Juliane Vogel, Dr. phil.
Professorin für Neuere Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft
Universität Konstanz
Geboren 1959 in Mainz, Deutschland
Studium der Germanistik und Anglistik an der Universität Wien und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Arbeitsvorhaben
"Nehmt Scheren!" Schneiden, Kleben, Schreiben in der Literatur der Moderne
Die Texte der Moderne werden vielfach mit der Schere geschrieben. Wie die Zeitungen in die Bibliotheken dringen Schere und Klebstoff auf den Schreibtisch des Schriftstellers vor und greifen tief in traditionelle Textgrammatiken ein. Schneiden und Kleben sind Teile einer Verfahrenskette, die bestehende Texte zerstört und ihre Fragmente nach einer neuen beweglichen und jederzeit veränderlichen Syntax anordnet. Insbesondere kommen sie dann und dort zum Einsatz, wo die Zufälle des Findens die Textproduktion regieren. Geschnittene und geklebte Texte erfinden nicht, sie operieren mit Gefundenem und Reproduziertem und lassen der Eigenlogik des Materials, seiner Dynamik wie seiner Widerständigkeit, in unerhörter Weise Raum. In meiner Zeit am Wissenschaftskolleg zu Berlin, wo ich meine Vorarbeiten (u. a. bei der Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz) vertiefen und verschriftlichen werde, möchte ich der Frage nachgehen, was es bedeutet, mit Schere und Klebstoff zu schreiben. Die poetische wie die künstlerische Scherenpraxis des frühen zwanzigsten Jahrhunderts möchte ich vor dem Hintergrund einer Geschichte betrachten, die der Schere die Fähigkeit zur künstlerischen Produktion absprach und sie als ein Werkzeug denunzierte, das in der Hierarchie der künstlerischen Werkzeuge nur einen geringen Rang einnahm. Scheren, so lassen sich die seither geäußerten Urteile zusammenfassen, stiften keine Form und übertragen keine Schöpfungsimpulse. Bereits Michelangelo denunzierte das Schneiden als eine "nutzlose Tätigkeit", die jeder künstlerischen Kraft ermangele. Mit Blick auf die literarischen Verfahren der Collage und Montage und insbesondere auf die Avantgarden des frühen 20. Jahrhunderts soll die Geschichte ihrer Aufwertung geschrieben werden. Ich möchte den historischen und zeitgenössischen Verwendungszusammenhängen nachgehen, die sich der Arbeit mit Schere und Klebstoff in der Moderne mitteilen. Dabei soll gezeigt werden, dass die Gründe für ihre Denunziation auch die Gründe für ihre moderne Karriere sind.Lektüreempfehlung
Vogel, Juliane. Aus dem Grund: Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. Paderborn: Fink, 2017. (= Bild und Text.)
-. "Kampfplatz spitzer Gegenstände. Schreiben und Schreiben um 1900." In Konstellationen - Versuchsanordnungen des Schreibens, herausgegeben von Helmut Lethen u. a., 67-81. Wien: Vienna University Press, 2013.
-. "Verstrickungskünste. Lösungskünste. Zur Geschichte des dramatischen Knotens." Poetica 3-4 (2008): 269-288.
Kolloquium, 18.12.2018
Nehmt Scheren! Die Karriere eines Werkzeugs in Literatur und Kunst der Moderne
Der Vortrag handelt von der Karriere der Schere in der modernen Kunst und Literatur, er möchte zeigen, wie ein zunächst verachtetes Werkzeug um 1900 zu einem anerkannten und unverzichtbaren Werkzeug wurde. Im ersten Teil trage ich die Vorwürfe zusammen, die die Schere diskreditieren. In der traditionellen Hierarchie der künstlerischen Werkzeuge gilt die Schere als ein unproduktives Werkzeug, das keine neuen Formen hervorbringt und nur das Vorhandene und insbesondere kulturelle Artefakte wie bedrucktes Papier oder Stoffe bearbeitet. Sie gilt gleichermaßen als das Werkzeug der Unselbständigen, die in Ermangelung eigener Originalität ausschneiden, oder als das Werkzeug jener, die zum Zeichnen, Malen oder Schreiben nicht fähig sind. Im zweiten Teil des Vortrags behandle ich den Aufstieg der Schere im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, das die Kunstform und Praxis der Collage hervorbringt. In der Kunst wie im Alltag der Moderne regelt sie den Umgang mit der Zeitung. Sie tritt dann aus der Verborgenheit heraus, als nicht mehr Originalität und Könnerschaft, sondern Reproduktion und Recycling oder - mit Paul Valery gesprochen: die Arbeit mit den "morceaux existants" der Massenpresse ins Zentrum literarischer und künstlerischer Projekte rücken. Meine These ist, dass die Gründe für die Abwertung der Schere auch die Gründe für ihre Aufwertung sind.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Vogel, Juliane (München, 2019)
Die Schere : die Karriere eines Werkzeugs in den Künsten der Moderne
Vogel, Juliane (2018)
Fluchtauftritte : Goethes Theater des Asyls
Vogel, Juliane (2018)
Das Theater als transitorischer Raum : einleitenede Bemerkungen zum Verhältnis von Flucht und Szene
Vogel, Juliane (Berlin, 2018)
Flucht und Szene : Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden Recherchen ; 135
Vogel, Juliane (Paderborn, 2018)
Aus dem Grund : Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche Bild und Text
Vogel, Juliane (2015)
Sinnliches Aufsteigen : zur Vertikalität des Auftritts auf dem Theater
Vogel, Juliane (2014)
"Who's there?" : zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater
Vogel, Juliane (Berlin, 2014)
"Who's there?" : zur Krisenstruktur des Auftritts in Drama und Theater
Vogel, Juliane (Berlin, 2014)
Auftreten : Wege auf die Bühne Theater der Zeit
Vogel, Juliane (Göttingen, 2013)
Kampfplatz spitzer Gegenstände : Schneiden und Schreiben nach 1900
Im Kolleg entstanden 28.08.19
Köpfe und Ideen 2021
Wie hältst du’s mit dem Aphorismus?
Ein Gespräch zwischen Fellow 2018/2019 Juliane Vogel und Permanent Fellow Christoph Möllers