Ausgabe 18 / Juni 2023
Brief aus Berlin
Vom Entwickeln eines Gedankens
September 2022
Ich habe mich nach Berlin aufgemacht, um Knoten zu knüpfen und zu lösen. Gewappnet war ich mit unterschiedlich langen und verschiedenfarbigen Schnüren als Teil meines Projekts zu „Shared Skills“, in dem es um eine unserer ältesten Kulturtechniken gehen sollte – nämlich um die Fähigkeit, aus tierischen oder pflanzlichen Fasern, einem Halm, Haar, Ast oder irgendeinem biegsamen Material eine Schlinge und weitergehend einen Knoten zu formen. Denn Knoten begegnen uns durch alle Zeiten und überall auf der Welt, d. i. überall dort, wo es etwas zu verknüpfen oder zu lösen gibt. Knoten markieren Verbindungs- und Gelenkstellen, und so können sie neben ihrer praktischen Anwendung in der Jagd, im Handwerk, im Transport- oder Ingenieurwesen auch eine magische, religiöse, medizinische, mathematische oder ästhetische Bedeutung erhalten. Neuerdings sind sie vor allem in der Topologie von Interesse, denn Knoten sind räumliche Gebilde und lehren uns die Eigenschaften mathematischer Strukturen.
Sicherlich stellt man sich den Knoten in erster Linie als ein ertastbares und hartes Ding vor – ähnlich einem Knopf oder Knubbel –, aber das Knoten ist ein fluider Prozess. So interessiert mich unter anderem, wie aus einer einfachen Linie, wie wir sie beispielsweise mit dem Stift auf einem Blatt Papier ziehen, im Richtungswechsel des Griffels vor und zurück und weiterhin auch im Wenden und Drehen des Handgelenks ein Gebilde entstehen kann, das uns plastisch vor Augen steht und dabei buchstäblich begreifbar wird.
Früher habe ich selbst viel gezeichnet, zunächst in kleinen Notizbüchern, die ich in der Tasche bei mir trug, und dann vor allem, als mir mein Bruder einen dicken Stapel großformatigen Zeichenpapiers schenkte, den ich auf den Boden legte. Plötzlich war das Zeichnen nicht mehr nur ein feines Stricheln und Kritzeln oder ein Drehen und Wenden des Handgelenks auf engem Raum, sondern ein kraftraubender Akt, bei dem man sich mit dem ganzen Körper bewegte und aus dem Ellenbogen und Schultergelenk heraus an den Formen und Schraffuren, den Linien und Schwüngen arbeitete. Zuweilen wurde ich während dieser Arbeit sehr wütend, manchmal sogar gerade mit dem Ziel, mich völlig zu verausgaben. An anderen Tagen waren die Striche zaghaft und zart. Manchmal glichen sich die Schwünge und Bögen an den Rhythmus meiner Schrift an, dann aber gerieten sie wieder ganz außer Rand und Band und irrlichterten auf dem Papier umher; sie machten dann auch nicht vor dessen physischem Ende Halt und liefen erst auf dem Fußboden langsam ins Leere, einfach, weil mir die Kraft ausging. In solchen Momenten ist es schwer, zum kleinen Format und engen Raum – dem Blatt Papier bzw. dem Laptop auf dem Tisch, davor ein Stuhl – zurückzukehren. Man wird sich dessen bewusst, in welcher frühen Phase wir bereits dazu erzogen wurden, unsere Hände zu bändigen und unsere Kommunikationsformen zu miniaturisieren.
In meinem Zimmer in der Villa Walther liegt nun neben den bunten Schnüren ein großer Zeichenblock. Ich habe lange nicht mehr gezeichnet. Meine Hand ist steif.
Oktober 2022
In der Forschung wird angenommen, dass die Fähigkeit, Knoten zu bilden, bereits in einer historischen Tiefenzeit vor mehr als 500.000 Jahren ausgebildet war. Aufgrund des organischen Materials, das verwendet wurde und dem Verfall ausgesetzt war, gibt es jedoch keine physischen Relikte, die älter als 10.000 Jahre alt sind. Wäre die Sachlage eine andere und würden wir nicht lediglich über implizite Schlussfolgerungen auf die Verwendung von Knotenbildungen schließen, wäre unsere Geschichtsschreibung wahrscheinlich eine andere. Die Verwendung organischer Materialien, die nicht überdauert haben, hat unser Bild auf die frühe Ausprägung der Menschheit stark beeinflusst. So wären wir nämlich vor allem webende und flechtende Wesen und würden, was das Alltagsleben betrifft, vielleicht gar nicht so sehr von einer Steinzeit sprechen, sondern von einer Zeit der Korbflechterei. Ich weiß nicht, was das für die Herausbildung einer Hierarchisierung der Geschlechter bedeutet hätte. Aber es meint weiterhin auch, dass Knoten das beste Beispiel für die fehlende Verschriftlichung des Handwerks und der dazugehörigen Skills sind und dass dieses Fehlen unsere Wahrnehmung von Geschichte verändert hat. Material und Technik tradieren sich anders als Form. Ähnlich wie es erst spät Tanztraktate gibt, weil der Tanz nur über Lehrmeister, nicht aber über Anweisungen eingeübt wird, widersetzen sich handwerkliche Praktiken oft genug einer zeitgleichen oder nachträglichen Diskursivierung. Nur ein geringer Bruchteil unseres Wissens über Knoten, Web- und Netzwerktechniken ist je niedergeschrieben worden.
Archäologische Befunde geben uns zumindest folgende Informationen: Die ersten einfachen Knoten, die auf uns gekommen sind, waren der Halbe Schlag sowie seine Rückwärtsvariante, weiterhin der Doppelte Halbe Schlag, der Zimmermannsschlag , der Überhandknoten sowie der Ankerstich. Auf einer systematischen Ebene versteht man darunter Operationen, bei denen man mit einer einzigen Drehung und nicht mehr als zwei Biegungen eines Seils mehr oder weniger zufällig eine Reihe von wirksamen Bindeknoten und Schlingen erhält, die stabil bleiben, wenn man das Objekt entfernt. Ich nehme also meine Bänder zur Hand und übe diese Knotenformen, wissend, dass sie zu den frühesten Kulturtechniken gehören, die wir kennen. Es fällt leicht, sie einzuüben, da sie bis heute ständig im Gebrauch sind. Wir verwenden sie, um Päckchen zu schnüren, Schnürsenkel zu binden oder auch nur, um eine Hundeleine an einem Pfosten zu befestigen. Im Ashley Book of Knots wurden bereits 3.900 verschiedene Knotenarten verzeichnet, und ein jeder dieser Namen bedeutet eine andere Operation, eine andere Art des Handschlags und eine veränderte Topologie. Die Liste, die sich auftut, wird systematisch gegliedert und klingt auf mich wie ein Mantra – so gibt es Knopfknoten und Kleeblattknoten, Schmetterlingsknoten, Diamantknoten, Herkules , d. h. Liebesknoten, Diebesknoten, Türkische Bünde und Affenfäuste ... Ich notiere mir an dieser Stelle die Frage, inwiefern es bislang eine Theorie der Knoten gibt, die sie ebenso als materielle Objekte wie als dynamische Formbildungsprozesse versteht. Erst seit dem späten 18. Jahrhundert gibt es überhaupt Versuche, die Vielfalt unserer Vernetzungskünste zu katalogisieren. Ungefähr zur selben Zeit, mit A. T. Vandermonde und natürlich mit Carl Friedrich Gauss, wird der Knoten zum Gegenstand mathematischer Untersuchungen. Dabei gelten ein Herkulesknoten und ein Ankerstich topologisch als äquivalent – sie weisen dieselbe Verschlingungszahl auf und lassen sich durch Deformieren in den jeweils anderen Knoten umformen. In der Welt des Handwerks jedoch meinen sie zwei gänzlich unterschiedliche Operationen.
Noch immer liegt der Zeichenblock vor mir.
November 2022
Bei einem Mittagessen kommt die Frage auf, ob auch die Quipus (span.) oder Khipus (Quechua: „Knoten“) des Inkareichs in meinem Projekt eine Rolle spielen werden? André hatte sie gestellt, nicht ahnend, dass er damit einen ersten wichtigen Berliner Anlaufpunkt benannt hat, denn im Ethnologischen Museum befindet sich die weltweit größte Sammlung von Khipus, die sich vom 7. bis zum 17. Jahrhundert erhalten haben. Die heutige Präsentationsform kann uns den eigentlichen Gebrauch dieser Knotenstränge allerdings nicht adäquat vermitteln. Ittai, der damals am selben Tisch saß, brachte es in einer Nebenbemerkung auf den Punkt, indem er feststellte, dass sie in den Vitrinen allesamt ganz seltsam unmotiviert aussähen, nämlich wie Perücken. Stattdessen aber wurden sie einmal hängend, baumelnd, vielleicht auch in einem Knäuel zusammengedrückt in der Hand gehalten, um dann mit auseinandergespreizten Armen hochgehalten zu werden, sodass die Knoten der frei herabhängenden Nebenschnüre gesehen und betastet werden konnten. Ein Khipu diente dazu, die Anzahl von Einwohnern, Tieren, Gütern und Ländereien einer bestimmten Region zu registrieren, aber auch zur Beförderung von Nachrichten und Briefwechseln. Der Knoten saß damit an der Schnittstelle zwischen Schrift und Zahl, denn mit seiner Hilfe konnten ebenso mehrstellige Zahlen im Dezimalsystem wie auch bis zu 95 verschiedene Silben dargestellt werden. Vor allem aber diente er als Gedächtnisstütze bei der Buchhaltung und Statistik, also als ein administratives Werkzeug. Jeder Knoten meinte das Vorhandensein eines Dings oder einer Sache, und dabei war es wichtig zu verstehen, welche Art von Knoten in den Strang geknüpft wurde. Dadurch wird deutlich, wie sehr die Händigkeit unserer knüpfenden Bewegung ebenso wie deren Rhythmik oder die Topologie der sich kreuzenden und ineinander verschlingenden Stränge darüber bestimmen, welche Form daraus entsteht und wie sie im Weiteren codiert wird.
Ich bestelle mir zahlreiche Bücher und lese mich ein: So stand im Inkareich ein Achtknoten für die Ziffer 1 der Einerstelle, während ein mehrfacher Überhandknoten mit unterschiedlichen Törns für die Ziffer der Einerstelle eingesetzt wurde usw. Es bedeutet, dass jede Manipulation von Materie aus einer händischen Bewegung heraus zu einer symbolischen Handlung und weiterhin zu einem Zeichensystem mutieren kann.
Januar 2023
Mein Interesse am Knoten hat sich herumgesprochen. Es melden sich Stimmen aus der Evolutionsbiologie und Verhaltensforschung, denn bereits im Naturreich gibt es erstaunliche Beispiele für die Kunst des Knüpfens und Verschlingens, wie man am Nestbau der Webervögel eindrucksvoll sehen kann. Darauf hatte mich zunächst Jana angesprochen, weil sie sich für die Sprachfähigkeit von Vögeln und deshalb auch für den Gebrauch von Werkzeugen und bestimmter Techniken im Tierreich interessiert. Handelt es sich beim Knoten also überhaupt um eine Kulturtechnik? Abends sitze ich nun, Verknüpfungstechniken übend, mit meinen bunten Schnürsenkeln vor jenen Videos, in denen Vögel unglaublich komplexe Wohnheime formen. Sie führen die Halme mit ihren Schnäbeln, als würden sie einen Faden mit einer Nähnadel durch ein Gewebe stechen und ziehen. Es scheint, als liege der Erfolg ihrer Bauten in einer einzigen formalen Operation, die sich in der Wiederholung erprobt und in den Evolutionsplan eingeschlichen hat. Auch andere Vogelarten verfügen über erstaunliche Webtechniken. Der Distelfink beispielsweise bedient sich der Spinnweben von Gespinstmotten, um sein Nest, das aus vielen feinen Materialien besteht, auf diese Weise elastisch zu verflechten und zu verkleben. Dabei zieht er einzelne Fäden aus dem Gespinst heraus, spult diese im Schnabel zu einem Kügelchen auf und fliegt damit zum Nest zurück.
Im Grunde argumentieren evolutionsbiologische und anthropologische Modelle auf dieselbe Weise. Eine lokale Wiederholung bei Erfolg führe zu einem festen Repertoire an Formbildungen in einzelnen Gruppen, und es sei bei Weitem nicht sicher, welche Techniken zwischen den verschiedenen Populationen weitergegeben wurden und welche sich jeweils unabhängig voneinander entwickelt haben. Basisknoten wie der Halbe Schlag oder der Überhandknoten seien wohl immer wieder entdeckt und aufgrund ihrer mechanischen Eigenschaften dafür verwendet worden, etwas zu befestigen, zu verschließen oder zu stoppen.
Ich frage in der Bibliothek an, und Stefan legt mir einige mit Einmerkzetteln versehene Wörterbücher ins Fach: So verweist der Knoten etymologisch auf etwas, das „geballt und zusammengedrückt“ ist, auch klein und verdickt. Mir gefällt die Verwandtschaft zwischen Worten wie „Knoten“, „Knopf“, „Knospe“, „Knolle“, „Knute“, „Knebel“, „Knauf“, „Knirps“ und auch dem „Knie“ außerordentlich; ich erstelle mir eine Liste und spreche die Worte laut aus. Dabei lerne ich, dass kleine Dinge – und damit meine ich Dinge, die feist, kurz und dick sind – mit der Lautgruppe kn- gekennzeichnet wurden: „Knäuel“, „Knochen“, „Knorpel“, „Knöchel“, „Knüppel“, „Knödel“ ... Diese Lautgruppe indiziert eine materielle Anwesenheit auf engem Raum, und zugleich verweist sie auf eine Ecke, Rundung und vor allem Gelenkstelle, an der Richtungen geändert und neue Positionen eingenommen werden können. Aufschlussreich ist auch der in der englischen Sprache eintretende Gleichklang von „knot“ und „not“, d. h. das unabdingbare Zusammenspiel zwischen Präsenz und Absenz einer Sache. So kann sich ein Handlungsstrang sowohl materiell verwickeln und verdicken als auch in ein Nichts auflösen.
Euklid hatte von einem Punkt gesprochen, der in seiner Bewegung zur Linie, zur Fläche, zum Raum wird vice versa, aber in solchen geometrischen Modellen dominiert die gerade Linie und später dann das dreidimensionale Koordinatensystem. Mich interessieren stattdessen aber Vorgänge, in denen sich die Linie in ihrer Bewegung in Spiralen und Strudeln dreht, verwirbelt, windet und verirrt, sich dabei selbst kreuzt und berührt und zum kaum entwirrbaren Knäuel massiert.
Februar 2023
Zwischenzeitlich ereilt mich ein knotentheoretisches Desaster ganz anderer Art. Die über viele Jahre rasant gewachsene und in ihrer Komplexität instabil gewordene Struktur meiner Festplatte steht vor einem Kollaps. Angesichts der langen Dateienpfade und des weitverzweigten Datenbaums bedeutet das, dass diese dringend entwirrt und eingekürzt werden müssen. In diesen Stunden erhalte ich von Wiebke, der Leiterin der IT-Abteilung, den Hinweis auf einen Podcast zum Berliner Künstler Jens Risch, der sein ganzes Leben dem Knoten gewidmet hat. „Nulla dies sine nodus“, könnte man in Abwandlung der berühmten Sentenz des antiken Malers Apelles sagen, der keinen Tag verbringen wollte, ohne mit seinem Pinsel eine Linie zu ziehen, und der dann auch für die Fingerfertigkeit und Feinheit seiner Linienführung durch eine unermüdliche Praxis berühmt wurde. Jens Risch nun verbringt keinen Tag ohne mehrere Stunden des Krümmens jener Linie (bzw. Fadens) in einen Knoten. Ihn muss ich unbedingt treffen.
März 2023
Heute textet mich schon frühmorgens Ittai an: Er ist gerade in Italien unterwegs und schickt mir eine Fotografie der geknoteten Säulen der San-Vigilio-Kathedrale (1212–1321) in Trient. Dieser Säulentyp wurde vor allem in der byzantinischen und romanischen Kunst verwendet, wo er sich dann in einem weitgefassten geografischen Gebiet zwischen Norditalien, Bayern und Burgund ausbreitete und besonders mit dem Zisterzienserorden in Verbindung gebracht wurde. Als Symbol der doppelten Natur des menschlichen und göttlichen Körpers von Christus bzw. der Doppelnatur zwischen Gottvater und dem Sohn, wie sie durch den Heiligen Geist vereinigt erscheint, erweist sich der Herkulesknoten als einprägsames Zeichen für die Zusammenführung irdischer und göttlicher Kräfte. Plinius d. Ä. zufolge verfügte ein solcher Knoten genau aufgrund seiner vereinigenden Eigenschaften über heilende Kräfte und vermochte es, so duale Prinzipien wie männlich/weiblich ineinander zu verschränken. Wunden würden schneller heilen, wenn der Verband mit einem solchen Knoten gebunden werde, und im antiken Rom war es Brauch, das Hochzeitsgewand der Braut mit einem Herkulesknoten zu gürten. Ihn schweigend und ohne Hilfe zu lösen war Teil des Hochzeitsrituals.
Nota bene: Den Herkulesknoten zu zeichnen ist eine ganz andere Erfahrung, als ihn zu knüpfen. Man sieht ihm einfach nicht an, wie er gemacht wird.
April 2023
Wir haben einen Termin für einen Atelierbesuch bekommen. Jens Risch arbeitet ausschließlich mit Überhandknoten, d. h. mit dem einfachsten Knoten, den es gibt. Er wird gebunden, indem das Ende eines Fadens rund um seinen eigenen stehenden Part gewunden wird. Sein Seidenfaden ist 1000 Meter lang. Seit vierzehn Jahren reiht Risch täglich Knoten an Knoten, indem er sein Handgelenk dreht, eine Schlaufe schlägt und den Faden durch die Öffnung führt. Dann folgt das Zusammenziehen des losen Knotens mit den Fingerspitzen, sodass ein kleiner, harter Knopf entsteht. Weiter und weiter so, in buchstäblicher ständiger Wieder-Holung, wird der Faden gebogen und gezogen, mit einer Bewegung der Hand, die erst ausgreift, dann kehrtmacht und sich verschraubt, bevor sie anhält und in gegensätzlicher Richtung den Knoten verdichtet und stoppt. Im Raum ist es sehr still. Man muss genau hinsehen, weil der Faden so fein ist. Selbst der Knoten ist kaum zu erkennen, und doch kann man verfolgen, wie eine Linie durch einen Twist und Turn zu einem räumlichen Ding wird. Ich sehe einmal das Knoten, einmal den Knoten.
Zur Entlastung wechselt Risch nach einer Stunde seine Hand und knüpft mit links, wobei der Knoten seine rechte Händigkeit behält und weiterhin im Uhrzeigersinn verläuft. Pro Stunde entstehen ca. 360 einfache Knoten; 20 Knoten ergeben einen Zentimeter; ein Stundenstück misst also etwa 18 Zentimeter. Täglich knüpft er 2–4 Stunden. Nach ca. 1.294 Stunden, d. i. nach gemittelt 370 Tagen, hat sich der Faden auf 233 Meter zusammengezogen. Nun beginnt die nächste Knotengeneration, wie Risch es nennt, und auch dieser Strang wird mit Überhandknoten stetig verkürzt. Darauf folgt die nächste Reihe und im Anschluss erneut die nächste, vergleichbar einer Potenzierung der Struktur, einer wiederholten Multiplikation eines Knotens mit sich selbst: das Knoten eines Knotens eines Knotens … Die Länge des Faden schrumpft von 233 auf 58 auf 12,30 auf 3,35 auf 0,85 Meter – und final auf ca. 9 Zentimeter … Gegen Ende beschleunigt sich der Vorgang, denn die Zeitabschnitte zwischen den Generationen werden kürzer. Umgekehrt vergrößert sich die Oberfläche, und aus dem dünnen Faden ist ein komplexer Körper geworden, der uns an Schwämme oder Korallen erinnert oder an ein Gehirn.
Auch Proteine verknoten sich miteinander, obwohl dies aus evolutionärer Sicht unwahrscheinlich erscheint. Verknotete Proteine haben größere kinetische Schwierigkeiten als nicht verknotete, da es länger dauert, bis sie sich in ihre fertige Struktur gefaltet und geknotet haben. Lange Zeit hielt man sie für phylogenetische Überbleibsel, aber aktuelle Studien geben Hinweise darauf, dass Knoten die Proteine stabilisieren, indem sie sie miteinander vertäuen.
Noch immer liegt der Zeichenblock vor mir.
Ich bin bereit, mein Buch über Knoten zu schreiben.
Der Berliner Künstler Jens Risch hat auf unsere Neugier auf seine Knoten-Arbeiten mit einer sofortigen Einladung in seine Wohnung reagiert. Die Porträts in diesem Text sind während ausgiebiger Gespräche dort entstanden. Wir danken ihm ganz herzlich für seine Gastfreundschaft!
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Fotos: © Maurice Weiss