Ausgabe 16 / Juni 2021
HE 1327-2326 mon amour
Stefan Klein
Die Astronomin Anna Frebel mag kleine Lichter und hegt wenig Vorliebe für das Vertraute. Ideale Voraussetzungen, um sich ins Weltall zu stürzen, und sei es nur per Teleskop und Theorie
Stefan Klein: Frau Frebel, wann begannen Sie, sich für Sterne zu interessieren?
Anna Frebel: Auf jeden Fall, bevor ich zehn war. Damals schaute ich Star Trek und wollte Captain Picard sein. Aber dann sah ich in einer Doku, wie die Kosmonauten in Kasachstan in eine Zentrifuge gesteckt wurden, damit sie sich an die Beschleunigung beim Raketenstart gewöhnen. Da wurde mir klar, dass ich mich als Astronautin nicht eigne. In den Weltraum zog es mich trotzdem. Und was ist das Nächstbeste? Sterne zu gucken.
SK: Haben Sie einen Lieblingsstern?
AF: Wenn man mit seinen Sternen lange gearbeitet hat, mag man die schon sehr gerne, weil man sie so gut kennt und mehr über sie weiß als jeder andere. Daher: HE 1327-2326. Ich entdeckte ihn im Jahr 2005. Und immer noch finden wir Neues über ihn heraus.
SK: Wo ist HE 1327-2326? Und wie sieht er aus?
AF: Im Sternbild Wasserschlange, südlich des Himmelsäquators, ungefähr 5000 Lichtjahre von uns entfernt. Für uns Astronomen also fast nebenan. Mit einem Amateurteleskop kann man ihn finden. Vielleicht würden Sie eine leichte bläuliche Färbung bei ihm feststellen. Aber eigentlich sehen Sterne immer langweilig aus. Sie alle sind ja nur so kleine Lichter. Ich mag kleine Lichter.
SK: Sie haben eine emotionale Beziehung zu ihrem Forschungsobjekt.
AF: Ein bisschen. HE 1327-2326 macht mich sentimental, weil er mich an die guten alten Zeiten erinnert. Als ich ihn entdeckte, war ich Doktorandin in Australien. Das waren aufregende und beflügelnde Jahre. Ich lernte tolle Leute kennen, fand Dinge heraus, von denen auf einmal die ganze Welt wissen wollte. Ich arbeitete an einem älteren Teleskop inmitten eines riesigen Nationalparks mit unzähligen Kängurus. Einmal, während meiner längsten Beobachtungskampagne, wurden wir von einem Buschfeuer eingeschlossen. Zum Glück zog das Feuer am Observatorium vorbei.
SK: Sie fanden HE 1327-2326, als Sie von Australien aus nach besonders eisenarmen Sternen suchten. Warum suchten Sie nach solchen Sternen?
AF: Weil solche Sterne sehr alt sind und uns viel über die Entstehung des Universums erzählen. Die Elemente bilden sich ja durch Kernfusion in den Sternen. Nach dem Urknall bestand das Universum nur aus Wasserstoff, Helium und Spuren von Lithium. Mit der Zeit kamen immer mehr von den schwereren Elementen hinzu. Je weniger Eisen ein Stern enthält, desto ursprünglicher muss er also sein. Und HE 1327-2326 war, als wir ihn entdeckten, der eisenärmste Stern überhaupt. Übrigens fehlte nicht viel, und ich hätte den Zettel mit den Sternnamen in den Papierkorb geschmissen. HE 1327-2326 stand schon auf meiner Abschussliste der uninteressanten Objekte. Aber dann beschloss ich, vorsichtshalber noch einmal meinen Betreuer zu fragen. Zum Glück war mir bewusst, wie viel Erfahrung mir fehlte.
SK: Sie waren 25. Was hatte Sie darauf gebracht, sich für die ältesten Sterne zu interessieren?
AF: Chemie, Kernphysik und stellare Astronomie faszinierten mich schon in der Schule. Mit 16 Jahren habe ich dann ein Praktikum an der astronomischen Sternwarte in Basel gemacht. Damals war das Alter des Universums noch recht unbestimmt. Man glaubte, es liege irgendwo bei 20 Milliarden Jahren, und stritt sich über den Wert der Hubble-Konstante.
SK: Das ist die Geschwindigkeit, mit der das All seit dem Urknall expandiert.
AF: Die Proportionalitätskonstante dieser Expansion, um genau zu sein. Man kann aus ihr das Alter des Universums berechnen. Es gab zwei Lager, die sich bis aufs Messer bekriegten. Im einen Camp behauptete man, die Hubble-Konstante sei 55, im anderen 100. Heute wissen wir: Der wahre Wert liegt genau in der Mitte. Der Anführer eines dieser Lager war der Direktor der Sternwarte in Basel. So bekam ich etwas mit von der Geschichte dieses Wettbewerbs, ohne dessen Bedeutung zu verstehen. Es ging ja um die zentrale Frage der Kosmologie.
SK: Mir scheint, dies ist eine der bedeutendsten und zugleich am meisten unterschätzten Erkenntnisse des 20. Jahrhunderts: Das Universum ist nicht ewig, es hat eine Geschichte. Und wenn man es verstehen will, muss man nicht nur die Naturgesetze, sondern auch diese Geschichte verstehen.
AF: Ja. Als der Amerikaner Edwin Hubble 1929 entdeckte, dass Galaxien sich umso schneller von uns entfernen, je weiter sie entfernt sind, war die Revolution nicht mehr aufzuhalten. Zwei Jahre zuvor hatte der belgische Astronom und Priester Georges Lemaître die Expansion schon theoretisch vorhergesagt. Daraus ergab sich: Es gab einen Anfang, an dem alle Materie in einem Punkt konzentriert war.
SK: Heute nennen wir diesen Anfang Urknall. Albert Einstein wollte nicht daran glauben. „Ihre Rechnungen sind korrekt, aber ihre Physik ist abscheulich“, schrieb er Lemaître.
AF: Einstein wollte ein statisches Universum. Darum ergänzte er seine Gleichungen der Relativitätstheorie, aus denen sich die Ausdehnung des Weltalls ergibt, um eine Konstante, also eine Zahl, die in der Gleichung dafür sorgen sollte, dass das Universum wie durch ein Gummiband in Form gehalten wird. Er hat also an der Mathematik gedreht, damit das Universum seinen Vorstellungen entspricht.
SK: Später bereute Einstein seine Meinung. Er bezeichnete sie als „die größte Eselei meines Lebens“.
AF: Ja, in den 1950er- und 1960er-Jahren gab es dann die ersten kosmologischen Modelle eines sich entwickelnden Universums.
SK: Trotzdem blieb die Entwicklung des Universums umstritten. Der bedeutende britische Astronom Fred Hoyle machte sich noch in den 1960er-Jahren über den „Big Bang“ lustig. So nannte er den damals noch umstrittenen Anfang der Zeit. Er war davon überzeugt, das Weltall sei ewig.
AF: Dabei war es Hoyle, der mit drei Kollegen in einer bahnbrechenden Arbeit die Entstehung der Elemente erklärte!
SK: Erst im Jahr 2003 war die Diskussion um das Alter des Universums plötzlich beendet. Satelliten hatten mit großer Genauigkeit die kosmische Hintergrundstrahlung vermessen – ein Nachglühen des Urknalls, das noch immer den Weltraum erfüllt.
AF: Da war ich gerade nach Australien gekommen. Ich erinnere mich noch an die Konferenz, auf der uns bekanntgegeben wurde, der Urknall sei vor 13,7 Milliarden Jahren geschehen.
SK: Unmittelbar nach dem Urknall war das Universum sehr einfach. Eigentlich gab es nur Strahlung – und die Naturgesetze.
AF: Eine enorme Temperatur bestimmte alles. Wenn man diese Physik versteht, was schwer genug ist, lassen sich die Geschehnisse gut nachvollziehen. Sie haben sogar eine gewisse Eleganz.
SK: Das Weltall kühlte sich ab, nach ungefähr 30 000 Jahren formten sich die ersten leichten Atome.
AF: Aus den Atomen, die als Gas durch den Weltraum drifteten, bildeten sich die ersten Sterne und in den Sternen wiederum die Elemente, aus denen Sie und ich bestehen. Aber das geschah erst ungefähr 300 Millionen Jahre nach dem Urknall. Wie es dazu kam, haben wir noch lange nicht vollständig verstanden.
SK: Erscheint es Ihnen nicht seltsam, dass wir über die ersten Anfänge der Welt mehr wissen als über die Geburt der Himmelskörper, die uns umgeben, und der Elemente, aus denen wir bestehen?
AF: Die Entstehung der ersten Strukturen führte zu unglaublich vielen Rückkoppelungen, und die machen uns Forschern das Leben schwer. Abhängig davon, welche Masse so ein Stern hat, werden verschiedene Elemente gebildet. Wenn der Stern schließlich als Supernova explodiert, werden diese Elemente ins All geschleudert und beeinflussen die nächste Sternengeneration. Dann fliegt in so ein Gebiet plötzlich noch eine fremde kleine Galaxie rein, die mischt das wieder alles auf, und schließlich kommt der ganz normale kosmische Wahnsinn zum Vorschein ...
SK: … dem wir letztlich unsere Existenz verdanken.
AF: Immerhin konnten Kollegen, die diese Vorgänge mit Supercomputern simuliert haben, in den vergangenen Jahren wunderbare Fortschritte erzielen.
SK: Können Sie sich diese Prozesse eigentlich vorstellen?
AF: Vor meinem inneren Auge sehe ich das Universum in 3-D und in Farbe. Ich kann das schwer beschreiben. Manchmal fühle ich mich wie in einem Puppenhaus, dessen Zimmer ich mir ansehe. Dann überlege ich, wo ein Bett stehen könnte und wie die Küche eingerichtet sein müsste, damit alles passt. Wir Wissenschaftler suchen ja immer nach dem, was fehlt.
SK: Laufen Sie in dem Puppenhaus herum? Immerhin hatte das Universum schon einen Durchmesser von fast zehn Millionen Lichtjahren, als die ersten Sterne aufleuchteten.
AF: Die Abmessungen bedeuten ja nur, dass es lange dauert, von einem Ende zum anderen zu kommen. Wenn man beliebig schnell reisen kann, sind sie kein Hindernis mehr.
SK: Leider verbietet die Relativitätstheorie, sich schneller als das Licht zu bewegen.
AF: In meiner Fantasie muss ich mich nicht daran halten. Meine Mutter sagte immer, ihr werde schwindlig, wenn ich von meinen Lichtjahren erzählte. Sie könne sich das nicht vorstellen. Aber meine Mutter reist auch nicht gerne. Sie mag das Vertraute. Mich langweilt das Vertraute.
SK: Irgendwann war das Puppenhaus jedenfalls so weit, dass wir einziehen konnten ...
AF: Ja. Als es genug Kohlenstoff gab, auf dem das irdische Leben beruht.
SK: Unsere Körper bestehen zu einem großen Teil aus Kohlenstoff. Er ist das häufigste Element in jedem Organismus, wenn man einmal vom Sauerstoff absieht. Ohne Kohlenstoff kein Stoffwechsel.
AF: Erst einmal musste der Kohlenstoff entstehen. Er bildete sich auf erstaunliche Weise: In Sternen verschmelzen zwei Heliumatome zu Beryllium-8 und dieses dann mit einem weiteren Heliumatom zu Kohlenstoff. Weil aber das Beryllium-8 überaus kurzlebig ist, funktioniert der Prozess nur durch sehr delikate Resonanzen zwischen Kohlestoff-, Helium- und Berylliumkernen.
SK: Man kann sich diese Resonanzen wie in einem Musikinstrument vorstellen. Würde eine Geige nur aus ihren Saiten bestehen, wäre sie kaum hörbar. Erst im Resonanzkörper schaukeln sich die Schwingungen so stark auf, dass sie sich enorm verstärken. Dazu muss aber der Resonanzkörper genau auf die Tonhöhen der Saiten abgestimmt sein.
AF: Genau so kommt es zur Kohlenstoffsynthese. Zufällig entsprechen die Energieniveaus der Atomkerne von Beryllium-8 und Helium, die miteinander verschmelzen, genau dem des Kohlenstoffs. Ohne diese Resonanz wäre der Prozess viel zu unwahrscheinlich, um nennenswert Kohlenstoff zu erzeugen. Wie heikel dieser Vorgang ist, erkannte ebenfalls als Erster Fred Hoyle, der den Urknall verspottete. Laborversuche haben ihn bestätigt.
SK: Glauben Sie an einen Zufall? Hoyle zweifelte daran. „Ein höherer Intellekt muss die Eigenschaften des Kohlenstoffatoms entworfen haben“, spekulierte er. „Wären nur die blinden Kräfte der Natur im Spiel, wären die Chancen, ein solches Atom zu finden, minimal.“
AF: Das Zusammenspiel der Naturgesetze ist wunderbar. Auch seinetwegen bin ich Wissenschaftlerin. Selbst wenn wir vieles noch nicht verstehen, vertraue ich doch darauf, dass alles beschreibbar und erklärbar ist – selbst wenn ein Zusammenhang extrem komplex oder unglaublich erscheint. Wir leben in einem Universum, in dem es Kohlenstoff gibt. Infolgedessen können wir uns darüber Gedanken machen. In einem anderen Universum, falls es so eins gibt, wäre wohl alles anders. Insofern mag es eher Zufall sein, dass wir uns in genau diesem Universum unterhalten, in dem das Kohlenstoffatom so aufgebaut ist, wie es ist.
SK: Aber die Frage bleibt, ob die Naturgesetze allein die Entstehung des Kohlenstoffs erklären können. Es mussten obendrein bestimmte Bedingungen herrschen, damit die Reaktion überhaupt in Gang kam.
AF: Ich würde sagen, die Naturgesetze und die Geschichte spielten zusammen. Erst bei Temperaturen von über zehn Millionen Grad zündet die Kohlenstoffsynthese im Sterninnern. Das ist mehr als das Sechsfache der Kerntemperatur unserer Sonne. Wären in den ersten Sternen, die ungefähr 300 Millionen Jahre nach dem Urknall entstanden, nicht solch hohe Temperaturen aufgetreten, dann würden wir beide mangels Kohlenstoff jetzt nicht hier sitzen.
SK: Vielleicht wäre Leben auf Grundlage von Silizium entstanden.
AF: Ich fürchte, es wäre gar nicht so weit gekommen. Kohlenstoff ist nicht nur eine Basis des Lebens, er war auch entscheidend für die Entwicklung des Kosmos. Die erstgeborenen Sterne bestanden nur aus Wasserstoff und Helium. Sie waren sehr massereich, 20- bis 100-mal schwerer als die Sonne, und brannten sehr hell. Aber schon nach wenigen Jahrmillionen explodierten sie als Supernovae. In solch kurzer Zeit können keine komplexen Strukturen, keine Galaxien, keine Planetensysteme entstehen. Hätte es nur diese Sterne gegeben, wäre das Universum ziemlich langweilig geblieben. Und doch verdanken wir ihnen alles. Sie erbrüteten den ersten Kohlenstoff und andere schwere Elemente und schleuderten das alles in ihren Explosionen in den Weltraum hinaus.
SK: Wir bestehen aus der Asche dieser frühesten Sterne?
AF: Nicht nur wir. Die Gase, die bei den Explosionen in den Weltraum gelangten, zogen sich durch ihre Gravitation wieder zusammen. Neue Sterne zündeten aus ihnen. Und der Kohlenstoff war ein ideales Kühlmittel. Er ermöglichte die Entstehung von Sternen ähnlich der Sonne, die viel langsamer brannten. Die meisten dieser Sterne der zweiten Generation leuchten noch heute.
SK: Wie Ihr Lieblingsstern HE 1327-2326.
AF: Er steht wohl seit 13 Milliarden Jahren am Himmel. In den letzten Jahren wurden Sterne gefunden, die sogar noch etwas älter sind.
SK: HE 1327-2326 und seine Kollegen sind beinahe dreimal so alt wie die Sonne. Ist es eigentlich vorstellbar, dass in ihrer Umgebung schon damals Planetensysteme entstanden und somit vielleicht sogar Leben?
AF: Kaum. Es gab noch zu wenig von allen schweren Elementen. Der Eisenanteil etwa in HE 1327-2326 ist hunderttausendmal geringer als in der Sonne. In einem solchen Milieu können sich höchstens primitive Gasriesen wie Jupiter bilden – wenn überhaupt.
SK: Schade.
AF: Und leichte Sterne wie HE 1327-2326 tragen kaum etwas zur Anreicherung des Weltalls mit Metallen bei. Astronomen bezeichnen alle Elemente, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind, als „Metalle“, also auch Kohlenstoff. Neben den leichten langlebigen Sternen wie HE 1327-2326 wurden auch weiterhin massereiche Sterne geboren, die immer schnell ausbrannten, explodierten und nach ihrem Tod wieder Elemente freisetzten. Vor einigen Jahren fanden wir auch heraus, wie die schwereren Elemente bis hin zu Uran entstehen. Ich stillte gerade meinen Sohn, als nachts um zwei Uhr ein Doktorand anrief, der in Chile am Teleskop saß. Er hatte eine kleine Galaxie voller Sterne gefunden, die alle große Mengen an schweren Elementen besaßen. Wir konnten zeigen, dass diese beobachteten schweren Elemente wohl das Produkt einer Kollision von zwei sogenannten Neutronensternen sein müssten, die vor der Geburt unserer Sterne stattgefunden haben muss. Ein Jahr später gelang es, die Existenz solcher Zusammenstöße von Neutronensternen anhand der von ihnen ausgesandten Gravitationswellen zu messen. Damit hatten wir ein Rätsel gelöst, das die Astronomen seit mehr als 60 Jahren umtrieb.
SK: Leben war also erst möglich, als sich die Verhältnisse beruhigten. Wann ist das passiert?
AF: Das hängt von den lokalen Gegebenheiten ab. Während das Universum sich ausdehnte, zog sich die bis dahin verteilte Materie durch ihre Schwerkraft zu den ersten Galaxien zusammen. Und dann fraßen die größeren Galaxien die kleineren. Mit der Materie im Weltall verhält es sich ja wie mit dem Geld, das dorthin geht, wo schon Geld ist. Die anderen müssen schauen, wo sie bleiben. Wenn Galaxien kollidieren, werden riesige Mengen Gas freigesetzt, aus denen in kurzer Zeit viele neue Sterne entstehen. Das geschieht vielerorts im Universum noch immer.
SK: Bei uns in der Milchstraße …
AF: … ist seit mindestens acht Milliarden Jahren nicht mehr viel passiert. Anderswo im Weltall kollidieren noch immer Galaxien.
SK: Alte Sterne erzählen also nicht nur von der Entstehung der Elemente, sondern auch die Geschichte ihrer Galaxie.
AF: So ist es. Besonders interessant sind Zwerggalaxien. Das sind kleine Ansammlungen von ein paar Tausend Sternen, die aber anders als Kugelsternhaufen in einen eigenen sogenannten Halo aus dunkler Materie eingebettet sind.
SK: Die dunkle Materie ist so etwas wie ein kosmischer Kitt, der durch seine Gravitation Sterne zusammenhält. Niemand weiß, woraus sie besteht.
AF: Und jede Zwerggalaxie hat ihren eigenen Kitt, wenn Sie so wollen. In der Milchstraße und ihrer Umgebung kennen wir an die 50 Zwerggalaxien. Man findet sie schwer, weil sie lichtschwach sind. Diese Zwerggalaxien bestehen aus sehr metallarmen Sternen, sind also entweder sehr alt oder sehr primitiv. Wahrscheinlich handelt es sich um Systeme aus der Frühzeit des Universums, die überlebt haben, weil sie das Glück hatten, dass die viel größere Milchstraße sie noch nicht zerrissen hat.
SK: Sie vermuten, dass diese Zwerge auf einer frühen Stufe ihrer Entwicklung stehen geblieben sind? Dann könnte man an ihnen den Anfang der Galaxienbildung studieren.
AF: Genau. Vermutlich hatten diese Systeme einfach zu wenig Masse, um Gas anzuziehen oder andere Galaxien zu verschlucken. Also wurden sie selbst von der Milchstraße eingefangen und hängen nun bis auf Weiteres in sicherer Distanz von ihr, wie ein Hund an der Leine. Wir haben gerade eine Arbeit darüber veröffentlicht, was geschieht, wenn zwei Zwerggalaxien verschmelzen: Dann zündet ein Feuerwerk neuer Sterne. Umgekehrt heißt das: Wenn eine Zwerggalaxie nur alte, metallarme Sterne enthält, muss sie sehr ursprünglich sein.
SK: Könnte die ganze Milchstraße einmal wie eine der heutigen Zwerggalaxien ausgesehen, sich aber anders als diese weiterentwickelt haben, weil sie von Anfang an mehr Masse hatte? Oder bildete sich die Milchstraße aus der Kombination vieler Zwerggalaxien?
AF: Beides geschah. Das Universum ist hierarchisch aufgebaut. Gravitation bewirkt, dass große Systeme noch größer werden. Die Milchstraße startete als Zwerggalaxie.
SK: Vielleicht sollten wir froh sein, dass im Universum so viel Zerstörung geschieht. Ohne die ständigen Kollisionen und Explosionen hätten sich niemals Strukturen gebildet, gäbe es kein Leben.
AF: Richtig, aber ich würde es noch etwas anders formulieren. Wir leben in einer außergewöhnlichen Phase. Vor einigen Milliarden Jahren war das All noch nicht weit genug entwickelt, um unsere Existenz zu erlauben. Damals war der Kosmos noch nicht besonders spannend, mit all den Zusammenstößen und instabilen Galaxien aber auch turbulenter. Heute sind die Verhältnisse wenigstens in unserer Umgebung stabil, und die Expansion des Raumes, die sich ständig beschleunigt, noch immer gemäßigt. Irgendwann wird der Weltraum überall so weit ausgedehnt sein, dass wir überhaupt keine einzige Galaxie mehr am Himmel sehen – das wäre für Astronomen eher tragisch. Außer dem Andromedanebel natürlich. Der ist uns so nah, dass seine Gravitation ihn ewig an die Milchstraße bindet.
SK: Bis die große Leere eintritt, ist die Sonne verglüht.
AF: Oder die Andromedagalaxie in die Milchstraße gestürzt ... Auch mit dieser Katastrophe ist innerhalb der nächsten 4 bis 6 Milliarden Jahre zu rechnen.
SK: Beunruhigt Sie der Gedanke an die kosmische Vergänglichkeit?
AF: Es dauert ja noch ein Weilchen. Aber ja, der Kreislauf von Zerstörung und Neuschöpfung wird an ein Ende gelangen. Wenn sich das Weltall weit genug ausgedehnt hat, können sich keine Strukturen mehr bilden. Traurig finde ich es schon, dass alles irgendwann aus ist.
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Fotos: © Maurice Weiss