Ausgabe 16 / April 2021
Wie hältst du’s mit dem Aphorismus?
Ein Gespräch zwischen Fellow 2018/2019 Juliane Vogel und Permanent Fellow Christoph Möllers
Die Literaturwissenschaftlerin Juliane Vogel und der Verfassungsrechtler Christoph Möllers unterhalten sich über den Stil seines Buches Freiheitsgrade und über die Vor- und Nachteile aphoristischen Schreibens
Juliane Vogel: Beginnen wir doch mit deiner eigenen Schreibweise. Eine Schreibweise, die du ja eigentlich von Anfang an, seit deinem Demokratiebuch, gepflegt hast. Vielleicht kann man deinen Stil als aphoristisch bezeichnen. Zumindest haben deine Sätze einen starken aphoristischen Gestus. Du denkst in Sätzen, und zwar in starken Sätzen, fast könnte man sagen: in Einzelsätzen. Du inszenierst deine Texte so, dass sie so etwas sind wie eine Abfolge von kleinen punktuellen Denkereignissen. Findest du dich in dieser Beschreibung wieder? Was bietet dir diese Schreibweise?
Christoph Möllers: Ich finde mich darin wieder und gleichzeitig erscheint es mir ein wenig erschreckend, weil es auf die eigene Beschränktheit hinweist und weil ich das Ideal habe, auf verschiedene Weise schreiben zu können. Allerdings fällt es mir aus der Schreiberperspektive schwer zu sagen, dass die Form mir etwas bietet. Es ist vielleicht eher so, dass mich die Form gesucht hat. Das hat auch mit mündlichen Erfahrungen zu tun, damit, dass ich ein Faible für Pointen und für eine bestimmte Form von Konversation habe. Gleichzeitig hat die Form bei mir etwas Didaktisches. Ich habe zwei Bücher so geschrieben, die beide ein politisches Anliegen hatten. Die Kurzform hat mich schon davor interessiert, aber beides habe ich nie so recht zusammengedacht. Ich tue es erst jetzt. Vielleicht würde ich auch nur über Politik so schreiben.
JV: Wenn ich einen Gedanken noch mal aufgreifen darf: Ich finde es sehr interessant, dass sich der Aphorismus, auch wenn er fertig aus dem Hut zu springen scheint, immer in der Nähe mündlicher Rede bewegt. Konversation und Aphorismus sind ja Verwandte und spielen einander zu.
CM: Mir scheint das ambivalent. Auf der einen Seite stimmt es, und mir fallen auch mitunter Dinge im Gespräch ein, auf der anderen Seite ist der Aphorismus ein conversation-stopper. Der anderen wird etwas vor den Latz geknallt und die Erwartung ist gerade nicht, dass sie es kommentiert – sie wäre ja nur eine Spielverderberin, wenn sie deutete oder kommentierte. Aphorismen sind etwas sehr Thetisches, mitunter Imperatives. Man stelle sich einen der großen Meister vor: La Rochefoucauld sagt einen Satz, an dem er wahrscheinlich sehr lange gebastelt hat, und dann würde das Gegenüber anfangen, das als Beginn einer Konversation zu verstehen. Das wäre ein Missverständnis.
JV: Heinz Schlaffer hat ja mal gesagt, Aphorismen entstehen, wenn man aus der Gesellschaft kommt und in die Einsamkeit geht. Aphoristisch formuliert.
CM: Das ist sehr schön.
JV: Er ist die Frucht einer gesellschaftlichen Erfahrung, die aber nur geerntet werden kann, wenn ich wieder draußen bin, also wenn ich außerhalb bin.
CM: Ja, und man muss sich die Schreiber so vorstellen, dass sie die Gesellschaft mit der Erwartung besuchen, alles abzuschreiben, sich also schon in der Gesellschaft von dieser distanzieren. Das ist so wie bei den Autoren, die ihre Tagebücher für das Publikum niederschreiben. Wer in aphoristischer Art konversiert, ist mit einem Bein schon aus der Konversation oder sogar aus der Gesellschaft heraus.
JV: Du hast jetzt eben auch noch einmal sehr schön gesagt, dass Aphorismen conversation-stopper sind. Das stimmt. Mir ist zum Beispiel aufgefallen, wie du deine Paragrafen abschließt. Am aphoristischsten schreibst du tatsächlich am Ende eines Absatzes. Wenn du etwas zu Ende bringen möchtest, dann machst du das mit einer Sentenz. Zum Beispiel wenn du sagst: „Die Zukunft kann nur in der Gegenwart erfunden werden.“ Aphorismen sind oder haben Diskursgewalt. Sie funktionieren wie Messer, die etwas abschneiden, kürzen oder abschließen.
CM: Sehr interessant. Muss ich drauf achten. Und tatsächlich hat das wohl damit zu tun, dass mir am Anfang die Länge der Abschnitte nicht klar war. Die hat sich ausgemendelt. Das hatte im Schreibprozess zur Konsequenz, dass ich manche Stücke mit einer gewissen Gewalt beenden musste. Das ist die Machart, auch ein Problem. Aphorismen sind Produkte der Not: Platznot oder Zeitnot, manchmal echte Not, manchmal fingierte.
JV: Du hast noch eine andere Sache angesprochen, und zwar deine Leser. Wie wünschst du dir deinen idealen Leser oder wie sollte der mit deiner Schreibweise umgehen?
CM: Zunächst stört mich an der gegenwärtigen politischen Theorie, dass sie nicht für TeilnehmerInnen geschrieben ist, sondern aus einer Außenperspektive. Was macht man eigentlich, nachdem man Habermas und Rawls gelesen hat: eine neue politische Ordnung gründen? In Wirklichkeit liest man im Seminar das nächste Buch. Ich würde gerne für Teilnehmer an Politik schreiben. Deswegen würde ich mir die Leser so ausmalen, dass sie das Buch als eine Art Vademecum, als Nachschlagewerk bei sich tragen und nutzen. Der Traum wäre weniger jemand, der es von A bis Z liest und dann ins Regal stellt, sondern jemand, der drin rumliest und es immer mal wieder braucht.
JV: Man kann es vielleicht auch anders formulieren. Aphorismen formulieren nicht nur Einsichten, die aus Beobachtung entstehen, sie bieten auch ein Navigationswissen an, das mich in den Stand setzt, mich in einer gesellschaftlichen Situation klug zu verhalten. Sie ermöglichen Teilnahme, aber nicht im empathischen, sondern in einem strategischen Sinn und aus der Distanz heraus. Du hast ja auch mal gesagt, dass du während deines Studiums immer das Handorakel von Gracián mit dir herumgetragen hast, und du magst ja auch die Minima Moralia von Adorno sehr, die ja auch so ein Buch sind, das man mit sich herumträgt. Solche Sätze ermöglichen Teilnahme, aber unter dem Gesichtspunkt des Überlebens. Ich brauche sie, um heil aus einer komplizierten Sache herauszukommen. Von Gracián herkommend kann man sagen – und Hans Ulrich Gumbrecht hat es gerade wieder gesagt –, es ist eine Überlebenshilfe.
CM: Ja, mit allen Abstrichen und ohne Pathos ist das Buch als Überlebenshilfe gedacht. Im Ergebnis wird es nichts nützen, aber so ist die Anlage.
JV: Insofern ist der Aphorismus auch eine politische Form, weil er einen mit Menschenwissen ausstattet und Verhaltensregeln in der politischen Arena gibt. Und zwar nicht nach Aufrichtigkeitsgesichtspunkten, sondern nach Gesichtspunkten der Weltklugheit.
CM: Ja, ich denke, das ist typisch – man sieht es deutlich bei den großen Franzosen um 1650, La Rochefoucauld, Pascal: Das sind Leute, die einen sehr starken religiösen Bezug haben, aber bei denen zugleich klar ist, dass dieser religiöse Bezug so augustinisch gestrickt ist, dass er in der Gesellschaft nicht hilft. Es gibt Gott, aber er ist nicht da. Also braucht es second-best-Lösungen, die nicht universalisierbar sind, immer situativ und strategisch, nie moralisch, immer kurzreichweitig, nie für das große Ganze, sondern nur dazu, dass man sich durchschlägt. Das ist interessant, weil die literarische Form hier auch für die Ausdifferenzierung von Politik steht. Das Ganze unterscheidet sich praktisch nicht mehr relevant von dem Moment, in dem Gott völlig weg ist.
JV: Die Frage ist ja, ist der Aphoristiker ein Souverän oder ist er es nicht. Also, auf der einen Seite hat er natürlich diese große Fähigkeit der sprachlichen Prägung. Er hat bestimmte prognostische Fähigkeiten, das menschliche Verhalten betreffend. Aber auf der anderen Seite ist er genauso verstrickt und genauso Opfer von Abhängigkeiten wie alle anderen auch, nicht wahr? Er ist immer auch Höfling, er ist Subjekt im Wortsinn sozusagen, ein Unterworfener, Eingeschränkter, meist ein Melancholiker. Also er ist jemand, der überlegen und zugleich mittendrin ist und sich diese Überlegenheitsposition immer erst erarbeiten muss, von der aus er dann seine Sätze formulieren kann.
CM: Ja, wenn er denn souverän ist, dann nur in einem ästhetischen Sinn. Er beherrscht den Augenblick seiner Pointe – und er schafft sich Luft im höfischen Überlebenskampf. Diese Luft ist in der Lektüre der Augenblick der Diskontinuität, der Schritt vom einen zum nächsten Aphorismus. Da herrscht eine momenthafte Souveränität, nicht wahr? Könnte man sich so malen – die dann aber sofort wieder verschwindet.
JV: Aber wie ist das mit der sprachlichen Form oder der Denkform des Aphorismus?
CM: Es ist schon schwierig, weil es, aber du kennst dich viel besser aus, immer diese beiden Pole gibt. Es gibt den Pol des unfasslich geschliffenen Einsatzers, Kraus, der stundenlang an einem Komma sitzt, wie er sagt, und auf der anderen Seite das hingeworfene Fragment, eine Form, der man nicht trauen darf, weil das Hingehudelte natürlich oft nur so tut, als wäre es hingehudelt. Beide scheinen zur Form zu gehören.
JV: Das denke ich auch. Aphorismen sind ja geschlossen und offen gleichzeitig. Sie sind in jeder Weise paradox. Also, auf der einen Seite sind sie, wie Nietzsche gesagt hat, „geprägt und ausgegossen“ und auf der anderen Seite sind sie experimentell – eine Denkform, die, wie du sagst, Risiken eingeht, zukunftsoffen ist und einen Horizont öffnet, der die bekannten Gesetzmäßigkeiten infrage stellt. Daraus ergibt sich eine ganz irre Spannung. Also wie das zusammenkommt, dass ich einerseits etwas zu Ende formuliere und auf der anderen Seite genau mit dieser Schließung etwas öffne.
CM: Auf der einen Seite glaube ich manchmal, dass das Einzige, was die Aphoristik zusammenhält, die Partei der Aphoristiker ist, also der Leute, die glauben, dass es eine legitime Form ist, die der Form des durchgeschriebenen Textes ebenbürtig oder sogar überlegen ist. Bei Nietzsche ist das ganz stark: Es gibt die, die es kapieren mit der Aphoristik, und den blöden Rest. Erstere sind natürlich immer nur ein paar wenige und so weiter. Auf der anderen Seite ist doch interessant, dass es Cluster der Aphoristik gibt, die französische Moralistik, die Frühromantiker, eine Nietzsche-Rezeption bis Cioran und Adorno, die eigentlich noch andauert. Das wäre eine für die Literaturwissenschaftler, also für dich, Juliane, zu beantwortende Frage, ob, wann und warum es aphorismengeneigte Situationen in der Literaturgeschichte gibt. Wie kommt es, dass es in bestimmten Situationen so losgeht?
JV: Ja, sehr schön. Aber das kann ich jetzt auch nicht so leicht beantworten. Ich könnte vielleicht sagen, dass der Aphorismus eine Form der Notation oder Aufzeichnung ist, die dann entsteht, wenn Beobachtungen an die Stelle von verbürgtem, beglaubigtem Wissen treten, das heißt, wo etwas aufgebrochen wird. Er formuliert einen Gedanken oder eine Erfahrung, in denen das System noch nicht erwacht ist. Wo das Besondere erst beginnt, in das Allgemeine überzugehen, ohne dass man weiß, wie das ausgeht. Wo erst die Ahnung einer Gesetzmäßigkeit vorhanden ist. Die Frage ist nur, unter welchen Bedingungen sich Erfahrungen zu Aphorismen kristallisieren können. Was mich interessiert, sind einfach diese unterschiedlichen Grade der Artikulation oder die Grade der Pointierung, auch die Prozesse der Paradoxierung. Lichtenberg hat natürlich diese ganze Spannbreite: die mathematische Formel, das Satzfragment, aber auch die treffsichere witzige Sentenz. Es sind dann einfach Übergänge und die Beziehungen, die interessant sind.
CM: Das ist interessant. Jetzt, wo du es sagst, fällt mir erst auf, dass das Tolle an Lichtenberg ist, dass er so frei ist und gleichzeitig so gut, dass er seine unfertigen Aufzeichnungen stehen lassen kann, aber auch diese absolut perfektionierten Texte beherrscht, Sätze, die man sonst so vielleicht mit Kraus oder La Rochefoucauld verbindet. Das ist einmalig, oder?
JV: Ja, er hat das ganze Spektrum, wobei toll ist, dass er selbst seine Aufzeichnungen als Sudeln bezeichnet. Die Sudelbücher sind ja keine Reinschriften. Sie sind eigentlich nicht zur Veröffentlichung gedacht, sondern eher ein Riesen-Labor oder Riesen-Experimentierfeld und stehen außerhalb der Öffentlichkeit. Das führt mich zu einer anderen Frage. Wann findet das aphoristische Denken oder Schreiben in der Öffentlichkeit statt, also wann wird es Schaudenken? Und das ist ja vielleicht auch noch mal eine Frage an dich. Gibt es sowas wie Schaudenken bei dir?
CM: Auf jeden Fall. Es gibt immer noch Foren der Schlagfertigkeit und der Schnelligkeit. Reste davon finden sich in so unterschiedlichen Orten wie Talkshows und Gerichtsverfahren. – Was mir gerade in den Sinn kommt, wo wir über Lichtenberg reden, wenn ich mal so ganz freiweg assoziieren darf … Es gibt ja auch eine interessante Wahlverwandtschaft des Aphorismus zu den Naturwissenschaften, die heute nicht einfach zu verstehen ist: bei Francis Bacon, der ganz am Anfang der modernen Naturwissenschaften ausdrücklich sagt, dass seine aphoristische Form etwas mit Experimentalismus zu tun hat und dass man die empirische Wahrheit eigentlich nur so fangen kann. Das ist interessant, weil die Form doch sehr literarisiert oder entwissenschaftlicht worden ist. Bacon meint das wortwörtlich. Heute ist es aber Feuilleton, wenn man kleine Beobachtungen erhascht und aufschreibt, es ist weit weg von der kompletten Apparatisierung der Naturwissenschaften. Unser Permanent Fellow Raghavendra Gadagkar schreibt an einem Buch über billige Methoden, gegenwärtige Naturwissenschaften zu betreiben. Wie kann ich eigentlich einfach und preiswert relevante Naturwissenschaften ohne große Apparate, Organisationen und Versuchsanordnungen betreiben. Das ist natürlich noch mal das Ideal von jemandem, der einfach in die Welt schaut und zu ihrer wissenschaftlichen Beschreibung beiträgt.
JV: Aber dann ist die Frage, was aus dieser Beobachtungskultur geworden ist, die du ja eben noch mal beschrieben hast. Welchen Status hat heute die Einzelbeobachtung, wo wir so viele wissenschaftliche und technische Möglichkeiten haben, um Daten zu erheben, die sehr viel genauer sind als alles das, was wir selbst sehen und bemerken können? Ich bin mir nicht sicher, welche Rolle das heute spielt. Andererseits scheint es mir so zu sein, dass die Gründe dafür, dass das aphoristische Schreiben im Moment wiederkommt oder zumindest das Interesse daran wächst, mit den spezifischen Einschränkungen zu tun hat, die die Form auferlegt.
CM: Das gilt ja auch für die Literatur, was bemerkenswert ist, weil der Aphorismus literarisches Schreiben sein kann, aber nicht sein muss. Oft ist man unsicher über die Zuordnung, man sagt, der Schreiberling ist ansonsten Dichter, deswegen wird es ein literarischer Aphorismus sein. Diese Unsicherheit in der Zuordnung ist sehr ungewöhnlich und wahrscheinlich ein weiterer Grund dafür, dass Aphorismen auf Abneigung stoßen. Es gibt ja einen ganzen Kanon an Gründen, warum Aphorismen unbeliebt sind.
JV: Aber auch eine ganze Menge von Gründen dafür, dass sie beliebt sind. Zum Beispiel ihre Kürze. Du hast ja selbst einen Versuch gemacht, sozusagen den Aphorismus zu aktualisieren, indem du einen Kommentar über die deutsche Forschungspolitik im Twitter-Format vorgetragen hast. Vielleicht kannst du kurz noch mal sagen, was da deine Erfahrungen waren.
CM: Das war ja erstmal die Reaktion auf einen Text von Peter Strohschneider, den ich aufspießen wollte, weil er mit einer bildungsbürgerlichen, aber auch wieder eminent politischen Haltung den politischen Kampf gegen den Autoritarismus mit dem gegen den Twitter-Text verbunden hat. Hier das ambivalenzoffene Argument einer freiheitlichen Debatte, dort der verkürzende Twitter-Mob. Das glaube ich so nicht. Vereinfachung und Verdichtung sind legitime Mittel auch von Politik. Auf der anderen Seite bin ich nicht sicher, ob Twitter ein aphoristisches Medium ist. Die permanente Dokumentation von Reaktionen, die ganze Ungeduld hat mit der Form des Aphorismus nicht viel zu tun. Aphorismen haben auch etwas mit der Asymmetrie von Schreiberin und Leser zu tun, die man bei Twitter so nicht hat. Trotzdem gibt es tolle Sachen auf Twitter, die auch aphoristisch gut sind. Gleichzeitig scheint mir die Kurzform aufschlussreich, weil sie transparent macht, dass wir eh immer nur in kurzen Absätzen lesen. Roland Barthes hat in einem schönen Text über einen unbeliebten Roman von Butor beschrieben, wie verhasst solche Diskontinuitäten sind, weil eines der Dogmen der literarischen Kritik der Lesefluss ist. Man taucht in den Text ein und schwimmt ungehindert weiter. Deswegen sind die Leser gereizt von aphoristischen Unterbrechungen. Das nimmt ihnen ihre Vorstellung davon, wie Literatur sein soll. Doch bleiben die Diskontinuitäten so oder so. Die Leser brechen ab, weil sie aufs Klo müssen oder das Telefon klingelt. Und wenn man zwanzig Seiten Fließtext mit siebzig Absätzen liest, dann muss man erst einmal überschauen, ob der eine Absatz sinnvoll in den anderen übergeht. Dagegen nötigt der permanente Bruch in einer Sammlung von Aphorismen dazu, zu überlegen: Warum bin ich gerade hier und nicht dort? Generell wird sehr oft Länge mit intellektueller Seriosität gleichgesetzt. Ein ganz skurriles Phänomen, nicht?
JV: Das ist natürlich ein interessantes Formprinzip, das du beschreibst. Es ist sogar für den Roman sehr aufschlussreich, der ja viele Formen der aphoristischen Selbstunterbrechung kennt. Schon die Wahlverwandtschaften funktionieren ja so. Oder die Romane von Thomas Bernhard. In seiner Erzählung Amras sind diese Sätze sogar nummeriert. Aphorismen werden ja immer wieder nummeriert, von Herausgebern oder von Autoren. Das fällt natürlich auch an den Freiheitsgraden auf, dass die Sätze oder deine Paragrafen nummeriert sind. Was ist für dich die Erotik dieser Nummerierung?
CM: Die Nummerierung ist ziemlich unerotisch. Ich habe hinterher unter Schock festgestellt, dass meine geliebte Gracián-Sammlung im Original gar nicht nummeriert ist, sondern die Nummern hinzugefügt wurden. Bei mir haben die Nummern, daran wird man auch eine entschiedene Halbherzigkeit festmachen können, etwas mit den Binnenverweisen zu tun, also mit der Idee, die Leser nichtlinear durch den Text zu leiten. Das ist ästhetisch unbefriedigend, schien mir aber für eine Lektüre notwendig, bei der man mehr vom Buch hat. Ansonsten bin glücklich, dass die Anlage krumm und schief ist: 349 Stücke.
JV: Ja, das ist natürlich eine gute Erklärung.
CM: Eine enttäuschende, aber gute Erklärung. – Man muss dazu sagen, dass es auch zu Aphorismen gehört, dass sie nie einzeln auftreten, ohne dass klar würde, was sie außer Leim und Pappe zusammenhält. Mit Ausnahme der wirklich mündlichen Aphoristiker, Leuten wie Talleyrand, die einfach sprühten, während andere mitschrieben, sind doch alle anderen immer in der Verlegenheit, ihre Aphorismen zu sortieren – und umzusortieren. Sie können nolens volens nicht anders, als zu gucken, was steht eigentlich im Aphorismus vorher oder nachher, während sie einen niederschreiben.
JV: Man wird also immer von einem Satz auf den nächsten verwiesen. Diese einzelnen Sätze sprechen ja auch miteinander. Das permanente Gespräch zwischen den Aphorismen äußert sich auch in permanenten Umordnungen. Diese Ordnungen sind ja auch nie stabil. Das ist dann so eine modulare Form, die einer anderen, nämlich kombinatorischen Logik folgt. Ganz anders als Texte, die linear organisiert sind. Das finde ich einfach auch etwas sehr Modernes.
CM: Es ist etwas sehr Modernes, weil es die Behauptung des Systems auf eine fast schon körperlich schmerzhafte Weise unterläuft und man immer sagen will, hach, es müsste doch den Ort geben oder es müsste doch den Satz geben, der jetzt folgt, und gleichzeitig wird eine Kontingenz präsent, die in systematischen Texten auch da ist, einem aber nicht so unter die Nase gerieben wird. Am dramatischsten ist es bei der Literatur zu Pascal, die nicht wahrhaben will, dass Pascal mit den Pensées nur dieses Stückwerk hinterlassen hat, und in immer neuen Ansätzen versucht zu sortieren und sich dann fragt, ob im Durcheinander doch Sinn verborgen ist oder er nur einfach zu früh gestorben ist. Das quält bis heute. Solche Qualen sind auch ein Grund dafür, dass der Aphorismus verhasst ist. Er transportiert zu viel Beliebigkeit.
JV: Nietzsche spricht ja sehr schön von der viereckigen Dummheit von Systemen …
CM: Das ist super.
JV: Kann man sagen, das ist dem Aphorismus nicht vorzuwerfen. Ich weiß nicht, welche geometrische Form du ihm zuordnen würdest.
CM: Ja, ist interessant. Etwas Asymmetrisches, Vieleckiges jedenfalls. Nietzsche ist wahrscheinlich auch der Einzige, der es geschafft hat, in der Philosophie mit dieser Form kanonisiert zu werden, wenn man jetzt mal die Vorsokratiker auslässt, gegen die es eine platonische Polemik gibt, die auch mit der Form zu tun hat. In der Philosophie haben es die Aphorismen wahrscheinlich besonders schwer. Das spricht nicht für sie, die Philosophie.
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Fotos: © Maurice Weiss