Selbstsorge, Lebenskunst und Subjektivität in Kultur, Literatur und Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit
27.–28. April 2023
Der Workshop fragt im Einklang mit dem Forschungsvorhaben von Maximilian Benz nach der Emergenz moralischer Subjektivität an der Schwelle zur Neuzeit. Der Titel des Vorhabens ist merklich von einer Denkfigur des späten Michel Foucault beeinflußt, der sich gerade im zweiten Band seiner Histoire de la sexualité (L’usage des plaisirs, Paris 1984) mit der Frage befaßte, wie sich Moralsubjekte konstituieren. Im Ausgriff auf die pagane Antike erkannte Foucault dabei zwar „keine konkreten Alternativen, sondern Platzhalter oder Zeichen für die grundsätzliche Gestaltbarkeit und Transformierbarkeit von Selbstbezügen“, wie es unser Fellow Martin Saar formulierte, Foucault stellte damit aber die antike Lebenskunst und ihr Ethos dem Christentum gegenüber. Mit der kürzlich erfolgten posthumen Publikation des vierten Bands der Histoire de la sexualité (Les aveux de la chair, Paris 2018) verliert sich dieser dichotome Zugriff zusehends. Es bietet sich deshalb an, hinter den großen von Foucault gesetzten Rahmen zurückzutreten und mit Blick auf Fragen der Lebenskunst auch im kritischen Anschluß an Pierre Hadot (Qu’est-ce que la Philosophie antique?, Paris 1995, 379–407) oder Juliusz Domański (La Philosophie, Théorie ou Manière de vivre? Les controverses de l’Antiquité à la Renaissance, Freiburg 1996) ein spezifisches, von Foucault überhaupt nicht untersuchtes Raumzeitsegment zu fokussieren: das spätmittelalterliche Reich und darin die ‚Selbsttechniken‘, die unter dem Rubrum der imitatio Christi beispielsweise in der Mystik und in der Devotio moderna ausgebildet wurden. Inwiefern lassen sich hier Ansätze zu einer ‚christlichen Lebenskunst‘ greifen?
Dabei geht es auch darum, eine „Vor- und Verfallsgeschichte“ (Oliver Jahraus über Band zwei und drei von Foucaults Histoire de la sexualité) durch eine Komplementärgeschichte moralischer Subjektivität zu korrigieren, die nicht die ‚Entdeckung‘ von etwas hervorhebt, das dann für die Moderne entscheidend geworden wäre, sondern die ‚Selbsttechniken‘ in spezifischen christlichen Zusammenhängen beschreibt, die durchaus im Sinne einer ‚Ästhetik der Existenz‘ gefaßt werden können: Man erkennt hier in zum Teil langwelligen Transformationsprozessen zunächst latente, dann zunehmend manifeste Formen spezifisch moralischer wie allgemein reflexiver Subjekthaftigkeit, die nicht im Sinne der von Hans Blumenberg postulierten „Selbstbehauptung“ zu verstehen sind und die zeigen, daß es zu kurz greift, wenn Foucault meinte, daß die Integration der Selbsttechniken ‚in die Ausübung einer Pastoralmacht‘ Gewicht und Autonomie von Selbsttechniken restringiere.
Es ist offensichtlich, daß der von mir avisierte Prozeß in einem größeren Zusammenhang gesehen werden muß; die beschriebenen Entwicklungen zwischen Philosophie, Theologie, Geschichts-, Kunst- und Literaturwissenschaft (und darin auch zwischen deutscher, romanischer und lateinischer Philologie) sollen im Rahmen des interdisziplinären Workshops diskutiert werden. Diesseits von meiner auf die Transformationen der imitatio Christi ausgerichteten Perspektive sollen Formen allgemein reflexiver oder spezifisch moralischer Subjektivität, Aspekte der Selbstsorge und die Transformation von Selbsttechniken in Kultur, Literatur und Kunst des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit untersucht werden. Es dürfte an der Dominanz der säkularen Option für die Selbstbeschreibungen der Moderne liegen, daß die Ansätze einer genuin christlichen Lebenskunst gegenüber dem dominant wahrgenommenen Normcharakter der christlichen Ethik kaum bedacht werden. Welchen Beitrag leistet beispielsweise die Reform des 15. Jahrhunderts? Welche Umakzentuierungen gegenüber theologischen Vorgaben lassen sich mit Blick auf Predigten beobachten? Gibt es in der bildkünstlerischen Darstellung ähnliche Dezentrierungen, die vorderhand unter dem Rubrum der Christusmeditation eingeordnet doch auch Umbesetzungen erkennen lassen? Welche Rolle spielen schließlich Rekurse auf antike Wissensbestände, von denen aus die Frage nach der cura sui ebenfalls adressiert werden kann?
Convener
2022/2023
Maximilian Benz
Professor für Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit
Kontakt
Teilnehmer
Manfred
Eikelmann
Ruhr-Universität Bochum
Julia
Gold
Universität Bielefeld
Johannes
Grave
Friedrich-Schhiller-Universität Jena
Andreas
Kablitz
Universität zu Köln
Stefan
Klein
Universität der Künste Berlin
Henrike
Manuwald
Georg-August-Universität Göttingen
Steve
Riedl
Universität Bielefeld
Bernd
Roling
Freie Universität Berlin
Friedrich
Vollhardt
Ludwig-Maximilians-Universität München