschied wiederum zu einem sehr geschlossenen traditionellen Solidarsystem, wo Sie ja auch beobachtet werden, ob Sie auch den allgemeinen Vorgaben entsprechen. Im Internet beherrschen dies vor allem die großen Plattformen, mit sehr problematischen ökonomischen Datennutzungsmodellen dahinter. Sie treten teilweise an die Stelle der Institutionen, die das nicht mehr leisten können. Haben wir dort einen Ort von scheinbarer Solidarität oder teilweise echter Solidarität? Es gibt ja auch gute Phänomene, zum Beispiel Mikrokredite, Crowdfunding, Protestbewegungen wie den Arabischen Frühling und so weiter.
BP: Ja, durchaus. Formale Institutionen sind nicht der einzige Bereich, wo Solidarität geübt wird. Es gibt weiterhin natürlich viel Solidarität auf der ersten Ebene, von Mensch zu Mensch, außerhalb formaler Institutionen. Das findet heute online oder offline statt. Wir haben keine Hinweise darauf, dass die Solidarität von Mensch zu Mensch in individualistischen Gesellschaften seltener stattfindet als in weniger individualistischen Gesellschaften. Sie hat andere Bezüge: Das können neue Synchronitäten sein, neue Referenzen, neue gemeinsame Praktiken. Ich bin eine Gegnerin eines digitalen Exzeptionalismus in unserem Denken über Solidarität – also der Idee, dass jetzt, wo viele von uns digitale Technologien verwenden, alles radikal anders ist. Digitale Technologien werden von vielen Menschen häufig dazu eingesetzt, das zu tun, was sie ohnehin tun möchten: ihre Verbindung zu anderen zu pflegen oder auch ihrer Ablehnung anderer Ausdruck zu verleihen. Digitale Technologien modifizieren solidaritätsstiftende oder solidaritätshindernde Praktiken eher, als dass sie sie radikal verändern. Also hier würde ich die digitale Domäne eher als komplementär zu anderen Handlungsräumen sehen. Gleichzeitig ist es schon ein Problem, dass wir heute öffentliche Räume haben, die von kommerziellen Akteuren und Akteurinnen dominiert werden, die Geld damit verdienen, wenn Menschen Fake News und Hass teilen. Krasse Bilder und bizarre Geschichten bringen und halten mehr Leute auf den Plattformen und bringen damit mehr Profit als respektvoller Austausch und nuancierte Information. Die Lösung dafür ist die Schaffung öffentlicher digitaler Räume, die im öffentlichen Eigentum stehen und demokratisch kontrolliert werden können – und nicht einfach mehr Contentmanagement.
MP: Sie kommen also nicht darum herum, dass am Ende jemand die Ordnung festlegen und legitimieren muss, unter der dann Gemeinschaftlichkeit gelebt werden soll. Hier könnte man doch tatsächlich noch einmal den Gedanken eines dritten Weges in Europa gegen den amerikanischen Individualismus und den chinesischen Kollektivismus diskutieren. Ein System, in dem Gemeinschaftlichkeit, Verbundenheit und Selbstbestimmung und Autonomie gleichermaßen relevant sind und eine Rolle spielen. Das würde sich dann natürlich auch in Gesetzgebungsverfahren zeigen. Sehen Sie so etwas als Möglichkeit, als Chance?
BP: Ja, aber ich bin mit der Prämisse ein bisschen unglücklich, weil ich glaube, dass die Zuschreibungen „individualistisch“ und „kollektivistisch“, auch wenn sie als Tendenz stimmen, doch sehr homogenisierend sind und eigentlich unseren Blick darauf verstellen, wie viel Heterogenität es auch in den USA, in China gibt. Es gibt gerade auch in den USA sehr viele solidarische Bewegungen. Es gibt in China vieles, was diesem Klischee des Kollektivismus entgegenläuft, aber das ist sozusagen nur die Prämisse. Die Schwierigkeit oder die Kernfrage ist: Wer hat das Zepter in der Hand? In China, würde ich sagen, ist es nicht nur der Staat oder die Partei, sondern sind es auch einige große Technologiekonzerne, und zwar in einer komplexen Konfiguration. Die Verquickung von unternehmerischer Macht und staatlicher Macht findet sich auch in den USA, auch wenn sie dort nach anderen Werten funktioniert und in völlig anderer Form erscheint. Es ist sogar in Europa so, dass es eine Allianz zwischen öffentlichen Behörden und Regulierungsinstanzen und Unternehmensinteressen gibt. Was ich mir allerdings vom europäischen Gesetzgeber wünschen würde, ist, dass der aus diesem Fair-Market-Competition-Rahmen etwas aussteigt und wirklich versucht, größere demokratische Kontrolle über digitale Technologien und Infrastrukturen herzustellen. Und dazu gehört, dass man auch öffentliches Eigentum schafft, dass man investiert in Technologien und Infrastrukturen, die im öffentlichen Eigentum sind und unter demokratischer Kontrolle stehen. Das ist aktuell zum Beispiel bei Large Language Models (LLMs), also maschinellen Lernprogrammen, die Texte generieren und mit Menschen „kommunizieren“ können, sehr, sehr wichtig, glaube ich. Denn wenn wir diese LLMs oder andere vielseitig einsetzbare KI als kritische Infrastrukturen sehen, dann ist es eigentlich erstaunlich, dass es hier so wenig öffentliche Investitionen gibt, dass so viele Staaten sagen, okay, wir benutzen einfach Technologien, die privaten Anbietern gehören, die wir nicht kontrollieren und die wir auch nicht verstehen. Ich bin Vorsitzende der Europäischen Gruppe für Ethik. Das ist ein ständiges Beratungsgremium der Europäischen Kommission. Wir haben im letzten Jahr eine Stellungnahme zur Demokratie im digitalen Zeitalter veröffentlicht, in der wir genau das hervorgehoben haben: dass nämlich immer mehr öffentliche Institutionen bei der Erfüllung öffentlicher Aufgaben zunehmend auf Technologien zugreifen, die im Eigentum quasimonopolistischer Großkonzerne stehen. Damit geht öffentliche Expertise, aber auch demokratische Kontrolle verloren. Wir geben immer mehr Kontrolle über wesentliche Technologien und Infrastrukturen auf. Und das sehe ich als einen Aspekt, den auch die europäischen Gesetzgeber nicht ausreichend im Blick haben, zum Teil, da sie selbst im Fair-Market-Competition-Rahmen verhaftet sind. Und der sieht diese Infrastrukturebene zu wenig, würde ich sagen. Wie schätzen Sie das ein?
MP: Ich schätze das ähnlich ein. Es heißt ja immer, dass der AI Act das erste umfassende Gesetzgebungsverfahren weltweit ist. Das stimmt auch. Es ist allerdings nicht das erste gesetzliche Rahmenwerk überhaupt, denn auch die Chinesen haben sehr strenge Detailgesetze erlassen. Aber das Interessante ist, dass diese Gesetze vor allen Dingen den Staat vor den Bürgern schützen. Das heißt, die Unternehmen werden ganz strikt beaufsichtigt, wenn ihre KI irgendetwas tut, das die staatliche Ordnung gefährdet, während die Rechte der einzelnen Bürger natürlich keine Rolle spielen. Das ist eine KI-Regulierung, wie wir sie uns hier nicht wünschen sollten.
BP: Nein.
MP: Man darf diese ganze Diskussion wohl nicht ohne die Machtfrage überhaupt führen. Denn mit diesen digitalen Plattformen vollzieht sich eine zunehmende Asymmetrisierung der Macht zugunsten dieser großen Entscheidungsserver. Und das wird jetzt im KI-Zeitalter noch verschärft, weil bei KI ein doppeltes Problem ungelöst ist. Der amerikanische KI-Experte Stuart Russell spricht vom Kontrollproblem. Er meint damit das technische Kontrollproblem von Maschinen, die sich selbst verändern, während sie etwas tun, und uns das Geheimnis dessen, was sie da getan haben, erst später preisgeben. Dieses Blackbox-Thema, sagt er, könne uns über den Kopf wachsen. Das hat auch schon Alan Turing, der Pionier der künstlichen Intelligenz, so gesehen. „Hat die Methode maschinellen Denkens einmal begonnen, wird sie wahrscheinlich nicht lange brauchen, um unsere beschränkten Fähigkeiten zu übertreffen“, war seine Prognose er1951 in einem Beitrag für die BBC. Turings Schlussfolgerung: „Früher oder später, so müssen wir folglich annehmen, würden die Maschinen die Kontrolle übernehmen.“ Wir haben aber auch das politische Kontrollproblem: Die KI ist in den Händen von einigen wenigen großen Unternehmen weltweit und wird dort im Sinne ihrer Interessen eingesetzt. Es ist für mich rätselhaft, warum wir in der Demokratie die Mittel, die wir zum Beispiel für die Zerschlagung von Monopolen entwickelt haben, in der Telekommunikation, früher im Stahlbereich und so weiter, dass wir die jetzt ausgerechnet in dieser hochsensiblen Informationstechnologie, wo es ja auch um unsere individuelle Selbstbestimmung geht, nicht einsetzen.
BP: Es geht um unser geistiges Eigentum.
MP: Unser geistiges Eigentum, aber auch unser Geistesleben. Alles wird verlagert und wird dort vermachtet, möchte ich sagen. Und das kann uns, das kann einer Demokratie nicht egal sein, denn die Demokratie basiert ja auf dem Zugang zu freier Information, die die Basis ist für freie Meinungsbildung. Und die Meinungsbildung mündet in einer freien Wahl und damit wird die Macht legitimiert in der Gesellschaft. Das ist das deliberative Modell von einer Demokratie, das extrem gefährdet ist, wenn die Informationsversorgung und Meinungsbildung derart vermachtet und intransparent und monopolisiert ablaufen, wie das bei uns gegenwärtig in der digitalen Welt der Fall ist. Wir sollten hier die Institutionen, allen voran die Europäische Kommission und das Europäische Parlament, viel mehr auffordern, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Und wir müssen selbst aktiv gestalten. Da sind wir bei dem Thema Datensolidarität. Wenn wir also eine Gestaltung dieser Technologie nach Gemeinwohlgrundsätzen vornehmen würden, könnten wir sehr viel Potenzial heben, das jetzt zwar allgemein beschworen, aber immer nur im Dienste von großen Unternehmen umgesetzt wird und das uns helfen würde, das Leben in freien, demokratischen Gesellschaften zu verbessern.
BP: Sie haben vollkommen recht. Es geht nicht nur um Regulieren im Sinne von Grenzen ziehen, sondern auch um Gestalten. Wir brauchen natürlich auch viele andere Dinge. Wir brauchen mehr öffentliche Investitionen in Forschung, Technologie, Ausbildung, die dann nicht einfach an große Konzerne weitergegeben, verschenkt oder verkauft werden, sondern im öffentlichen Eigentum und unter demokratischer Kontrolle verbleiben. Das ist wichtig. Und was die Datensolidarität versucht, das ist eigentlich ein Daten-Governance-Ansatz, der dafür sorgt, die Risiken und den Nutzen, die aus digitalen Praktiken entstehen, in unserer Gesellschaft und auch global gerechter zu verteilen. Es ist heute so, dass digitale Praktiken massive Vorteile schaffen, aber hauptsächlich für die, denen es ohnehin schon gut geht, während andere die Kosten tragen. Datensolidarität versucht sowohl den Nutzen als auch die Risiken gerechter zu verteilen. Wie versucht sie das? Sie steht auf drei Säulen. Zunächst soll die Datennutzung dort einfacher gemacht werden, wo sie verspricht, großen öffentlichen Wert zu generieren. Dazu braucht es Ausnahmen von Regulierungsmaßnahmen und auch öffentliche Förderung. Die zweite Säule der Datensolidarität versucht, Schäden zu vermeiden – indem man etwa Praktiken mit hohen Risiken für Menschen oder ganze Gruppen effektiv verbietet. Und dort, wo man Schäden nicht vermeiden kann, gilt es, Schäden zu lindern. Viele Menschen, die heute durch Datennutzung zu Schaden kommen, haben keinen Zugang zu Rechtsmitteln – etwa weil sie nicht nachweisen können, wer den Schaden verursacht hat. Solche Menschen müssen niederschwellig Zugang zu Unterstützung bekommen, überall in der Welt. Das ist nicht dasselbe, wie Risiken zu reduzieren, sondern eine zusätzliche Ebene des Schutzes für Menschen. Und die dritte Säule der Datensolidarität ist die, dass man sagt, dort, wo kommerzielle Profite erzielt werden mit Daten – was an sich legitim ist –, da müssen diese Profite in einem größeren Ausmaß, als es heute der Fall ist, mit den Menschen und den Communities geteilt werden, von denen diese Daten kommen. Also hier muss es mehr und besseres Teilen der kommerziellen Profite geben. Im Großen und Ganzen geht es auch darum, eine stärkere Orientierung auf öffentlichen Wert herzustellen. Mit Kolleginnen und Kollegen unter anderem aus meiner Forschungsgruppe an der Universität Wien haben wir zu diesem Zweck auch ein Online-Tool geschaffen, das jeder Person – Bürgerin, Firma oder Behörde –, die wissen möchte, wie hoch der öffentliche Wert einer bestimmten Datennutzung ist, dabei hilft, diese zu bestimmen. Der öffentliche Wert ergibt sich, ganz grob gesagt, aus der Abwägung von Nutzen und Risiken für bestimmte Menschen und Gruppen. So kommen wir weg von einer binären Bewertung, ob etwas im öffentlichen Interesse ist oder nicht. Es gelingt wirtschaftlich starken Akteurinnen und Akteuren immer wieder zu argumentieren, dass alles, was sie tun, im öffentlichen Interesse ist. Der Übergang von öffentlichem Interesse hin zu einer nuancierteren Beurteilung des öffentlichen Wertes macht es schwieriger, das System zu manipulieren.
MP: Das ist sehr überzeugend. Und es wird in Teilen ja auch schon von der Europäischen Kommission so gesehen. Kann man hier nicht auch mit dem Begriff der Technologiefolgenabschätzung arbeiten? Eigentlich ein klassischer Begriff aus der Hochrisikotechnologie der Atomkraft. Wir müssen Technologiefolgenabschätzung machen für das, was da entwickelt und auf die Märkte gelassen wird, häufig als unreifes Produkt. Was wir in der chemischen oder pharmazeutischen Industrie nicht tun würden, tun wir in der digitalen Industrie; es werden Produkte auf den Markt gelassen, die völlig offen sind und weiterentwickelt werden können. Schauen Sie sich OpenAI an als das letzte Beispiel dafür. Eine unfertige generative KI einfach auf die Menschheit loszulassen, ist eine hochriskante Praxis; wir müssen uns viel stärker dafür sensibilisieren, dass die Folgeschäden, die geplanten, aber auch die ungeplanten sozialen und menschlichen Folgen von solchen Technologien enorm hoch sind und wir deshalb höhere Standards bei der Sicherheit einziehen müssen. Im Übrigen ist man ja heute im digitalen Diskurs binär. Es ist nur immer Plus und Minus und unser Denken wird auch langsam so. Wir können aber Grautöne mitdenken, wir können differenzieren, viel mehr als die Maschinen das können, wir können auch reflektieren und kritisieren und das machen wir viel zu wenig. Wenn ich als gelernter Journalist auf den Informationsmarkt blicke, dann wünsche ich mir, dass wir dieses Denken auch zur Anwendung bringen, um eine nachhaltige Versorgung mit vertrauenswürdigen Informationen und Nachrichten für die Bürger in der Demokratie sicherzustellen. – Ich will aber zum Abschluss unseres Gespräches noch ein zweites Thema anschneiden. Ich nenne noch mal einen Soziologen beziehungsweise Philosophen, der auch sehr stark an Durkheim anknüpft. Jürgen Habermas hat Solidarität mal folgendermaßen definiert: Wer sich solidarisch verhält, nimmt im Vertrauen darauf, dass sich der andere in ähnlichen Situationen ebenso verhalten wird, im langfristigen Interesse kurzfristig Nachteile in Kauf. Das, finde ich, ist auch eine sehr schöne Definition. Und besonders gefällt mir an dieser Definition das Wort Vertrauen.
BP: Genau das ist wichtig.
MP: Das ist das wichtige Scharnier der Gesellschaft. Aber wir scheinen dieses Vertrauen zu verlieren. Parteien, Organisationen, Gewerkschaften, Kirchen: Alle verlieren Mitglieder. Immer weniger Menschen möchten sich in solchen Institutionen auch engagieren. Wie können wir das wechselseitige Vertrauen in Zukunft sicherstellen?
BP: Man kann das Vertrauen sicherstellen, indem diese Institutionen, die Vertrauen genießen, ihre Werte nicht aufgeben. Ein klassisches Beispiel, um das ganz greifbar zu machen, ist das britische Gesundheitssystem, der National Health Service. Es gibt wahrscheinlich wenige Institutionen auf der Welt, die mehr Vertrauen genossen haben als der NHS. Wenn diese Institution, die bei ihrer Gründung paradigmatisch für institutionalisierte Solidarität stand, jetzt aber aufgrund mangelnder Finanzierung von innen her ausgehöhlt wird und beginnt, Patientendaten zu verkaufen, dann hat das fatale Auswirkungen auf die Solidarität, weil eine Institution, die als Inbegriff der Solidarität gilt, plötzlich ihr Gesicht und ihre Werte verändert, ohne dass irgendjemand offen sagt: Achtung, wir sehen Daten jetzt nicht mehr als etwas, was im moralischen Sinne den Patientinnen oder Patienten gehört, sondern als wirtschaftliches Asset, das wir an Technologiekonzerne weitergeben. Diese stille Aushöhlung der Institutionen gibt es auch in Wohlfahrtsstaaten. Wenn wohlfahrtsstaatliche Institutionen und soziale Sicherungssysteme nicht mehr in erster Linie als Unterstützung in Erscheinung treten, sondern schlussendlich als Disziplinierungs- und Bestrafungsagenturen, dann schädigt dies das Vertrauen in solidarische Institutionen. Wenn jedoch Menschen darauf vertrauen, dass sie Unterstützung erhalten, wenn sie sie brauchen, dann ist es auch leichter für sie, Solidarität zu üben. Es ist aber auch ganz klar, dass, wenn man mit dem eigenen Überleben im Wortsinne oder im übertragenen Sinne beschäftigt ist, man dann oft auch gar keine Zeit und keine Möglichkeit hat, für andere zu sorgen. Gute soziale und wirtschaftliche Absicherung von Menschen ist keine hinreichende Bedingung für Solidarität, aber eine notwendige, damit Solidarität stabil bleibt. Was ich jetzt oft als Gegenargument höre, ist, dass Krisen so viel Solidarität schaffen. Gerade unter den schlimmsten Umständen seien die Menschen am solidarischsten. Ja, aber das funktioniert nur kurz. Jede Krise, jede Tragödie, die sehr lange andauert – das hat man auch in der Pandemie gemerkt –, ist für die Leute sehr schwierig. Es ist für alle sehr, sehr schwierig, dieses hohe Maß an Unterstützung für andere und dieses ständige Nach-außen-gerichtet-Sein und Sich-verständigen-Müssen auf die Dauer aufrechtzuerhalten, wenn man selbst mit dem eigenen emotionalen, wirtschaftlichen oder sogar physischen Überleben beschäftigt ist. Daher auch hier: Gute wirtschaftliche, soziale und auch sonstige Unterstützung für Menschen ist eine wichtige Vorbedingung, damit Solidarität stabil sein kann.
MP: Und die Kontrolle und die Transparenz dieser Institutionen sind, denke ich, genauso wichtig in einem demokratischen Prozess. Ich würde nur noch eine Kleinigkeit ergänzen wollen, wenn wir bei Habermas sind, dem Denker der Öffentlichkeit. Ich würde mir wünschen, dass in diesem zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit, in dem wir uns auch durch die digitalen Schübe befinden, wir auch die Erkenntnis wiederbeleben, wie wichtig es ist, dass wir hier auf Vertrauen setzen, im öffentlichen Raum vertrauenswürdige Informationen austauschen, auf eine vertrauensvolle Kommunikation setzen dürfen, wo wir uns ungestraft eine freie Meinungsbildung erlauben dürfen. Dass wir das immer noch als Ideal einer Gesellschaft hochhalten, die damit die Voraussetzungen schafft, dass auch Macht kontrolliert werden kann und dass überhaupt gerechte und solidarische Prozesse ablaufen können in der Gesellschaft. Da müssen wir mehr tun. Und ich glaube, da gäbe es Ansätze auf ganz praktischer Ebene. Und wir sollten unsere Politiker darauf hinweisen, dass sie da mehr tun müssen. Aktiv.
BP: Und es gibt ja, wie Sie völlig richtig sagen, gute Ansätze. An Shoshana Zuboffs Arbeiten lässt sich vieles kritisieren, aber der Ansatz, digitale Praktiken auch im Kontext eines Überwachungskapitalismus zu sehen, nicht Überwachung im Sinne der Steuerung von Menschen als Selbstzweck, sondern der Steuerung von Menschen, um daraus Profite zu schlagen, ist sehr hilfreich. Astra Taylors Arbeiten zu „erzeugter Unsicherheit“, der „manufactured insecurity“, gehören für mich zu den wichtigsten Beiträgen zu den gegenwärtigen Debatten über Populismus und democratic backsliding. Also hier gibt es sehr viele Ansätze, die helfen können.
MP: Wir haben also kein Erkenntnisproblem, wir haben eher ein Umsetzungsproblem.
BP: Wir haben ein Umsetzungsproblem und wir haben ein Regulatory-Capture-Problem. Ein solches besteht, wenn es eine intensive Verflechtung gibt zwischen denen, die die Regeln machen, und jenen, die von diesen Regeln profitieren. Das Lobbying, aber auch der sogenannte Drehtür-Effekt ist ebenfalls ein Problem: Die Lobbyisten und Lobbyistinnen heuern bei den Firmen an, deren Interessen sie vorher vertreten haben, und umgekehrt holen sich die Firmen ihre Leute aus den Parlamenten und aus den zivilgesellschaftlichen Organisationen. Das trägt zu einem massiven Regulatory-Capture-Problem in diesem Bereich bei, und ich glaube, wir werden in einigen Jahrzehnten darauf zurückschauen, so wie wir heute auf Big Tobacco zurückschauen und sagen, wie konnte das passieren, dass wir das so lange zugelassen haben, dass die Schäden des Zigarettenrauchs so bagatellisiert werden? Genauso werden wir über die Schäden nachdenken, die Technologiekonzerne verursachen. Natürlich ist es kein perfekter Vergleich: Es gibt auch viele positive Effekte, die digitale Praktiken und Technologien haben. Aber für viele Menschen sind diese bereits von den negativen Folgen überschattet. Viele dieser Probleme wären vermeidbar, wenn es den politischen Willen gäbe.
Matthias Pfeffer ist Direktor des Council for European Public Space
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Fotos: © Maurice Weiss