Martin Kaltenecker, Dr.
Musikwissenschaft
Paris
Geboren 1957 in Düsseldorf
Studium der Musikwissenschaft und Romanistik an der Université Paris-Sorbonne (Paris IV)
Arbeitsvorhaben
Die unsichtbare Musik
In meinem Projekt geht es um die Untersuchung der konkreten Situation, in welcher der Musiker vom Zuhörer nicht gesehen werden kann, die Musik also um ihre visuelle Komponente gekappt auf ihn zukommt, und um die dabei erzielten oder entstehenden Effekte, sowie um Diskurse, speziell um Theorien des Hörens, die sich mit einer solchen Situation beschäftigen.Untersucht werden Anordnungen wie die Tribüne, der Lettner, Vorhänge, hinter denen Musik gespielt wird (z. B. um zu verdecken, dass Frauen sich unter den Ausführenden befinden, wie in Bern zu Beginn des 18. Jahrhunderts, oder um eine "Versenkung" in die Musik zu ermöglichen, wie in einem Theater in Kopenhagen am Ende des 19. Jahrhunderts), auch Wagners unsichtbares Orchester. Oft wird in solchen Situationen ein quasi-sakrales Hören suggeriert, bei dem die Struktur der Musik nicht mehr das Wichtige ist, oder es wird versucht, den Körper des Musikers als Störfaktor auszuschalten.
Der Geschmack am "fernen Klang", bezeichnend für die Musik gegen Ende des 19. Jahrhunderts, findet sich in manchen Theorien des Rundfunks und des "blinden" Hörens in den 1930er Jahren wieder. Das Hören von Musik ist zu jener Zeit aber auch an sich ein Objekt von Fragen und Forschungen geworden. Eine Genealogie der unsichtbaren Musik impliziert so auch eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen der musikalischen Form in der Partitur und einer "Hörform", sowie der Diskurse und künstlerischen Praktiken, die diesen Unterschied ausschalten oder mit ihm spielen wollen.
Lektüreempfehlung
Kaltenecker, Martin. La Rumeur des Batailles. Paris: Fayard, 2000.
-. Avec Helmut Lachenmann. Paris: Van Dieren, 2001.
-. "La retouche du réel." Vorwort zur französischen Übersetzung von Rudolf Arnheim. Radio. Paris: Van Dieren, 2005.
Kolloquium, 27.03.2007
Unsichtbare Musik Vorspiel zu einer Theorie des musikalischen Hörens
Seek simplicity and distrust it. (A. N. Whitehead)
Ich untersuche Situationen, in denen die Musiker oder die Schallquelle für den Hörer nicht sichtbar sind, etwa wenn Musik hinter Lettnern, Ikonostasten, auf Tribünen, vordeckt von Vorhängen oder im Rundfunk gespielt wird. Macht es jedoch Sinn, diese über die ganze Musikgeschichte verteilten Situationen zu vergleichen? Ich gehe nun einerseits davon aus, dass sie jeweils eine gewisse Musikanschauung auskonstruieren und die Materialisierung von Diskursen darstellen, und dass sie andererseits auf ein geheimnisvolles, ein 'mysteriöses' Hören abzielen.
Ich versuche, dieses 'mysteriöse' Element innerhalb gewisser Religionen im Zusammenspiel mit zwei weiteren Aspekten zu fassen: dem 'symbolischen' Element (dieses drückt ein Gesetz, das Ziehen von Grenzen, einen Zwang aus, z.B. den Befehl zum Sich-Versammeln) und dem 'logischen' Element (das das abstrakte Gesetz durch den endlosen Fluss von Worten, Auslegungen, Interpretationen, praktischen Hinweisen und Vorschriften 'auffüllt'). Das 'mysteriöse' Element ist seinerseits ausgerichtet auf Präsenz, auf eine direkte Beziehung zum unsichtbaren Göttlichen, die durch die Verzerrung bestehender Formen, Exzesse oder geheimnisvolle Vorrichtungen und Veranstaltungen herbeigezwungen werden soll. Auch Musik der neueren europäischen Tradition, sowie das Hören, das sie voraussetzt, kann mit Hilfe dieser Aspekte gefasst werden (dem strukturell-analytischen, dem sprachhaften, dem auf Präsenz und Körperlichkeit ausgerichteten).
In der Liturgie der katholischen Messe liefern das Sanctus und das Allelujah Beispiele für die Vorstellung eines mysteriösen Sich-Öffnens des Himmels, mittels Glossolalie, Akklamation, Geschrei oder Lärm. Konstruktionen wie der Lettner verwandeln im späten Mittelalter das Kirchenschiff in ein 'Auditorium' (C. Wright), abgetrennt von dem Altarraum, in dem - intra velum ('hinter dem Vorhang') - der Gesang der himmlischen Scharen erklingt.
Ab dem 18. Jahrhundert wird nun Musik selbst Objekt einer religiösen Aufmerksamkeit und mysteriöser Vorrichtungen, die zuerst in der Literatur beschrieben werden. Dahin hatte die Beantwortung von drei Fragen geführt: Was bedeut Hören? (wie sieht die Hierarchie zwischen den Sinnen aus); Was bedeutet Zuhören? (am Ende des 18. Jahrhunderts entsteht ein Diskurs der Aufmerksamkeit); Was will und bedeutet ein eventuell unverständliches musikalisches Werk? (das Hören wird so zu der Befragung einer Befragung).
In der Resonanz dieser Problemkreise stehen exzentrische Hörsituationen im 19. Jahrhundert, wie sie sich bei Berlioz, Wagner, und im Symbolismus finden. Die ersten Reaktionen auf Rundfunkübertragungen werfen wiederum ähnliche Fragen auf, wobei sich die Idee einer Pluralität von Räumen verbreitet, in denen Musik Sinn machen kann - als abstrakte Lektüre der Partitur, abgeschnitten von der Ansicht des Musikers, authentifiziert von der Präsenz desselben, fixiert durch technische Reproduktion, im Kreise von Mit-Hörern oder in isolierter Konzentration.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Kaltenecker, Martin ([Paris], 2011)
L'oreille divisée : les discours sur l'écoute musicale aux XVIIIe et XIXe siècles Collection répercussions
Kaltenecker, Martin (Genève, 2009)
Kaltenecker, Martin (Düsseldorf, 2008)
Die Musik entsteht aus dem Lauschen des Jägers : Dr. Martin Kaltenecker über "unsichtbare Musik" ; Alexander Kluge im Gespräch mit Martin Kaltenecker 10 vor 11
Kaltenecker, Martin (2006)
Kaltenecker, Martin (Paris, 2006)
Penser l'oeuvre musicale au XXe siècle : avec, sans ou contre l'histoire ?
Kaltenecker, Martin (Genève, 2003)
Moments musicaux Moments musicaux <franz.>
Kaltenecker, Martin (Paris, 2001)
Avec Helmut Lachenmann [Collection Musique]
Kaltenecker, Martin ()
Das Offene und die Eröffnung: Versuch zu einer Physiognomie B. A. Zimmermanns