Ausgabe 20 / Februar 2025
Von Mikroben und Großvätern
von Manuela Lenzen
Die Chemikerin Rachel Gregor ließ sich während ihrer Fellowship am Wissenschaftskolleg überraschen ‒ wissenschaftlich, aber auch biografisch
Das Antibiotikum Penizillin gehört dazu, auch das Schmerzmittel Morphin und das Artemisinin, das gegen Malaria wirkt: Es sind sogenannte spezialisierte Metaboliten, Stoffwechselprodukte, die Bakterien, Pflanzen, Pilze oder Tiere herstellen, die sie aber nicht für ihr unmittelbares Überleben benötigen, anders als etwa Zucker oder Aminosäuren. Früher nannte man sie deshalb „sekundäre Stoffwechselprodukte“. Inzwischen ist klar, dass sie alles andere als zweitrangig sind: Nicht für die Lebewesen, die sie zum Beispiel für die Verteidigung oder zur Kommunikation verwenden. Und schon gar nicht für uns Menschen, die wir uns spezialisierte Metaboliten gerne als Medikamente, Geschmacksstoffe oder Insektizide und vieles andere mehr zunutze machen.
Die Komplexität der spezialisierten Metaboliten ist erst ansatzweise erforscht. „Vor allem Mikroorganismen sind die Quelle einer ganz neuen Chemie, die wir bislang kaum kennen, geschweige denn verstehen“, berichtet Rachel Gregor, Chemikerin und Fellow am College for Life Sciences des Wissenschaftskollegs. Rachel Gregor hat an der israelischen Ben-Gurion University of the Negev studiert und promoviert, bevor ihr akademischer Weg sie mit der Unterstützung der Simons Foundation und des Center for Chemical Currencies of a Microbial Planet an das Massachusetts Institute of Technology führte. Die Grenzen der klassischen Chemie hatte sie da längst überschritten: Ihr Forschungsgebiet sind heute die spezialisierten Metaboliten, die von marinen Mikroorganismen produziert werden. Sie untersucht, wie die Mikroorganismen diese Stoffe herstellen und wie sie sie nutzen, um zu interagieren, zu kommunizieren und Gemeinschaften zu bilden. Dabei interessiert sie sich vor allem für Mikroorganismen, die auf dem sogenannten Meeresschnee leben, Partikeln, die aus Oberflächenschichten in die Tiefe absinken und vielen Organismen als Nahrung dienen.
„Mein Großvater väterlicherseits war Chemiker und auch mein Vater hat Chemie studiert“, berichtet die junge Forscherin. „Ich weiß nicht genau, was mich letztlich in diese Disziplin geführt hat, aber die Naturwissenschaften haben mich schon immer fasziniert.“ Kurz hat sie mit der synthetischen Chemie geliebäugelt. „Zu Beginn der Forschung für meine Promotion habe ich selbst ein paar Moleküle synthetisiert. Das war wirklich hart, es war sehr aufwendig und definitiv nicht das, was ich mein Leben lang machen wollte“, erinnert sich Rachel Gregor. „Ich reagierte damals ziemlich genervt, als ein Freund zu mir sagte: ‚Weißt du, Bakterien sind viel besser darin, Moleküle zu synthetisieren als wir.‘ Aber heute gebe ich ihm recht: Bakterien sind die eigentlichen Meister der synthetischen Chemie.“
Also begann sie, über Mikroorganismen und ihre Fähigkeiten zur Synthese von Chemikalien zu arbeiten. Zuerst über das Mikrobiom des Verdauungstrakts von Tieren, dann tauchte sie ab in die Welt der marinen Mikroorganismen – im übertragenen Sinne jedenfalls, denn die Forscherin gesteht, dass ihr die Ozeane Respekt abnötigen: „Ich kann nicht tauchen und bin keine besonders gute Schwimmerin, diese unbekannten Tiefen sind mir schon ein bisschen unheimlich.“ Ihrer Faszination für das Forschungsgebiet tut das keinen Abbruch: „Es ist ein solches Privileg, über das Leben in den Ozeanen arbeiten zu dürfen, ich kann gar nicht glauben, dass ich dafür bezahlt werde. Es ist wie am Ufer zu stehen und über das Meer zu schauen: Man bekommt dieses Gefühl von Weite und ungeahnten Möglichkeiten.“
Im Gefrierschrank des Labors sehen die Proben der aus Seewasser isolierten Mikroorganismen allerdings erst einmal unspektakulär aus: weiße Röhrchen mit Seriennummern darauf. Aber nur, bis Rachel Gregor sie wieder zum Leben erweckt. „Wenn man sie auf ein Nährmedium streicht, zeigen sich oft wunderschöne Farben, Orange, Gelb, Pink oder Kastanienbraun. Und sie riechen sehr unterschiedlich. Meistens nicht so gut, dann aber wieder auch sehr angenehm. Man bekommt schon dadurch einen Eindruck von der Vielfalt, mit der man es in jedem Tropfen Meerwasser zu tun hat.“ Anhand der Genome der Mikroorganismen können die Forschenden dann abschätzen, welches Potenzial für die Produktion von Chemikalien ein Organismus hat.
Die Vielfalt der Mikroorganismen und ihrer Produkte passt allerdings nicht so recht zur Spezialisierung der Wissenschaften. „Wenn Biologen und Chemiker sich an die Arbeit machen, gibt es eine Art intrinsische Grenze, wofür sie sich jeweils interessieren und was sie mit ihren Methoden erforschen können. Den Biologen geht es meistens um einfachere Metaboliten, die schon aus dem menschlichen Stoffwechsel bekannt sind, und eher nicht um die große exotische Vielfalt, die es da draußen gibt“, hat Rachel Gregor beobachtet. „Die Chemiker finden immer wieder neue Verbindungen, interessieren sich aber hauptsächlich für ihre Anwendung. Sie testen die Stoffe auf ihre Reaktion, zum Beispiel bei einer Reihe von verschiedenen Krebsarten und Infektionen. Und wenn ein Stoff nicht wirkt, dann wird er in der Literatur verzeichnet und vergessen.“
Um diese Grenzen zu überwinden, ist Rachel Gregor zwischen den Disziplinen unterwegs. Sie interessiert sich für die Organismen, ihre Produkte, ihre Lebensweise und auch für die Rolle, die sie in der Umwelt spielen. „Es geht darum, die Welt der marinen Mikroorganismen besser zu verstehen, und darum, Wege beispielsweise zur Herstellung neuer Medikamente zu finden. Und wenn wir besser verstehen, wie diese Wesen leben, könnten wir auch Gemeinschaften von Mikroorganismen züchten, die nützliche Stoffe für uns herstellen.“
Dazu müssten Mikrobiologie, Chemie und Ökologie, Grundlagenforschung und angewandte Forschung Hand in Hand arbeiten. Und genau das ist Rachel Gregors nächstes Projekt. Der Aufenthalt am Wissenschaftskolleg ist für sie eine Zwischenstation auf dem Weg nach Kanada, wo sie gerade ihr erstes eigenes Labor aufbaut: Das MicroChemEco Lab an der Universität Toronto soll ab März 2025 Forschende aller drei Disziplinen zusammenbringen. „Die Fakultät, zu der mein Lab gehören wird, heißt ‚Chemieingenieurwesen und angewandte Chemie‘, damit fühle ich mich sehr wohl“, berichtet die Forscherin und blickt nachdenklich aus der Bibliothek auf die grüne Gartenbank des Wissenschaftskollegs. Diese Bank dient nicht nur für Denkpausen und Gespräche, sie ziert auch das Hintergrundbild für den Call for Applications des College for Life Sciences. Rachel Gregor hat das Bild dieser Bank, überschrieben mit dem Motto „Gain Time to Think“, vom MIT in den Grunewald gelockt. „Das Bild hat mich gleich angesprochen. Die Arbeit im Labor hat so einen starken Sog, man kann immer noch mehr Experimente machen, man wird nie fertig, zudem war ich noch mit Bewerbungen beschäftigt, da war eine Pause zum Nachdenken wirklich sehr attraktiv und auch notwendig“, berichtet sie.
Aber sie musste auch feststellen, dass das Nachdenken, vor allem das gemeinsame Nachdenken mit anderen Fellows, ganz schön irritieren kann. Am Wissenschaftskolleg wollte Rachel Gregor eigentlich an einem Verzeichnis der marinen Mikroorganismen und der Moleküle, die sie herstellen, arbeiten. Doch allein Ordnungsprinzipien für diese Vielfalt zu finden, ist eine Herausforderung. Es beginnt schon mit der Frage, ob es in der Welt der Mikroorganismen eigentlich Arten gibt. Immerhin werden Arten in der Regel durch ihr Fähigkeit definiert, fruchtbaren Nachwuchs zu erzeugen. Doch Mikroorganismen haben keinen Sex, sondern stellen durch Zellteilung exakte Kopien von sich selbst her. Dennoch tauschen Mikroorganismen auch Gene untereinander aus, „horizontalen Gentransfer“ nennen das die Fachleute.
Als Chemikerin plante Rachel Gregor, die Vielfalt der Organismen nach den Produkten zu klassifizieren, die sie herstellen: „So könnte man in der Forschung bestimmte Verbindungen priorisieren: Wenn nämlich zum Beispiel dieselben Chemikalien von ganz unterschiedlichen, verwandtschaftlich weit entfernten Bakterien hergestellt würden.“ Aber auch dieses Vorhaben erwies sich als kompliziert. Und die Wissenschaftstheoretiker und Philosophinnen am Wissenschaftskolleg machten es ihr nicht leichter. „Mein Projekt hat sich definitiv weiterentwickelt, seit ich hier bin. Ich wollte erst eine Metaanalyse machen, eine Literaturstudie, um so viele Informationen wie möglich über die chemische Vielfalt in der Interaktion der Mikroorganismen zu bekommen. Aber nachdem ich hier mit so vielen Menschen gesprochen habe, vor allem aus der Geschichte und Philosophie der Wissenschaft, habe ich gemerkt, dass ich erst noch einmal genauer nachdenken muss. Darüber, wie die Kategorien, die ich verwende, die Arbeit bestimmen, die ich mache“, berichtet sie.
So sind etwa Antibiotika Chemikalien, die eine bestimmte biologische Funktion gemeinsam haben, eine Funktion, die für uns Menschen interessant ist. „Aber das ist keine chemische Kategorie“, erklärt Rachel Gregor. „Die Antibiotika haben nicht notwendigerweise gemeinsame chemische Eigenschaften. Und wenn man eine chemische Kategorie wählt, dann sind manche der Stoffe dieser Kategorie Antibiotika und andere nicht. Ich frage mich, was die richtige Perspektive ist, um dies alles zu betrachten, was die informativste Art der Kategorisierung ist. Ist ‚Antibiotika‘ eine sinnvolle Kategorie? Gerade habe ich mir Foucault aus der Bibliothek geholt, eine Empfehlung aus der Fellowgruppe – ganz etwas anderes als meine üblichen Fachjournale.“
Das Bibliotheksteam des Wissenschaftskollegs hat nicht nur Fachliteratur und Foucault für Rachel Gregor herausgesucht, sondern noch etwas ganz anderes: das Haus ihres Großvaters mütterlicherseits, Hugo Münsterberg. Dieser wurde 1916 in Berlin geboren, wuchs dort auf und floh 1935 vor den Nazis in die USA. „Er war Halbjude und wurde von der Schule verwiesen, nachdem er kritische Dinge über die Nazis gesagt hatte. Einen Monat später schickte ihn die Familie in die USA; das war möglich, weil seine Mutter auch die amerikanische Staatsbürgerschaft hatte“, berichtet Rachel Gregor. „Als er starb, war ich fünf, ich kann mich kaum an ihn erinnern.“
Hugo Münsterberg, der Neffe des gleichnamigen Psychologen, wurde ein renommierter Kunsthistoriker. „Die Familiengeschichte hat meine Geschwister und mich immer interessiert, und als ich dann hier war, fühlte sich das alles so lebendig an. Ich musste daran denken, wie es für ihn wohl gewesen ist, Berlin zu verlassen, die Stadt, die er nie aufgehört hatte zu lieben, und dazu an mein Verhältnis zu den beiden Städten, in denen ich mich immer zu Hause gefühlt habe – New York und Tel Aviv. Mithilfe des Bibliotheksteams begann ich zu recherchieren. Seine Geburtsurkunde existiert wohl nicht mehr, aber wir konnten andere Dokumente finden – und sein Haus. Es ist nur 20 Minuten von hier entfernt!“ Dabei hatte Rachel Gregor eine Adresse mitgebracht, nur das Haus fand sie dort nicht und dachte, es sei zerstört worden. „Das Haus ist noch da, nur mit einer anderen Hausnummer.“ Sie konnte es auch sofort besuchen, es ist jetzt ein Hotel. „Es war toll, durch solche Experten bei der Recherche unterstützt zu werden. Ich bin zwar Forscherin, aber nicht diese Art von Forscherin, diese Dinge sind mir völlig unzugänglich. Aber es macht große Freude, sich damit zu befassen“, resümiert Rachel Gregor.
Ihre eigentliche Forschung wird sie nun in Toronto fortsetzen. Wird die Nähe der Great Lakes ihr Interesse hin zu Süßwasserorganismen verschieben? „Das fragen mich viele, ich denke schon, dass die Umgebung beeinflusst, woran man arbeitet. Ich kann mir gut vorstellen, auch zu den Mikroorgansimen der Seen zu forschen.“ Die Bakterien des Halensees neben dem Wissenschaftskolleg hat sie jedenfalls noch nicht untersucht. „Dazu wäre der Sommer geeigneter gewesen.“
Ob Salz- oder Süßwasser: Kaum bekannte, kaum verstandene chemische Vielfalt gibt es überall. „Weil ich auch zur Ökologie arbeite, denken manche Menschen, dass ich die Welt retten will. Doch ich möchte vor allem verstehen, was vor sich geht, und das dann nutzen, um, zu tun, was man tun kann, um das Leben ein bisschen besser zu machen.“
Die Fotos von Rachel Gregor wurden im Hotel Residenz Begaswinkel in der Genthiner Straße in Berlin-Tiergarten aufgenommen ‒ dem ehemaligen Wohnhaus der Familie ihres Großvaters. Herzlichen Dank den dortigen Personen für die Gastfreundschaft und Unterstützung!
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Fotos: © Maurice Weiss