Ausgabe 20 / Februar 2025
Von singenden Dinosauriern
von Gerald Wagner
Die Paläontologin Julia A. Clarke untersucht die Stimmen von Dinosauriern und fragt sich, welche Rolle sie in der Evolutionsbiologie spielen
Sie waren furchtbar groß und nicht besonders intelligent, stapften mit fürchterlichem Gebrüll auf der Erde herum und sind seit 65 Millionen Jahren ausgestorben. Wer so über Dinosaurier redet, bekommt von Julia Clarke ein sehr professorales Stirnrunzeln und einen Blick, in dem sich Tadel und ein mildes Verständnis für diejenigen mischen, die solche „Jurassic Park“-Bilder im Kopf haben. Denn an diesem Satz über die Dinos stimmt so gut wie nichts. Richtig ist vielmehr: Dinosaurier waren oft auch sehr klein, vermutlich brüllten sie auch nicht. Vor allen aber sind sie nicht ausgestorben, sondern sie leben mitten unter uns. Im Wald, in Parks, in Wäldern und an den Küsten der Weltmeere. Sie erfreuen uns mit ihrem fröhlichen Gesang und intelligent sind sie auch: Vögel, und die sind keine Verwandten der Dinosaurier, nein, sie sind Dinosaurier! Dass wir das heute wissen können, daran hat Julia Clarke keinen unerheblichen Anteil.
Julia Clarke ist Professorin für die Paläontologie der Wirbeltiere an der Jackson School of Geosciences der University of Texas in Austin, wo sie den Katherine G. Jackson-Lehrstuhl für Geobiologie innehat. Die Jackson School gehört zum Department of Earth and Planetary Sciences, und ja, auch wenn das nach sehr entfernten Zeithorizonten klingt und Julia Clarke auch viele Jahre auf der ganzen Welt Dinosaurier ausgegraben hat – ihre eigentlichen Forschungsinteressen gelten den Vögeln, die erdgeschichtlich betrachtet gar nicht so alt sind: dass sie zu fliegen begannen, ist nur 150 Millionen Jahre her.
2005 gelang Julia Clarke und ihrem Team eine spektakuläre Entdeckung: Auf einer Insel am Rande der Antarktis war 1992 das Fossil eines Vogels entdeckt worden, das Clarkes Team dann dank Analysemethoden wie der Computertomografie als die ca. 67 Millionen Jahre alten Knochen von Vegavis iaai identifizierte. Zu seinen Lebzeiten am Ende der Kreidezeit musste sich dieser etwa entengroße Vogel vor seinen mächtigen Zeitgenossen in Acht nehmen. Vielleicht konnten sie sich gegenseitig vor anderen Dinosauriern lautstark warnen, denn Vegavis hatte bereits etwas gemeinsam mit seinen heutigen Verwandten: Er hatte eine Syrinx, einen Stimmkopf, also jenes Lautbildungsorgan, dem Vögel ihre Stimme verdanken, im Unterschied zum Kehlkopf anderer Wirbeltiere. Die Syrinx ist ein sehr unscheinbares Organ, nicht viel mehr als dünne, schwingende Membrane, die an der Verzweigung der Bronchien zwischen mineralisierten Knorpelringen liegen. Dass sich so etwas in Fossilien aus der Kreidezeit hätte erhalten können, schien den Paläontologen ziemlich aussichtslos. Die einzigen beschriebenen versteinerten Teile der Syrinx stammten aus der Epoche von Pleistozän und Holozän, waren also nicht älter als 2,5 Millionen Jahre.
Doch dann sah sich Julia Clarke mit ihrem Team das Fossil aus der Antarktis genauer an – was vielleicht eines der besonderen Talente der Wissenschaftlerin ist: anders sehen als andere und in Objekten bisher Unentdecktes finden. In diesem Fall war ihre Entdeckung nur etwa einen Zentimeter groß, winzige Ringe, die nur im CT des Fossils erkennbar waren. Doch man muss als Paläontologin nicht an dem fachtypischen Wettlauf um den größten Dino teilnehmen, der jemals die Erde bewohnt hat. Julia Clarke hat auch schon solche Riesen ausgegraben, aber Fotos von ihren zahlreichen Expeditionen zeigen sie eher mit Pinsel und Handlupe. Nach Meinung vieler kann das Skelett von Vegavis natürlich nicht mit jenen des T-rex mithalten, für die private Käufer mittlerweile Millionen zahlen – um den Saurier dann wohl zuhause in der Wohnung zu haben? Julia Clarke kann darüber nur spotten – vielleicht ist das die neueste Trophäe der Superreichen?
Ihre Funde mögen vergleichsweise unspektakulär erscheinen, aber das zarte Organ von Vegavis bewies, dass bereits die frühen Vögel der Kreidezeit über ein neues Stimmorgan verfügten. Damit konnten sie vermutlich zwar nur quaken, so wie heutige Enten vielleicht. Das war noch lange nicht der melodische Gesang einer Nachtigall oder einer Lerche, aber es war ein entscheidendes fossiles Puzzleteil bei der Rekonstruktion der Evolution des Vogelgesangs. Die Herausforderung dieser Art von Paläontologie, wie sie Julia Clarke betreibt, liegt eben in dieser Suche nicht einfach nach Knochen, sondern nach Hinweisen auf Funktionen und Fähigkeiten, also nach der Fähigkeit, Laute zu produzieren oder in der Luft zu fliegen –, oder unter Wasser, wie es Pinguine tun. Man könnte ihre Forschung also eine Art Ausgrabung evolutionärer Errungenschaften von Lebewesen nennen, von komplexen biologischen Systemen, über die man nicht einfach irgendwo in der Wüste Patagoniens stolpern kann wie über die dort jüngst entdeckten Knochen eines weiteren Titanosaurus. Die Bilder des Titanischen, des Gigantischen und Furchterregenden sichern dieser Art von Paläontologie ihren Platz in den Wissenschaftsmythen der Gegenwart. Wie erforscht man aber die Tiefenschichten des Gesangs und von Dinosauriern?
Kaum ein Volkwirtschaftler, Verfassungsrechtler oder Kirchenhistoriker (alles neue Kollegen von Julia Clarke am Wissenschaftskolleg) wird mit leuchtenden Augen erzählen: Das wollte ich schon als Kind werden! In Julia Clarkes Fall dagegen gehört diese frühe Gewissheit zu den gängigen Mythen eines Faches, das geradezu archetypisch für das Ent-Decken der wissenschaftlichen Methode steht. Das Suchen und Finden des bislang tief in der Dunkelheit des Bodens Verborgenen steht exemplarisch für Forschung an sich. Dass sich dieses Suchen und Entbergen des Unbekannten damit selbst in der Natur des menschlichen Geistes verankert, der Mensch also ein geborener Forscher ist, der diese Neugierde und die Fähigkeit zu Staunen im Laufe des Lebens nie verliert, ist selbst ein Forschungsthema in Julia Clarkes Disziplin. Also die Evolution des Geistes, der kognitiven Fähigkeiten und damit natürlich der Kultur. Das ist die eine Seite der Geschichte. Die andere ist die, dass Wissenschaft trotz dieser auf den Menschen ausgerichteten Qualität ihres Tuns immer mit der Frage konfrontiert wird: Warum macht ihr das? Was ist daran interessant, wichtig, ja: Was bringt das? Ist das wirtschaftlich nutzbar? Kann man damit mal Geld verdienen?
Würde nur das finanziert, dessen unmittelbare Nützlichkeit schon vorher feststünde, fände die meiste Wissenschaft gar nicht statt. Es sei zum Glück in diesem Haus so, sagt Julia Clarke lachend, dass die Menschen hier neugierig sind und offen für jede Art von Forschung. „Das ist der Geist des Wissenschaftskollegs.“ Man hat Zeit zum Lesen. Dann sitzt man viel zusammen. Mit Leuten, die auch viel lesen und schreiben, dann redet man darüber. Unmengen von Büchern hat Julia Clarke schon als Kind gelesen. Und sie reiste viel mit ihren Eltern. „Alles“, erzählt sie, „was ich wirklich machen wollte, war, dort draußen sein in der Welt, mit einem Ziel vor Augen zu außergewöhnlichen Orten zu reisen.“ Lesen, reisen, fremde Dinge entdecken. Eigentlich macht Julia Clarke bis heute nichts anderes. Obwohl es nicht Dinosaurier waren, die sie finden wollte. „Ich wollte ursprünglich Archäologin werden. Mich faszinierten schon immer die Geschichten in den Objekten. Die Geschichten, die Dinge, ihre Formen, ihre Schönheit.“ Also studierte sie zuerst Kunst, sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft und Archäologie, und schließlich auch Geobiologie. Das führte sie von Anfang an zu einigen dieser „am weitesten entfernten Orte“ der Welt, wo Julia Clarke seitdem forscht. Man sieht sie in Berichten über diese Expeditionen – nach Südamerika, Asien, in die Antarktis – irgendwo im Staub sitzen, grabend, prüfend, sammelnd. Und seit einem Monat ohne eine Dusche, wie sie lachend hinzufügt. Aber sie liebe das, draußen vor Ort forschen, schließlich sei es doch das, was alle denken, was Paläontologen tun, oder? Nein, eben nicht. Viele ihrer Kollegen gingen nicht mehr raus. Sie konzentrierten sich auf Forschung im Labor. Julia Clarke hat natürlich auch viel Zeit in Laboren verbracht. Ihre frühe Forschung galt dabei der Evolution des Fliegens. Dann der Evolution des Fliegens unter Wasser bei Pinguinen. Sie entdeckte schon als Studentin neue ausgestorbene Spezies, darunter Apsaravis. Sie beschrieb das erste Fossil eines Pinguins mit Federn. Dann die Entdeckung des Stimmorgans von Vegavis.
Julia Clarke hat ein bemerkenswertes Talent, Dinge aufzudecken, die andere nicht gesehen haben. Das ist in ihrem Fall allerdings nicht nur ein Talent, sondern dahinter steckt ein enormes fächerübergreifendes Wissen und die Fähigkeit, Teams zusammenzustellen, die sehr interdisziplinär arbeiteten. Ihre bahnbrechenden Funde zur Evolution des Vogelgesangs wären ohne diese Interdisziplinarität ihrer Forschungsarbeit nicht möglich gewesen. Jeder könne, sagt sie, in Experimenten untersuchen, wie die Syrinx funktioniere. Aber sie wollte wissen, warum es dieses Organ der Vögel gibt, woher es kommt, denn es gab in der evolutionären Vergangenheit der Vögel schon ein Organ, mit dem ihre Vorfahren Geräusche machten. Nur war dieses völlig andersartig. Warum „erfindet“ die Evolution ein neues Organ? Das sei doch völlig verblüffend, sagt sie, „Das haut einen doch um!“ Aber man muss es eben erst einmal sehen, sagt sie, denn wenn du etwas nicht sehen kannst, wirst du es auch nie finden.
Aber jetzt ist Julia Clarke in Berlin am Wissenschaftskolleg. Das heißt: Zeit haben. Für all das Nachdenken, das so lange liegen geblieben ist. Antworten finden auf die offenen Fragen, die sich in diesen nun schon 30 Jahren intensiver Forschungs- und Reisetätigkeit angehäuft haben. Ein Buch schreiben. Man merkt Julia Clarke an, dass ihr das nicht leichtfällt, das Nur-an-einem-Ort-Sein. Sie wolle also ein Buch schreiben darüber, was wir über „evolutionary innovation of biological systems“ lernen können. Also die speziellen Einblicke in die Evolution von Fähigkeiten wie Sehen, die Entwicklung der Gehirne, der Intelligenz, die man an Dinosauriern studieren könne. Ein solches Buch gibt es auch noch nicht, und vielleicht ist Julia Clarke die Einzige, die es in ihrem Feld schreiben könnte. Wenn wir über das Neue in der Evolution sprechen, dann bringen Leben und Zeit Neues hervor. Aber welche Merkmale können uns etwas Neues über die Evolution selbst sagen? Und ist es ein wichtiger, aber vernachlässigter Umstand der biologischen Evolution, dass hier neue Organe entstehen für bereits vorhandene, also „alte“ Fähigkeiten? Der Übergang vom Stimmorgan ihrer Vorfahren zum neuen Stimmorgan der Vögel müsste diesen einen Selektionsvorteil verschafft haben. Aber der Grund für diesen Übergang ist noch unbekannt. Und es gebe keine Hinweise darauf, so Clarke, dass das neue Organ beim Erzeugen von Tönen irgendwie besser gewesen wäre als das alte. Also warum dann dieser Weg in der Evolution von Vögeln und ihren organischen Fähigkeiten? Gab es andere Vorteile durch diese neuen Strukturen, etwa bei parallelen Entwicklungen in der neuronalen Entwicklung von Vögelgehirnen?
Zur Beantwortung dieser Fragen steht ihr mit der Fülle neuer Entdeckungen in der Evolution von Vögeln (zu der sie selbst nicht wenig beigetragen hat) eine riesige Menge an Material zur Verfügung, das sie in ihren Monaten am Wissenschaftskolleg aufarbeiten und dann „irgendwie“ einer Synthese zuführen will. Nach über 140 Journal-Artikeln also jetzt mal ein Buch? In einer Disziplin, in der eigentlich niemand mehr Bücher schreibt, sei das eine gewisse Herausforderung, sagt Julia Clarke. Aber wenn man die Hartnäckigkeit sieht, mit der sie in ihrer wissenschaftlichen Karriere ihre Herausforderungen gemeistert hat, sollte kein Zweifel aufkommen, dass sie auch diese Herausforderung meistern wird.
Die Aufnahmen von Julia Clarke entstanden in der Berlinischen Galerie. Julia Clarke besucht die Ausstellung „edge out“ der Künstlerin Mariechen Danz, die dort vom 13. September 2024 bis zum 16. Juni 2025 zu sehen ist. Wir danken Mariechen Danz für die Erlaubnis zu dieser Fotoserie und dem Team der Berlinischen Galerie für die großzügige Unterstützung!
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Fotos: © Maurice Weiss