Corinna Mieth, Dr. phil.
Professorin für Philosophie
Ruhr-Universität Bochum
Geboren 1972 in Reutlingen, Deutschland
Studium der Philosophie und Neueren Deutschen Literatur an der Universität Tübingen und der Universität Bonn
Arbeitsvorhaben
Stabilität, Kompromiss und Konsens: Zur Bedeutung von Zusammenhalt in Zuwanderungsgesellschaften
In der philosophischen Diskussion wurden die Herausforderungen in pluralistischen oder multikulturellen Gesellschaften insbesondere von John Rawls und Will Kymlicka untersucht. Sie beziehen sich auf die normativen Grundlagen von Institutionen, die das Zusammenleben unter Bedingungen des Multikulturalismus ermöglichen. Dabei geht es bei Rawls vor allem um die Stabilität einer Gesellschaft: Aus verschiedenen, sich teilweise ausschließenden religiösen und moralischen Lehren, insofern sie "vernünftig" seien, könne ein "überlappender Konsens" entstehen. Weltanschauungen zugunsten vernünftiger Lehren zu verändern, ist freilich schwierig. Die Frage stellt sich für mich neu: Sind angesichts nicht vernünftiger Lehren (oder Interpretationen) Kompromisse möglich? Können sie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen? Ein Kompromiss verständigt sich mit anderen, nicht geteilten Auffassungen. Die eigene Position kann dann nicht mehr vollgültig durchgesetzt werden. Ein Konsens im Sinne von Rawls ist dagegen eine Übereinstimmung. Kompromisse sind oft angesichts der erforderlichen Konzessionen, denen Gewohnheiten und Mentalitäten entgegenstehen, nicht leicht umzusetzen. Psychologische Hindernisse bestehen in allem, was als Bedrohung der eigenen Identität und Lebensweise wahrgenommen wird. Soll man seine eigene Position zugunsten von jemand einschränken, der sich selbst gar nicht bewegt? Praktiken der Kompromissfindung müssen gemeinsam erarbeitet und verhandelt werden, um einen modus vivendi zu finden. Dann kann es trotz bleibender Hindernisse zu mehr Zusammenhalt kommen.Lektüreempfehlung
Mieth, Corinna und Jakob Rosenthal. "Spielarten des Moralismus." In Moralismus, herausgegeben von Christian Neuhäuser und Christian Seidel. Berlin: Suhrkamp, im Erscheinen.
Mieth, Corinna. "Morality and Happiness: Two Precarious Situations?" In Dimensions of Practical Necessity, herausgegeben von Katharina Bauer, Somogy Varga und Corinna Mieth, 237-252. New York: Palgrave Macmillan, 2017.
-. "Hard Cases Make Bad Law. Über tickende Bomben und das Menschenrecht nicht gefoltert zu werden." In Zur Praxis der Menschenrechte: Formen, Potenziale und Widersprüche, herausgegeben von Michael Reder und Mara-Daria Cojocaru, 85-103. Stuttgart: W. Kohlhammer, 2015.
Kolloquium, 01.12.2020
Demokratischer Zusammenhalt und Kompromisse
Im ersten Teil gehe ich kurz auf die philosophische Debatte zur Migration ein. Befürworter offener Grenzen verteidigen eine Intuition der kosmopolitischen Solidarität aus moralischen Gründen: Wird Kants Idee geteilt, dass jeder Mensch den gleichen moralischen Wert hat, gibt es keinen vernünftigen moralischen Grund, Einwanderer auszuschließen. Die Befürworter geschlossener Grenzen hingegen berufen sich auf die Intuition der Stabilität und führen entsprechend Argumente an, die auf sozialem Vertrauen in Institutionen basieren, das seinerseits im Gedanken der Nation verankert wird. Allerdings kann die Stabilitätsintuition auch mit moralischen Gründen verteidigt werden, ohne die Solidaritätsintuition aufzugeben, wenn demokratische Stabilität als Voraussetzung für die Realisierung kosmopolitischer moralischer Ideale gedacht wird.
Im zweiten Teil werde ich mir genauer ansehen, was Stabilität in diesem Zusammenhang bedeutet. Meine Idee besteht nicht in der Annahme, dass demokratische Stabilität von kultureller Homogenität oder Nationalismus abhängt. Im Gegensatz dazu versuche ich zu zeigen, dass demokratische Stabilität auf demokratischem Zusammenhalt basiert: also der Art, wie demokratische Institutionen durch Bürgerinnen und Bürger unterstützt werden. Das ist besonders wichtig, wenn es um konkurrierende Interessen und Werte geht. Die Idee von sozialem Zusammenhalt ist hier ambivalent: Je mehr Zusammenhalt innerhalb sozialer Gruppen oder politischer Parteien besteht, desto weniger kann demokratischer Zusammenhalt die Folge sein. Demokratischer Zusammenhalt bezieht sich auf ein gemeinsames Verständnis von demokratischen Institutionen, fairen Verfahren und die Bereitschaft, ihre Ergebnisse zu akzeptieren.
Wie kann mehr demokratischer Zusammenhalt erreicht werden? Um diese Frage zu beantworten, schlage ich im dritten Teil ein Modus-Vivendi-Modell vor, das eine dynamische Konzeption demokratischer Kompromisse erlaubt, die von faulen Kompromissen unterschieden werden können. Das in der politischen Philosophie vorherrschende Modell des Konsenses ist eher statisch, da es das Kriterium der Vernünftigkeit enthält, das bestimmte Konzeptionen ausschließt. Der vielversprechende Aspekt am Kompromiss ist, dass sich, um einen Kompromiss zu erzielen, beide Seiten bewegen müssen und im erzielten Kompromiss wichtige Interessen beteiligter Parteien repräsentiert werden, so dass der demokratische Zusammenhalt verbessert wird.
Am Ende werde ich meine Überlegungen auf das Argument der demokratischen Stabilität in der Migrationsdebatte zurückbeziehen.
Publikationen aus der Fellowbibliothek
Mieth, Corinna (Berlin, 2022)
Blind spots in the formula of humanity : what does it mean not to treat someone as an end?
Mieth, Corinna (New York, London, 2021)
Poverty, dignity, and the kingdom of ends
Mieth, Corinna (Baden-Baden, 2021)
Migration, stability and solidarity International politics: perspectives from philosophy and political science ; volume 4
Mieth, Corinna (Ditzingen, 2020)
Gerechtigkeit als Fairness Justice as fairness
Mieth, Corinna (Frankfurt am Main, 2019)
Grundlegung zur Metaphysik der Sitten Suhrkamp Studienbibliothek ; 2
Mieth, Corinna (Cham, 2017)
Morality and happiness : two precarious situations
Mieth, Corinna (Cham, 2017)
Dimensions of practical necessity : "Here I stand. I can do no other."
Mieth, Corinna (Berlin, München, Boston, 2016)
On human rights and the strenght of corresponding duties
Mieth, Corinna ([Stuttgart], 2016)
Mieth, Corinna (Stuttgard, 2015)
Hard cases make bad law : über tickende Bomben und das Menschenrecht nicht gefoltert zu werden