Gustav Seibt, Dr. phil.
Historiker, Publizist
München
Geboren 1959 in München
Studium der Geschichtswissenschaft und der deutschen, lateinischen und italienischen Literatur in Konstanz, München, Bielefeld und Rom
Arbeitsvorhaben
Goethe und die deutsche Geschichte
Nachdem mir der Aufenthalt als Gast am Wissenschaftskolleg im Winter 2007/08 die Fertigstellung einer detaillierten Studie über Goethe und Napoleon ermöglichte, möchte ich nun versuchen, das Feld zu erweitern und Goethes Verhältnis zur Politik seiner Zeit insgesamt in den Blick zu nehmen. Dabei will ich der in Goethe und Napoleon erprobten Vorgehensweise treu bleiben: Es soll zuerst um Goethes eigene, sehr reiche zeitgeschichtliche Erfahrungen gehen, erst danach um seine (oft wechselnden) politischen Meinungen und den Niederschlag der Zeitgeschichte in seinen Werken. Auch hier sollen nicht die oft überschätzten Tätigkeiten als Weimarer Staatsbeamter im Mittelpunkt stehen, sondern Goethes direkte Einblicke in die großen Umbrüche seiner Epoche, beispielsweise bei seinem Berlin-Besuch 1778 oder im ersten Koalitionskrieg 1792 oder beim Aufkommen eines politischen Terrorismus in Deutschland zwischen 1817 und 1819. Goethe selbst hat sich als Zeitgenosse Friedrichs des Großen, der Amerikanischen und der Französischen Revolution verstanden, er hat bis in die Schlussphase seiner Arbeit am "Faust" auf zeitgenössische Politik reagiert. "Goethe und sein Jahrhundert" mag - in Anlehnung an die Winckelmann-Schrift - der Arbeitstitel lauten. Des weiteren will ich diese Bemühungen verbinden mit Überlegungen zu einer elementaren deutschen Geschichte - als Antwort auf überholte, aber nicht ersetzte Sonderwegsthesen -, die mich seit vielen Jahren beschäftigen; von der Gesprächsatmosphäre des Wissenschaftskollegs erhoffe ich mir ideale Voraussetzungen zur Erprobung der dafür nötigen einfach-kühnen Argumente.Lektüreempfehlung
Seibt, Gustav. Goethe und Napoleon: eine historische Begegnung. München: Deutscher Taschenbuch-Verlag, 5. Aufl., 2010.
-. Deutsche Erhebungen: das Klassische und das Kranke. Springe: zu Klampen, 2008.
Kolloquium, 18.12.2012
Grundlinien einer elementaren deutschen Geschichte
Mein Vortrag bietet einen Ausschnitt aus Überlegungen zu einer elementaren deutschen Geschichte, die mich seit langem beschäftigen.
Es wird in ihr darum gehen, sowohl langfristige Strukturen wie erstaunliche, ja unwahrscheinliche Wendungen zu behandeln.
Ich streife nur die Grundbedingung aller nachantiken europäischen Geschichte: Das Römische Reich hat an Donau und Elbe halt gemacht. Das spätere Deutschland entstand auf einem römisch-germanischen Grenzgebiet.
Die erste Unwahrscheinlichkeit besteht für mich darin, dass das mittelalterliche Kaisertum im östlichsten Teil des karolingischen Imperiums, bei den Sachsen weitergeführt wurde, auf einem Gebiet, das nie römisch war.
Die zweite große Zäsur stellt das Ausfallen einer starken deutschen Monarchie im 13. Jahrhundert dar. Dies ermöglichte regionalen Herrschaften eine Konsolidierung, die zur Zersplitterung des politischen Raums in Mitteleuropa führte.
Durch die habsburgische Heiratspolitik um 1500 wurde dieser Raum zu einem der bevorzugten Kampfplätze und später zum völkerrechtlich garantierten Zentrum des entstehenden europäischen Staatensystems, das ist mein dritter Punkt.
Die Stärke und Unabhängigkeit lokaler Herrschaft, vor allem im östlichen Teil Deutschlands, begünstigte das Überleben von Luthers Reformation, die wiederum die Fragmentierung des Alten Deutschen Reiches vertiefte, zugleich aber das moderne Deutsch schuf - vierter Wendepunkt.
Fünftens: In diesem östlichen Raum schaffte Friedrich der Große für Preußen den Aufstieg zur Großmacht. Folgen davon wurden der deutsche Dualismus, die Teilungen Polens und Deutschlands Mittellage im Staatensystem zwischen Frankreich und Russland.
Sechstens brachte die Französische Revolution in Gestalt Napoleons die politische Form der Nation in den deutschen Raum, der dafür in keiner Weise vorbereitet war. Sie wurde in nationalistischer Abwehr und in bürgerrechtlich halbierter Form rezipiert. Die kleindeutsche, preußische und autoritäre Lösung der nachrevolutionären nationalen Frage folgte unmittelbar danach. Das in äußeren Kriegen entstandene zweite Deutsche Reich erwies sich als zu groß für das traditionelle europäische Staatensystem und als zu klein für Weltpolitik. Es war gekennzeichnet von einer dramatischen Ungleichzeitigkeit zwischen politischem System und gesellschaftlicher Entwicklung. Auch daraus entstanden jene letzten europäischen Hegemoniekriege, in denen 1945 der erste Anlauf einer Nationalstaatsgründung endete, mit ungeheuren Kosten für die ganze Welt.
Gerade dieser katastrophale Ausgang gehört nicht zu den Unwahrscheinlichkeiten in dieser Geschichte.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Seibt, Gustav (München, 2014)
Mit einer Art von Wut : Goethe in der Revolution
Seibt, Gustav (Springe, 2013)
Goethes Autorität : Aufsätze und Reden zu Klampen Essay
Seibt, Gustav (Abū Ẓabī, 2011)
Ġūtih wa-Nābūlīūn liqa' tā'rīḫī Goethe und Napoleon - eine historische Begegnung <arab.>
Seibt, Gustav (2011)
Seibt, Gustav (2010)
Die Europäische Freiheit : Friedrich von Gentz und der Liberalismus des Staatensystems
Seibt, Gustav (2009)
Konzertante Prosa : Anmerkungen zu Max Goldt
Seibt, Gustav (2009)
Seibt, Gustav (Roma, 2009)
Il poeta e l'imperatore : la volta che Goethe incontrò Napoleone Goethe und Napoleon <ital.>
Seibt, Gustav (Lengwil, CH, 2009)
Seibt, Gustav (Springe, 2008)
Deutsche Erhebungen : das Klassische und das Kranke Reihe ZuKlampen Essay