Ausgabe 19 / Mai 2024
Brief aus Berlin
Geisterkunden – Notizen einer Friseurin nach einem Vortrag am Wissenschaftskolleg
Nach mehreren Monaten Feldforschung in Friseursalons und Barber Shops in einer deutschen Stadt hat neulich die Autorin, zugleich Soziologin und Friseurin, einige Thesen aus ihrem gerade veröffentlichten Buch (Abenteuer einer linkshändigen Friseurin, edition überland, 2024) im Rahmen ihres Kolloquiums am Wissenschaftskolleg zu Berlin vorgetragen. Es ging unter anderem um die besondere Geselligkeit und die überschwängliche Sprache in Friseursalons. Ein Mann mit Glatze aus dem Publikum stellte eine Frage, die sie in Verlegenheit brachte. Die Frage weist auf einen blinden Fleck ihrer Untersuchung hin: die Geisterkunden. Der vorliegende Text ist zugleich Gruß und Dank an diesen Mann.
„Barbara, wozu sollte ich dein Buch lesen? Ich habe doch eine Glatze!“, fragte mich ernsthaft ein Philosoph nach meinem Vortrag.
Natürlich muss mein Co-Fellow das Buch nicht lesen, aber er stellt tatsächlich eine wichtige Frage. Mit dem Glanz seiner Glatze wirft er sozusagen Licht auf einen blinden Fleck der Friseurwelt und meiner Untersuchung in Friseursalons und Barber Shops – nämlich die Geisterkunden. Was ist mit denen, die sich die Haare nicht schneiden lassen müssen, wollen oder können? Wir haben es hier nach Susie Scotts Aufsatz „A Sociology of Nothing: Understanding the Unmarked“ (2018) mit einem Gegenstand der „Soziologie des Nichts“ zu tun. Diese macht sich zum Ziel, das Ungesehene ins Licht zu rücken, sie erkennt in einer Unterlassung die Konturen einer Handlung. Obwohl er kein Kunde ist, gehört jener Fellow zu einer unsichtbaren Gesellschaft, deren Gestalt ich zumindest skizzieren möchte.
Die Geisterkunden sind in Friseursalons oder Barber Shops nicht anzutreffen. Etwas fehlt ihnen: Haare, Geld, Lust oder Verfassung. Wenn sie dennoch dort auftauchen, dann höchst selten und widerwillig. Wenn ich etwas über sie erfahren habe, liegt das daran, dass mein bloßes Dasein als Friseurin Erinnerungen hervorruft, wie etwa bei Michael. Er besuchte auch meinen bereits erwähnten Vortrag und fühlte sich wohl anschließend genötigt, einen langen Blogeintrag zu verfassen. Seine „haircut memories“ geben Auskunft über sein Unbehagen im Friseursalon. Vor allem verabscheut er die demonstrative Geselligkeit des Salons mit dem typischen Smalltalk unter Fremden und die Themen, die er als läppische Belanglosigkeiten verschmäht: „Ich kann es nicht leiden, auf engem Raum mit jemandem zu sein, den ich nicht kenne, und das unangenehme Schweigen mit Geschwätz und Plappern ausfüllen zu müssen.“ Als Naturwissenschaftler bevorzugt er konkrete Inhalte und sachliche Zweckbestimmungen.
Andere Geisterkunden drücken ihren Unmut in der Sprache der Neurodiversität aus. Sie heben die Nähe, die Körperberührungen, das sinnliche Aufeinandertreffen mit Fremden, aber vor allem die Stimuli hervor: das Rauschen der Haartrockner, das Piepsen der Handys, die Popmusik aus den Lautsprechern, die aus allen Richtungen kommenden Stimmen; das Parfüm der Haarpflegeprodukte, den penetranten Geruch der Dauerwellenchemikalien, das grelle Neonlicht.
Und an welchen Indizien erkenne ich die behaarten Menschen, die mich bald ghosten werden? Daran, dass sie mit gewaschenen Haaren kommen und mit nassen Haaren weggehen. Daran, dass sie mit dem Reden gleich loslegen, viel erzählen, aber die zurechtgelegten Themen schnell ausgeschöpft haben.
Noch ein Beispiel eines zukünftigen Geisterkunden: Dieter. Er ließ sich die Haare schneiden, weil er mein Projekt unterstützen wollte. Das war nett. Ich fühlte mich ein bisschen schlecht dabei, andererseits brauchte er dringend einen Haarschnitt. Ich band ihm den Umhang um und machte mich ans Werk. Schnell merkte ich, dass er unruhig wurde. Er zappelte leicht auf dem Frisierstuhl. Ich erhöhte das Tempo. Er wurde nicht weniger ungeduldig. Obwohl er als Rentner eigentlich genug Zeit haben müsste, behagte ihm das lange Stillsitzen gar nicht. Sichtbar genervt hob er eine Hand, als wollte er eine unsichtbare Fliege verjagen. Die Fliege war meine Hand. Das war wohl sein letzter Besuch.
Der Vortrag, bei dem der Philosoph mit Glatze seine Frage formulierte, fand an einem Ort statt, wo man sich vermeintlich nur wenig Sorgen um seine äußere Erscheinung macht: an einem Forschungsinstitut. Sicherlich gibt es auch sie: die elegante Politikwissenschaftlerin aus Österreich, den Bildarchäologen mit der schönen Handbewegung, die gut gekleidete Frau von der Presseabteilung, den akkuraten Juristen. Sie sind aber zwischen den entmaterialisierten Wesen eher unterrepräsentiert. Gleichgültigkeit – ob tatsächliche oder eher demonstrative – gegenüber dem eigenen Aussehen, kombiniert mit einer gewissen Abneigung gegenüber Friseurinnen und Friseuren, führt wohl dazu, dass in einigen Fällen das Haareschneiden weitgehend vermieden, wenn nicht gar ganz unterlassen wird. Die Soziologie des Nichts erinnert uns an solche Geisterkunden, lässt uns vermuten, dass es viele davon gibt. Sie gibt ihnen, ohne dass sie es ahnen, eine Plattform und lenkt die Aufmerksamkeit auf ihre Handlungsweise und ihre – negative – Beziehung zum Salon. Und das ist nicht nichts.
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Fotos: © Maurice Weiss